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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

14. Sonntag nach Trinitatis, 05.09.2010

Predigt zu Römer 8:12-17, verfasst von Bernd Giehl

Sonntag für Sonntag predige ich sie nun: die schwierigen Texte aus den Briefen im Neuen Testament. Und Sonntag für Sonntag frage ich mich, wie es gelingen kann, diese Texte so zu übersetzen, dass man nicht nur versteht, was gemeint ist, sondern etwas davon auch in den Alltag mitnehmen kann. In dem es nicht unbedingt um den Geist Gottes geht, von dem hier die Rede ist, sondern um die Frage, wie ich die nächste Mathematikarbeit überstehe. Oder wie ich es schaffe, geduldig zu bleiben, wenn die Kollegen nerven oder der Chef es mal wieder auf mich abgesehen hat. Und wenn ich das nun so sage, klingt in meinem Hinterkopf gleich die Frage mit, wie sich das denn anhört: als Herausforderung oder als Beschwerde an die Autoritäten, die von mir verlangen, dass ich mich mit derart harten Nüssen abplage. -

Falsch geraten. Im Augenblick sehe ich die Beschäftigung mit den harten Nüssen als eine Herausforderung an meine Kreativität.

*

Aber genug der Vorreden. Um zwei mögliche Arten zu leben geht es. „Leben nach dem Fleisch" nennt es Paulus und dem stellt er das „Leben im Geist" gegenüber. Vielleicht könnte ich jetzt einen längeren theologischen Exkurs über diese beiden Begriffe folgen lassen, aber wenn ich es täte, würde ich Sie wahrscheinlich in einen wohlverdienten Schlummer versetzen. Da ich das nicht will, werde ich das Problem ein wenig anders angehen und ihnen stattdessen eine Geschichte erzählen.

*

Stellen Sie sich jetzt bitte einmal einen Mann vor, Anfang Fünfzig würde ich sagen. Ich nehme an, er ist schlank. Womöglich sieht er sogar gut aus. Er ist erfolgreich; mehr oder weniger jedenfalls. Sagen wir einmal, er sei Manager in einem mittelständischen Unternehmen. Über die Jahre hat er Karriere gemacht. Keine Spitzenkarriere, dafür hat es nicht gereicht, aber er ist auch nicht unten steckengeblieben. Er arbeitet hart für den Erfolg seines Unternehmens. 50 Stunden in der Woche, wenn es sein muss auch 60. Er ist verheiratet; seine Kinder sind erwachsen.

Aber wie das manchmal so geht: Vor einigen Monaten hat er die ersten Anzeichen von Müdigkeit an sich festgestellt. Es gab Tage, an denen hat er sich gefragt: Wozu eigentlich? Einige Zeit später kam ihm das Bild vom „Hamsterrad" in den Sinn. Auch das hat er noch nicht besonders ernst genommen. „Das passiert eben manchmal" hat ein Freund gesagt, mit dem er über dieses Gefühl geredet hat, das er bisher noch nicht kannte. Aber plötzlich hat es „Peng" gemacht und der Notarztwagen hat vor seinem Haus gestanden und ihn gleich mitgenommen ins Krankenhaus. Nein, das ist immer noch zu wenig gesagt: Die Station, auf die er kam, trug einen Namen, den man nicht so gern erwähnt. Von der „Inneren" kann man erzählen, über die „Chirurgie" fällt einem sicher ein guter Witz ein, aber die Psychiatrie? Da sind es die anderen, die die Witze machen. Menschen, die sich nicht einmal im Traum vorstellen können, einmal selbst in der „Klapse" zu landen. Und wenn man selbst betroffen ist, fällt es einem schwer, da mit zu lachen.

Aber am Ende sucht man es sich nicht aus. „Akute Depression" hieß die Diagnose, die sie ihm gestellt haben. „Temporäre Durchblutungsstörung des Gehirns" war auch dabei. Worte, die man nicht so gern auf sich selbst bezieht.

Nur: was hilft das? Eine Zeitlang kann man so tun, als wäre es ein Anderer von dem da gesprochen wird. Aber irgendwann wird es einem bewusst: An diesem Punkt kannst du nicht mehr weglaufen. Du musst dich stellen. Es ist nicht dein Magen, der Probleme hat. Es war nicht einmal die Durchblutung, die plötzlich Probleme machte. Das war nur das äußere Anzeichen eines längeren Prozesses. Es ist etwas in deinem Leben, was ganz und gar verkehrt ist. Du wirst dein Leben ändern müssen.

*

Ging das zu nah heran? Schon möglich. In dieser Beschreibung könnte sich der eine oder andere wiedererkennen. Und womöglich schon einmal die Stacheln ausfahren.

Aber warum eigentlich? Vermutlich doch deshalb, weil er oder sie schon wieder gehört hat: Es ist alles deine Schuld.

Aber  genau das möchte ich nicht sagen. Aus diesem Grund sind Begriffe wie „im Fleisch", den Paulus hier gebraucht oder „Sünde", was eigentlich das Gleiche bedeutet, so furchtbar verbraucht. Weil sie immer nur als Anklage gegen den Einzelnen benutzt worden sind. Weil der Einzelne für etwas verantwortlich gemacht wurde, für das er wenig kann.

Genau deswegen habe ich diese Geschichte erzählt. In ihr geht es zwar darum, dass man dein Leben auch verfehlen kann, aber die Verantwortung ist anders verteilt. In dieser Geschichte sind beide verantwortlich, wenn man das Wort überhaupt gebrauchen will: der Mensch, der es so weit kommen lässt, das sein Leben ihm entgleitet wie auch die Umstände, unter denen er lebt. Also vor allem die Forderungen, die der Beruf an ihn stellt.

Was also kann er tun? Er kann so weiterleben, wie er es getan hat und hoffen, dass sein Zusammenbruch ein einmaliges Ereignis war. Oder er kann versuchen, etwas zu ändern, weniger zu arbeiten und bewusster zu leben. Was am Ende auch bedeuten kann, dass er sich einen anderen Job suchen muss. Dass er einen geringeren Status hat. Dass er nicht mehr so viel Geld verdient. Dass es vorbei ist mit dem teuren Auto, den Reisen nach Bali oder Südamerika.

*

Gar nicht so einfach, nicht wahr? Und wenn nun uns die Frage gestellt würde: Wie willst du leben? Wie würden wir uns dann entscheiden?

Manchmal merken wir's ja. Dass der Zug, in dem wir sitzen, in die falsche Richtung fährt. Hin und wieder hält er ja auch an. Aber dann fragen wir uns, ob wir wirklich aussteigen wollen. Nun gut, der Zug steuert ein anderes Ziel an, eins, an das wir nicht gelangen wollten,  aber eigentlich sind die Sitze doch bequem. Und es ist warm hier drin. Draußen ist es neblig. Und kalt. Ungemütlich sieht es aus, da draußen. Und wer weiß, ob vielleicht noch einmal ein anderer Zug kommt, der in die Gegenrichtung fährt.

Also bleiben wir sitzen, und eine Minute später fährt der Zug wieder an.

*

„Folglich nun, Geschwister, sind wir nicht den begrenzten menschlichen Verhältnissen verpflichtet, unser Leben nach ihren Maßstäben zu leben." So übersetzt die „Bibel in gerechter Sprache" den Satz von „dem Fleisch schuldig sein". Vermutlich hat Paulus, als er das schrieb, an ganz andere Dinge gedacht, als ich es gerade tue. Aber auch er spricht von Abhängigkeiten, die schließlich in Gefangenschaft führen. Und es sind eben nicht nur die Alkoholiker, die abhängig sind und ihren Stoff brauchen, bis sie schließlich an Leberzirrhose oder sonst etwas sterben. Wenn wir ehrlich zu uns sind, dann spüren wir auch immer wieder gewisse Abhängigkeiten bei uns selbst. Wir haben einen gewissen Status erreicht, wir gönnen uns den einen oder anderen Luxus, aber wir bezahlen dafür mit unserer Freiheit. Wir müssen mehr arbeiten, als uns gut tut. Wir verbrauchen mehr, als es den Ressourcen der Welt gut tut. Und manchmal sehen wir die Konsequenzen, sehen sie bedrohlich nahekommen, aber die anderen ändern doch auch nichts; wie kann ich als schwacher Einzelner da etwas tun?

Möglicherweise hat sich dem einen oder anderen diese Frage ja schon einmal gestellt. Und gefragt hat er sich auch, welchen Preis er zahlen muss, wenn er etwas verändert.

*

Aber hören wir jetzt noch einmal auf die Antwort, die Paulus gibt. Ich zitiere sie wiederum aus der „Bibel in gerechter Sprache": „Wenn ihr aber mit Hilfe der Geistkraft den Zuständen ein Ende macht, in denen eure Körper benutzt werden, dann werdet ihr leben. ... Denn ihr habt nicht eine Geistkraft erhalten, die euch zu Sklaven und Sklavinnen macht, so dass ihr weiterhin in Angst leben müsstet. Ihr habt eine Geistkraft empfangen, die euch zu Töchtern und Söhnen Gottes macht." (VV13/14) Das ist nicht ganz einfach zu verstehen, weil die Sprache so fremd scheint, aber man ahnt, in welche Richtung es gehen könnte. Es geht um die Kraft, einem System Widerstand entgegenzusetzen, von dem man erkannt hat, dass es falsch ist.

Die Kraft des Geistes Gottes macht uns zu Söhnen und Töchtern Gottes. Und diese Kraft hilft uns, aus den Zwängen, in denen wir gefangen sind, freizukommen. So weit ist das vermutlich noch verständlich. Aber wie kommen wir frei? So dumm ist die Gesellschaft, in der wir leben ja nicht, dass sie uns droht. Das tut sie auch, aber zunächst hält sie uns  eher mit Belohnungen fest. Wir bekommen Geld und Anerkennung für das, was wir leisten. Und wenn wir in den Augen der Gesellschaft wertvoll sind, dann bekommen wir eben viel Geld und einen hohen Status.

Wenn ich Paulus richtig verstehe, dann sieht er genau darin die Wurze des Übels. Wir machen uns selbst abhängig, wenn wir uns aus dem verstehen, was wir leisten und dafür bekommen. Um da heraus zu kommen, ist es wichtig, uns als Söhne und Töchter Gottes zu verstehen. Das ist der zentrale Gedanke. Gott gibt uns die Anerkennung, die wir brauchen. Am besten versteht man das, wenn man an kleine Kinder denkt. Sie jedenfalls müssen noch nichts leisten. Ihre Eltern lieben sie, weil sie auf der Welt sind. Möglich, dass sie den Eltern schon wenn sie noch ganz klein sind, etwas zurückgeben, ohne es zu wissen. Bei Taufgesprächen, bei denen die kleinen Kinder dabei sind, erlebe ich selbst die Verzauberung, wenn sie mich anlächeln. Was sie geben können ist eigentlich nur ihr Lächeln. Oder dass man erlebt, wie ihre Fähigkeiten langsam wachsen. Aber das genügt. Zunächst einmal sind die Eltern an der Reihe mit dem Geben. Ob sie später etwas zurückbekommen, muss sich erst noch herausstellen.

Und genau das ist nun auch gemeint, wenn Paulus von den Christen als „Kindern Gottes" spricht. Christen, so sagt es der Apostel, wissen, dass sie aus der Gnade Gottes leben. Dass sie vor Gott nichts vorzuweisen haben, keine Leistungen, keine guten Taten, nicht einmal ein reines Gewissen. Alles, was sie haben ist ihnen von Gott geschenkt. Der Grund, auf dem sie wachsen, ist allein die Liebe Gottes. Aus dieser Liebe verstehen sie sich. Auf sie können sie sich berufen, wenn ihnen alles fraglich wird.

„Ich bin getauft", soll Martin Luther mit Kreide auf seinen Esstisch geschrieben haben, wenn ihn wieder einmal die Schwermut und der Zweifel ankam.

*

Ja, ich weiß. Das ist manchmal gar nicht so einfach. Denn das bedeutet ja auch, sich eben nicht mehr aus dem zu verstehen, was man alles im Beruf leistet. Oder was für ein guter Mensch man ist, weil man nur fair gehandelte Produkte kauft oder keine Tiere isst und bei jeder Katastrophe spendet. Nicht zu sagen: Seht her, was für ein guter Mensch ich doch bin, schaut mal, was ich alles kann, das ist schon verdammt schwer. Aber manchmal hilft es eben auch zu sagen: Nicht weil ich so viele Talente habe, bin ich ein liebenswerter Mensch, sondern allein deshalb, weil Gott mein Leben gewollt hat. Weil er mich liebt. Deshalb kann ich mich auch selbst lieben. Und deshalb ist es auch nicht so wichtig, was andere von mir sagen. Das macht mich frei. Es befreit mich von dem Wunsch, ständig Anerkennung von anderen bekommen zu müssen. Denn ich lebe ja aus einer Liebe, die ich mir nicht verdienen muss, sondern die immer schon da ist.

So ist es am Ende unsere Entscheidung, was wir tun. Womöglich hält der Zug ja gerade an einer Station. Man kann aussteigen. Und dann sehen, in welche Richtung es weiter geht.



Pfarrer Bernd Giehl
Nauheim
E-Mail: giehl-bernd@t-online.de

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