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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

14. Sonntag nach Trinitatis, 05.09.2010

Predigt zu Johannes 5:1-15, verfasst von Rudolph Arendt

Was objektive Geschichtsschreibung heißt, ist langweilig. Sie ist auch unmöglich; denn was immer wir darstellen, verfolgen wir eine Absicht damit. Ein bekanntes Beispiel ist die Geschichtsschreibung Winston Churchills. Etwa wenn er in seinem sechsbändigen Werk über den Zweiten Weltkrieg schreibt, wo die Moral ist

            • Entschlossenheit im Krieg

            • Trotz in der Niederlage

            • Großmut im Sieg

            • guter Wille im Frieden.

Das ist keine objektive Geschichtsschreibung. Das Johannesevangelium ist ebenso wenig objektive Geschichtsschreibung. Es ist in bestimmter Absicht geschrieben, "damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen" (Joh. 20,31).

            Das Johannesevangelium ist wie die anderen Evangelien ex eventu geschrieben, d.h. von der Auferstehung her. Hätte man nicht an den Auferstandenen geglaubt, dann hätte der irdische Jesus keinerlei Bedeutung gehabt. Vielleicht hatte man in einer Höhle in einem Tongefäß Papyrus, die von Jeshua ben Jussuf erzählten, von Jesus, Josefs Sohn; aber alles hätte anders ausgesehen. Es hätte keine Kirche gegeben; es hätte keinen Islam gegeben. Die Geschichte der letzten 2000 Jahre würde völlig anders gewesen sein.

            Das Neue Testament ist rückwärts geschrieben, weil man glaubte, dass Jesus auferstanden war. Danach las man die gesamte Bibel rückwärts; man las die Auferstehung in das Alte Testament hinein. Man übernahm die hebräische Bibel von den Juden. Deshalb wird Jesus Christus genannt, und zwar 368 mal im Neuen Testament. Er war der Messias, der Gesalbte, um zu zeigen, dass er auch derjenige ist, von dem das Alte Testament handelt. Was dem Gesetz und den Propheten Sinn verleiht, das ist Jesus.

            Alles war von dem aus zu verstehen, der dem Lahmen am Teich Betesda begegnet. Deshalb treffen wir auf die Verärgerung über die Verletzung des Sabbatgebotes durch Jesus. Es ist nicht bloß eine einfache Übertretung des Gesetzes, sondern es handelt sich um die Behauptung, dass das gesamte Gesetz und die gesamte Gesetzesgrundlage der Juden nur Sinn hat, wenn sie von Jesus aus zu verstehen ist.

            Sie waren, ganz wie wir heute, mehr davon angefochten, dass Krankheit Gottes Werk sein kann, als davon, dass Heilung Gottes Werk ist. Es muss eine Erklärung des Bösen geben. Gott muss eine Entschuldigung haben. Wenn es Fehler gibt, dann muss ein Schaden eingetreten sein, wie etwa, wenn ein Mann fast sein ganzes Leben lahm ist. Jemand muss gesündigt haben, entweder derjenige, der den Fehler bekommen hat, oder jemand anders, der den Fehler verursacht hat. Der Fehler ist damit verbunden, dass etwas Verkehrtes passiert ist. Man nimmt nicht dazu Stellung, ob es seine Schuld ist oder die Schuld eines anderen, nur dazu, dass Schuld vorliegt.

            Für die Juden ist es ein Teil der göttlichen Ordnung, dass ein Schuldiger krank war. Nicht aber, dass ein Kranker an einem Sabbat geheilt wurde. Jesus hat sozusagen Gott ins Handwerk gepfuscht. Er war auf Arbeit, während die Juden sagten, dass Gott frei hatte. Ja, mehr noch, Jesus behauptet auch, dass Gott an einem Sabbat arbeitet. "Mein Vater arbeitet

ständig, und ich arbeite auch."

            Wenn das Alte Testament von Jesus aus zu verstehen ist, dann besteht auch ein Zusammenhang und kein Gegensatz zwischen den verschiedenen Teilen der Bibel. Wenn es heißt, dass der Mann achtunddreißig Jahre krank gelegen hat, dann ist das keine zufällig Zahl. Es ist eine Zahl aus dem 5. Buch Mose. Einmal murren die Juden gegen Mose, aber in Wirklichkeit richtet sich ihr Murren gegen Gott. Da wurde gesagt, dass die Menschen, die gemurrt hatten, nicht vor Ablauf von 40 Jahren in das verheißene Land kommen würden. Sie haben 40 Tage bekommen, um das verheißene Land zu erkunden. Nun sollen sie 40 Jahre in der Wüste zubringen. Aber es werden keine 40 Jahre; nach 38 Jahren sind alle gestorben, und es gab keine Überlebenden mehr. Die Zahl 38 drückt aus, dass keine Hoffnung mehr besteht, oder dass es das letzte Jahr ist, bevor die Hoffnung erlischt. Nach 38 Jahren war die Hoffnung erloschen. (Die Zeit aber, die wir von Kadesch-Barnea zogen, bis wir durch den Bach Sered kamen, betrug 38 Jahre, bis alle Kriegsleute aus dem Lager gestorben waren, wie der Herr ihnen geschworen hatte. 5. Mose 2,14)

            Jesus kann Hoffnung machen, wo es keine Hoffnung mehr gibt. Das Volk muss 38 Jahre in Hoffnungslosigkeit in der Wüste sein; der Mann musste 38 Jahre in Hoffnungslosigkeit sein. Er bekommt die Hoffnung im letzten Augenblick wieder. Und in dem darauf folgenden Text wird die Heilung mit der Auferstehung in Verbindung gebracht.

            Der Tod drückt am klarsten aus, dass es nichts gibt, worauf wir hoffen können. Das empfindet man fast kösperlich, jedesmal wenn man an einem Totenbett steht. Aber im Tod bedeutet der Glaube an Jesus, dass es Hoffnung gibt, so wie es für den Lahmen am Teich Betesda geschah. "Herr, ich habe keinen Menschen, der mir hilft." Nein! Aber er hat Gott!

            Das Schaftor kennen wir aus einem anderen Zusammenhang, dort, wo man mit dem Wiederaufbau Jerusalems beginnt, als die Stadt zerstört ist. Als die ersten Juden aus der Gefangenschaft in Babylon zurückkehren und beschließen, das neue Jerusalem aufzubauen. Und man beginnt beim Schaftor (Nehemia 3,1).

            Nun wird Jerusalem von Neuem aufgebaut, diesmal aber wird es aus lebendigen Steinen gebaut. Und das geschieht wiederum am Schaftor.

            Jesus fragt den Mann: "Willst du gesund werden?" "Willst du?" willst du über die Grenze zum verheißenen Land gehen? Es ist kein kleines Neurosedrama, denn wünscht man wirklich gesund zu werden nach 38 Jahren? Man kann sich nach 38 Jahren in seiner Krankheit festgegraben haben. Und viele Predigten bewegen sich noch immer in der Richtung.

            Wenn die Frage gestellt wird: "Willst du?", dann ist das kein Appell an den Willen. Es ist eher eine liturgische oder gottesdienstliche Frage. Ich glaube, der Ruf des Gebets und der Hilflosigkeit soll in dieser Aussage hervorgerufen werden. Es ist, wie wenn der Gottesdienst mit dem "Kyrie Eleison" eingeleitet wird: "Herr, erbarme dich!" Jesu Hinwendung lässt erkennen, jetzt ist die Hilfe da, jetzt ist die Möglichkeit gegeben.

            Wer keinen Menschen hat, hat Jesus. Gott selbst will für uns Mitmensch sein. Aber hier wird auch unsere Aufgabe klar. "Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt." Die Tragödie besteht darin, dass er keinen Menschen hat, der ihm hilft.

            Alpha und Omega des Menschseins, ob gesund oder krank, ist es, einen Menschen zu haben, einen Nächsten. Von der berühmten Mutter Theresa (gest. 1997) wissen wir: was sie veranslasste, ihre Bewegung zu schaffen, war nicht die Tatsache, dass Menschen krank waren und ihm Sterben lagen, sondern dass Menschen krank sein und im Sterben liegen konnten, und dass es niemanden gab, der in ihren letzten Stunden bei ihnen sitzen wollte. Es gab Menschen ohne Menschen, wie den Mann am Teich Betesda. Hier ist ein Mann, ohne einen Menschen, der dem begegnet, der der Nächste sein will für diejenigen, die keinen Nächsten haben.

            Indem er ein Mensch für uns ist, schenkt Jesus uns, Menschen für andere zu sein.

Amen.



Dompropst em. Rudolph Arendt
Løgumkloster (Dänemark)
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Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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