Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 08.08.2010

Predigt zu Römer 9:1-8.14-16 , verfasst von Klaus Pantle

9 1 Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im Heiligen Geist, 2 dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe. 3 Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch, 4 die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, 5 denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen.

6 Aber ich sage damit nicht, dass Gottes Wort hinfällig geworden sei. Denn nicht alle sind Israeliten, die von Israel stammen; 7 auch nicht alle, die Abrahams Nachkommen sind, sind darum seine Kinder. Sondern nur „was von Isaak stammt, soll dein Geschlecht genannt werden" (1.Mose 21,12), 8 das heißt: nicht das sind Gottes Kinder, die nach dem Fleisch Kinder sind; sondern nur die Kinder der Verheißung werden als seine Nachkommenschaft anerkannt.

14 Was sollen wir nun hierzu sagen? Ist denn Gott ungerecht? Das sei ferne! 15 Denn er spricht zu Mose (2.Mose 33,19): „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich." 16 So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.

1

Liebe Gemeinde,

„Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung" schreibt Franz Rosenzweig. Im Blick auf die Texte unserer Tradition, die sich mit dem Verhältnis von Christen und Juden befassen wie Paulus es im Predigttext tut, da bedeutet das ein Doppeltes. Es ist wichtig, dass wir uns an beides erinnern: an die positive wie auch an die fatale Wirkungsgeschichte solcher Texte.

Die Stadt Alexandria war in der Antike ein einzigartiges kulturpolitisches Laboratorium. Griechen, Juden und Ägypter lebten nebeneinander und miteinander. Hier übersetzte man die Hebräische Bibel ins Griechische, betrieb philosophischen Diskurs und naturwissenschaftliche Forschung, sammelte Bücher aus unterschiedlichen Traditionen zu allen möglichen Themen und legte die sagenumwobene Bibliothek von Alexandria als Wissensspeicher an. Der Ruhm der Stadt als Kulturmetropole sollte mit einer hochgebildeten Frau, mit der Philosophin und Mathematikerin Hypatia, einen letzten Höhepunkt finden. Dass sie im März 415 von christlichen Mönchen, die der berühmte Patriarch Kyrill aufgehetzt hatte, ermordet wurde, setzte einen grausigen Schlusspunkt unter Alexandrias Geschichte als Stätte des Geistes. Die Christen, die zunehmend die Macht an sich gerissen hatten, bekämpften die aus ihrer Sicht Ungläubigen. Zuerst attackierten sie die Juden, dann die sogenannten Heiden. Die schlimmsten Hetzer waren christliche Geistliche, die sich bei ihren Hasspredigten paulinischer Texte über Juden und Frauen bedienten. Andersgläubige wurden zwangsbekehrt, vertrieben oder umgebracht, nach dem Motto: „Wer nicht glaubt, muss dran glauben" (Otfried Fischer). Die weltberühmte Bibliothek, die sie für einen Hort des Aberglaubens hielten, wurde vernichtet.

Das war kein Einzelfall in der Geschichte des Christentums. Vor gerade einmal fünfzehn Jahren geschah etwas Ähnliches mitten in Europa. Römisch-katholische und orthodoxe Christen bekriegten sich, zwischendurch paktierten sie miteinander und vertrieben und töteten Muslime. Im Jahre 1996, nach vier Jahren Belagerung, lag die multiethnische Stadt Sarajevo, in der muslimische Bosniaken, orthodoxe Serben, katholische Kroaten und areligiöse „Jugoslawen" lebten, in Trümmern. 11000 Einwohner aus allen Volksgruppen waren ums Leben gekommen. Bereits zu Beginn der Belagerung, in der Nacht vom 24. auf den 25. August 1992, schossen serbische Belagerer gezielt die berühmte, 1000 Jahre alte Vijećnica-Bibliothek in Brand. In dieser Bibliothek wurden über 2 Millionen Schriftstücke aufbewahrt. Es waren Dokumente aus der bosnischen, kroatischen und serbischen Geschichte, Zeugnisse ihrer Kulturen und Religionen. Dazu gehörte auch das Erbe der seit 500 Jahren dort ansässigen jüdischen Gemeinde. 90 Prozent des Bibliotheksbestandes gelten heute als vernichtet. Die christlichen Seiten agierten ausdrücklich nach dem Motto: „Wer nicht (richtig) glaubt, muss dran glauben." Zu den schlimmsten Kriegshetzern gehörten franziskanische Mönche und orthodoxe Geistliche, die explizit einen Religionskrieg propagierten und ihn theologisch legitimierten.

In Alexandria wie in Sarajevo waren Vielfalt, friedlicher Disput, ehrliches Ringen um Wahrheiten und Gemeinsamkeiten, Kompromisse, Koexistenz unterschiedlicher Ethnien und Glaubenstraditionen zu Unwerten geworden. Die Bibliotheken als gestaltgewordene Symbole der Vielfalt, die Speicher unterschiedlicher Lebens- und Glaubenserfahrungen, waren zum Ärgernis geworden, die man vernichtete und verbrannte.

2

Liebe Gemeinde, ich nehme an, Paulus hätte all das nicht gewollt. Aber seine Rede von den Erwählten und den Verworfenen, seine apodiktische Einteilung der Menschen in Recht- und Falschgläubige, in Gerettete und Verlorene hat in den vergangenen zweitausend Jahren immer wieder fanatische Christen zu solch schauerlichen Aktionen gegen Andersgläubige motiviert. Auch wenn man klarstellen muss, dass sie Paulus nur selektiv und nicht genau gelesen haben.

Natürlich gibt es keine Identität ohne Abgrenzung. Der Zusammenhalt nach innen braucht die Unterscheidung nach außen. Christen und Juden und Muslime unterscheiden sich. Paulus stellt im 9. Kapitel des Römerbriefes eine Erwählungsreihe her, ausgehend von Isaak über Jakob zu Mose. Parallel dazu benennt er eine Verwerfungsreihe von Ismael über Esau zum Pharao. Das ärgerliche ist, dass Paulus die Kirche an die Erwählungsreihe anschließt und Israel in die Verwerfungsreihe stellt. Kann er nur so die Identität der Kirche abgrenzen? Und welche Auswirkungen hat das auf die ihm nachfolgenden Christen und deren Gottesbild? Im schlimmsten Falle verleitet es Menschen zu Aktivitäten wie in den eingangs genannten Beispielen.

Paulus hätte so etwas nicht gewollt. Er wäre ja, wie er schreibt, bereit gewesen, sogar sich selbst zu opfern dafür, dass seine israelitischen Glaubensbrüder zum aus seiner Sicht rechten Glauben gekommen wären. Wobei auch das eine problematische Aussage ist. War doch unserem christlichen Glauben nach Christus das letze not-wendende Opfer in der Geschichte. Mit seinem Kreuzestod wurden Menschenopfer zur Erlösung für wen oder was auch immer ein für allemal abgeschafft.

Das Positive an den Worten des Paulus ist etwas anderes: Letztendlich entscheidet Gott. Er allein hat den Überblick über seine heilsgeschichtlichen Pläne. Der Mensch blickt da nicht durch und alle menschlichen Versuche, darüber Endgültiges zu sagen sind schlichte Anmaßung. Zugehörigkeit zu „Israel" wird weder durch Geburt noch durch menschliches Handeln, sondern durch das freie Erwählungshandeln Gottes geschaffen, so Paulus. Deshalb können Glaubende sich niemals herausnehmen, Andersgläubige zu verdammen.

3

Liebe Gemeinde, die Vielheit der Glaubens- und Lebensentwürfe, die Verschiedenheit der Kulturen und Religionen in unserem Land sind Tatsachen. Denen müssen wir uns stellen. Entscheidend ist, wie wir das als Christen tun.

Der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan sagt, dass in Sarajevo die kulturelle Identität unverbrüchlich mit einer Art sozialem Unbehagen verbunden sei, weil das Lebensumfeld den Menschen dort ständig daran erinnert, dass die Welt voll von andersartigen Leuten ist, dass sein Glaube nur einer von vielen ist, dass er und alles Seine nur eine von unzähligen Möglichkeiten im Ozean der göttlichen Allmacht sind. Und er meint, dass es von seinem Charakter oder seinem Erleben der Welt abhängt, ob sich ein Mensch über die bunte Vielfalt um ihn herum freut oder ob er an ihr leidet, ob er die unterschiedlichen Leute um ihn herum als Möglichkeit und Verpflichtung, sich besser und tiefer zu erkennen auffasst oder als Gefahr, gegen die er sich wehren muss.

Für uns Christen kann ein Verhalten nach dem Motto: „Wer nicht (richtig) glaubt, der muss dran glauben" keine Lösung sein. In der Diskussion um die Gestaltung des Zusammenlebens  in unserem Land ist heute auch der moderater klingende Ruf nach der Integration von Migranten zweifelhaft geworden. Der Ruf nach Integration, so sagen Kritiker, sei vor allem eine Angstreaktion auf die Vielheit, nach dem Motto: „Wenn die Anderen so werden, wie wir denken, dass wir sind, dann kommt alles in Ordnung." Wirklich wichtig sei etwas ganz anderes. Auf das Dazwischen kommt es an: auf die aktive Gestaltung der Beziehungen zwischen den Menschen verschiedener Kulturen und Religionen. Um eine Beziehungskultur geht es, die die eigene Identität nicht verleugnet und dem anderen seine Identität nicht nimmt. Es ist an der Zeit, eine  „Interkultur" (Mark Terkessidis) zu entwickeln. Interkultur, das ist die Kultur im Zwischen. Und auf das Dazwischen kommt es an.

Dabei muss die Anerkennung der Vielheit nicht bedeuten, dass man seine eigene Religion relativiert. Ich kann sagen, was ich für mich für richtig halte und woran ich glaube. Ich kann dafür werben im positiven Sinne. Christliche „Mission heißt zeigen, was man liebt" (Fulbert Steffensky). Ich brauche das nicht im apodiktischen und ausschließenden Sinne tun.

Anerkennung der Vielheit muss auch keineswegs bedeuten, dass man jede Form von kultureller oder religiöser Äußerung gutheißen müsste. Wenn jemand die Kultur oder die Religion anruft, um andere Gruppen abzuwerten, oder wenn Personen um die vorgebliche Rettung ihrer Religion willen andere Menschen bedrohen oder verletzten, dann gibt es nicht den geringsten Grund für Toleranz.

Hilfreich bei der Entwicklung einer solchen Interkultur können nicht nur Begegnungen und der persönliche Austausch über die je eigenen Glaubens- und Lebensformen sein, das konkrete gegenseitige sich „zeigen, was man liebt". Eine wichtige Rolle für das Verständnis des Eigenen und des Fremden spielen Texte und Schriften, alte und neue Bücher, Geschichten, Filme und Musik - Medien, in denen Glaubens- und Lebenserfahrungen, religiöses Wissen und das Ringen um Wahrheit und ethische Entscheidungen gespeichert sind. Wer liest und schaut und hört kann sich in Andere hineindenken und einfühlen. Die Fähigkeit und die Bereitschaft dazu ist ein wesentlicher Schritt zur Entwicklung einer konstruktiven Interkultur zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen.

Auf das Dazwischen kommt es an. Wie das im positiven Sinne in dem verfahrenen Konflikt zwischen Juden und Palästinensern aussehen kann, das zeigt ein jüdisch-palästinensisches Schulbuchprojekt. Zu jedem historischen Datum, das eine Projektgruppe aus jüdischen und palästinensischen  Lehrern herausgesucht hat, stehen in diesem Buch zwei Texte: ein jüdisch-israelischer und ein palästinensischer. Aus zwei verschiedenen Perspektiven wird erklärt, was z.B. während der ersten Intifada passierte. Zwischen diesen beiden ganz verschiedenen Texten gibt es einen freien Raum, in den die Schüler ihren eigenen Text schreiben können. Durch das Nebeneinander beider Standpunkte bietet das Buch die Möglichkeit zu lernen, wie ein Konflikt ausgehalten werden kann. Der Schüler lernt durch dieses Schulbuch, dass sein eigenes Verständnis seiner Geschichte nicht die einzige Möglichkeit ist. Es gibt noch eine andere Erklärung und diese andere Erklärung ist auch legitim. Man muss sie nicht immer akzeptieren, aber man muss sie verstehen, warum diese unterschiedliche Sicht sich entwickelt hat. Man kann dabei begreifen, warum es so schwer zu akzeptieren ist, dass es zwischen beiden verschiedenen Erklärungen keine Brücke gibt. Es geht darum, diese Verschiedenheit in sich selbst auszuhalten und anzuerkennen, dass der Andere anders ist. Was die Schüler hier lernen und entwickeln ist Interkultur.

Liebe Gemeinde, durch alle Ernsthaftigkeit, in der Paulus um den rechten Glauben und die entsprechende Lebenspraxis ringt und dafür wirbt, scheint glücklicherweise auch eine gewisse Gelassenheit hindurch. Denn er weiß, dass all unsere Suche nach Wahrheit, dass aller Wettstreit der Religionen und Ideologien in dieser Welt nur vorläufig ist. Erlösung ist nicht machbar. Am Ende schenkt sie Gott, diesseits und jenseits aller unterschiedlichen religiösen Wahrheiten. Das ist für uns entlastend und kann uns nebeneinander und miteinander leben lassen. Gott sei Dank. Amen.



Pfarrer Klaus Pantle
Stuttgart
E-Mail: klaus.pantle@t-online.de

(zurück zum Seitenanfang)