Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

17. Sonntag nach Trinitatis, 26.09.2010

Predigt zu Römer 10:9-17, verfasst von Wolfgang Vögele

„Denn wenn du mit deinem Munde bekennst, daß Jesus der Herr ist, und in deinem Herzen glaubst, daß ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet. Denn wenn man von Herzen glaubt, so wird man gerecht; und wenn man mit dem Munde bekennt, so wird man gerettet. Denn die Schrift spricht: »Wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden.« Es ist hier kein Unterschied zwischen Juden und Griechen; es ist über alle derselbe Herr, reich für alle, die ihn anrufen. Denn »wer den Namen des Herrn anrufen wird, soll gerettet werden«. Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie aber hören ohne Prediger? Wie sollen sie aber predigen, wenn sie nicht gesandt werden? Wie denn geschrieben steht: »Wie lieblich sind die Füße der Freudenboten, die das Gute verkündigen!« Aber nicht alle sind dem Evangelium gehorsam. Denn Jesaja spricht: »Herr, wer glaubt unserm Predigen?« So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi."

Liebe Gemeinde,

Eine belebte Straße im Innenstadtviertel im späten Sommer. Ein älterer Mann ist auf dem Weg zum Einkaufen. In der linken Hand trägt er seine Einkaufstasche aus hellem Leinen und in der rechten hält er ein Briefkuvert. Im Vorübergehen erkennt er einen Nachbarn gerade so aus den Augenwinkeln. Große Überraschung: Beide haben sich längere Zeit nicht gesehen und schütteln sich zur Begrüßung die Hand. Neuigkeiten tauschen sie Sie tauschen Neuigkeiten , erzählen einander vom ersten Enkel und der Urlaubsreise nach Rom, vom platten Reifen und vom entflogenen Wellensittich. Ein kleiner Alltagsplausch, wie er jeden Tag ein paar Mal vorkommt. Zum Abschied geben sich die beiden freundlichen Männer wieder die Hand.

Und der andere Mann sagt noch: Vergiß nicht, eine schöne Briefmarke auf das Kuvert zu kleben. Der Empfänger muß Nachporto bezahlen, wenn du ihn unfrankiert einwirfst.

Da lacht der Mann und antwortet: Ach, dieser Brief braucht keine Briefmarke. Den werde ich persönlich abgeben.

Und mit einem letzten Lächeln geht der Mann weiter.

Ist Ihnen das schon aufgefallen, liebe Gemeinde, daß immer weniger richtige Briefe geschrieben werden? Briefe mit schönem Briefpapier, Handschrift in blauer Tinte, korrekter Adresse und einer Briefmarke, die das Sammeln wert ist? An die Stelle von Briefen sind Emails getreten, und an die Stelle des Kolbenfüllers oder Kugelschreibers die Tastatur, mit der man alles löschen, verändern und verbessern kann. Wer einen Brief schreibt, der würdigt einen anderen Menschen mit einer unverwechselbaren Aufmerksamkeit. Bei manchen Menschen, die Emails schreiben, hat man ja den Eindruck, daß die Mails ihnen ersparen, über das Geschriebene nachzudenken.

Was wir als Predigttext von Paulus gehört haben, stammt jedenfalls aus einem Brief. Sein Brief enthielt keine Briefmarke, er war nicht auf Büttenpapier, sondern auf Papyrus geschrieben, nicht mit dem Füller, sondern mit einer einfachen Feder, nicht von der Post befördert, sondern von einem Freund oder Gefährten nach Rom gebracht, nicht an eine Person gerichtet, sondern an eine Gemeinde. Paulus hat keinen Privatbrief verfaßt, sondern einen Brief, der vermutlich mehrfach in der Gemeinde von Rom vorgelesen wurde.

Die ersten Christen fanden diesen Brief an die Gemeinde in Rom so gewichtig, daß sie ihn in die Sammlung von Dokumenten aufnahmen, die Jahrzehnte später zum Neuen Testament werden sollte. Darum erweiterte sich mit den Jahren der Kreis der Empfänger des Römerbriefs zeitlich und geographisch. Christen des Mittelalters und der Alten Kirche, Christen in der ganzen Ökumene von Sao Paulo über Karlsruhe bis Peking empfanden sich als Empfänger dieser Zeilen und ließen sich davon anrühren, begeistern und in ihrem Glaubensleben bereichern. Vermutlich gibt es wenige Briefe wie den Römerbrief, den so viele Millionen von Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten gelesen haben. Dieser Brief ist wahrhaftig ohne Briefmarke bei seinen Empfängern angekommen, und niemand kann vorhersagen, wie viele Menschen diesen Abschnitt des Römerbriefs noch lesen und daraus Trost empfangen wird. Warum ist das so?

Paulus redet in einem Brief über den Glauben. Man kann über Glauben in einer Vorlesung, in einem Vortrag oder in einem Lexikon nachlesen. Paulus redet in einem Brief über den Glauben, weil er die Menschen mit seiner Begeisterung für den Mann aus Nazareth anstecken will. Lexika, Vorträge und dogmatische Thesen strahlen zuerst einmal keine Begeisterung aus. Eher vermitteln sie Wissen. Briefe stellen eine Beziehung her zwischen dem Briefschreiber und den Empfängern. Auf dem verknüpfenden Band dieser Beziehung vermitteln sich Begeisterung, Freude, Hoffnung und eben, für Paulus besonders wichtig, auch Glauben. Form und Inhalt können nicht voneinander getrennt werden. Ein Briefschreiber kümmert sich um diejenigen, die den Brief lesen. Paulus, der der Gemeinde einen Glaubensbrief schreibt, kümmert sich um die römischen Christen wie der junge Mann, der seiner angebeteten Freundin einen brennenden Liebesbrief schreibt.

„Wenn man von Herzen glaubt, so wird man gerecht", sagt Paulus. Das Herz ist der körperliche und geistliche Mittelpunkt des Menschen. Dieser geheimnisvolle, einem Menschen selbst nicht vollständig erreichbare innere Ort prägt im Laufe eines Lebens die gesamte Persönlichkeit. Im Herzen findet sich der Motor eines Lebens. An diesem Ort werden Zu- und Abneigungen, Liebe und unverwechselbare Prägungen, fundamentale Überzeugungen und Gewißheiten aufbewahrt. Jeder kann sich selbst von diesen Überzeugungen und Gewißheiten Rechenschaft ablegen, wenn er sich die Frage stellt: Was bestimmt mich und was macht mich aus? Diejenigen Antworten kommen aus dem Herzen, die ein Mensch ohne langes Nachdenken geben kann.

Fragen wir noch einmal den älteren Mann, der ein Briefkuvert ohne Briefmarke verteilt hat. Diese Frage würden wir ihm selbstverständlich nicht beim Zweiminutengespräch in der Fußgängerzone stellen, sondern am Abend in seiner Wohnung bei einem Glas Burgunder. Der freundliche Mann würde vielleicht antworten: Meine Familie ist mir im Herzen wichtig, meine Frau, mit der ich seit 35 Jahren zusammenlebe. Aufrichtigkeit ist für mich ganz entscheidend. Ich mag keine Lügen und keine Denunziationen. Zusammenarbeit mit anderen versuche ich in meinem Beruf zu praktizieren. Und ich liebe diese schöne Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Und das letzte, was für mich dazu gehört, ist der christliche Glaube. Ich bin überzeugt, daß ein guter Gott diese Welt geschaffen hat. Und ich versuche, diesem Glauben zu entsprechen.

Liebe Gemeinde, dieser sympathische ältere Mann hat eine mögliche Antwort darauf gegeben, was einen Menschen im Herzen prägen kann. Es sind ganz andere Antworten möglich. Es gibt Menschen, die leben aus derselben Überzeugung allein und ohne Familie. Für andere ist statt Zusammenarbeit Kreativität wichtig, für wieder andere eine Mischung von beidem, denn das schließt sich ja nicht gegenseitig aus. Jeder Mensch kann auf diese Frage, was ihn im Innersten prägt, eine Antwort geben. Die Antworten werden bunt, vielfältig und unterschiedlich ausfallen. Übrigens auch, was den christlichen Glauben angeht. Und das ist gut so.

Das Herz, dieser lebendige innere Kern eines Menschen, läßt sich von dieser Person, ihrem Handeln, Fühlen und Denken lebenslang nicht abspalten. Weder mit ihrem Denken noch mit ihren Gefühlen haben Menschen vollständigen Zugriff darauf. Niemand kann seine Überzeugungen von einem Tag auf den anderen vollständig ändern. Trotzdem ist das Herz wandelbar. Das kalte Herz, das sich Veränderungen widersetzt, wäre tot. Aber die Veränderungen, die wir Menschen in unseren Herzen durchmachen, geschehen langsam, unmerklich, ohne den Zugriff unseres planenden Verstands. Sicher gibt es Prägungen: durch die Familie, durch die Muttersprache, durch Landschaft und Heimat, durch Freunde und Partner, die den jeweiligen Menschen begleiten.

Für Paulus - und auf seine Weise für den Mann mit dem Briefkuvert - gehört der Glaube zum Herzen, zum innersten Kern des Menschen. Ich glaube an Gott: Das ist keine einfache bloße Aussage. Eine Aussage ist ein Wissenssatz, den die einen für richtig, die anderen für unrichtig halten. Glaube an Gott, der sich im Herzen eines Menschen einnistet, erscheint viel eher als eine Gewißheit, eine tiefe Überzeugung, die mein Leben, Denken und Fühlen bestimmt. Ein Wissenssatz ist nur eine banale Wahrheit. Eine Gewißheit ist eine Wahrheit mit tiefen Auswirkungen auf das Leben der Menschen.

Und weil auch die Christenmenschen verschieden sind, kann sich diese im Herzen verborgene Gewißheit auf ganz vielfältige und bunte Weise ausprägen. Dafür braucht es Zeit und Geduld. Der Glaube im Herzen wächst nicht von einem Tag auf den anderen. Glaube braucht Erfahrung und Lernen, mit einem Wort auf den Punkt gebracht: Herzensbildung. Liebe Konfirmanden, das gilt besonders für euch. Ich weiß, ihr wollt so schnell wie möglich erwachsen werden - und das ist ja auch gut und richtig und wichtig. Vielen von euch steht die jugendliche Ungeduld ins Gesicht geschrieben. Trotzdem braucht Glauben Zeit, nicht nur bei Konfirmanden, auch bei allen Konfirmierten, die heute morgen hier sitzen. Glaube ist eine Sammlung von Gewißheiten, die Lebenserfahrungen braucht. Glaube braucht Lernen, Gespräche mit anderen Christen, regelmäßige Gottesdienste, Gebete und  - ganz wichtig - Fragen und Zweifel. Gerade weil die Wahrheit des Glaubens sich nicht in drei Lehrsätzen formulieren läßt, bildet sich seine Gewißheit nur im Wechselspiel von bohrenden Fragen und tastenden Antworten, von begeistertem Enthusiasmus und kritischen Zweifeln.

Liebe Gemeinde, auf der einen Seite sind die Gewißheiten des Glaubens im Herzen eines Menschen aufbewahrt. Auf der anderen Seite braucht dieser Glauben Öffentlichkeit, Gespräch und Dialog. Glaube muß vermittelt werden. Paulus drückt das so aus: „So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi." Er nennt zwar die Predigt, aber die Predigt steht stellvertretend für alles, was Beziehungen, Kontakte und Austausch fördert: das Gespräch zwischen Christen, zu zweit oder in der Gruppe, die gemeinsame Lektüre der Bibel und nicht zuletzt die Briefe, die Beziehungen zwischen glaubenden Menschen herstellen. Öffentlich ist der Gegenstand von Glaube und Gewißheit: Wir finden ihn in der Geschichte des Jesus von Nazareth: in seiner Geburt, seinem kurzen Leben, seinem Heilen und Sprechen, seinem Sterben und seiner Auferstehung. Es besteht eine tiefe Entsprechung zwischen Glauben im Herzen und öffentlicher Glaubensüberzeugung. Das Private wird durch das Gemeinsame ergänzt und überboten. Glaube braucht den Austausch.

„Die Religiösen", sagt der Schriftsteller Botho Strauß in seinem Buch „Vom Aufenthalt", „verstehen sich aufs Deuten. Die Ungläubigen benötigen Klartext." Lassen wir den Unglauben in dieser Predigt beiseite. Herzensglaube ist geronnene, konzentrierte Lebensdeutung. Lebensdeutung entwickelt sich an zwei Orten: im Herzen und im Gespräch. Solche Gespräche des Glaubens zielen nicht auf Eindeutigkeit, Sicherheit, Offensichtlichkeit. Gespräche des Glaubens zielen auf das Verborgene, das manchmal nicht in Worte zu Fassende, auf die Geheimnisse dieses Lebens. Wer glaubt, kann die Geheimnisse Gottes, seine Verborgenheit, seine Dunkelheit stehen lassen und sie bewahren. Wer glaubt, der lebt mit der einen Verkündigung des Evangeliums, von dem Paulus spricht.

Glaube erweist sich als schillernde Sache, zugleich innerlich und öffentlich, Herzensangelegenheit und Gesprächsfreiheit, evangelische Überzeugung und Beziehung mit den anderen Christenmenschen in der Gemeinde und Ökumene.

Die Gewißheiten des Glaubens stehen in diesem wichtigsten Brief, den Gott in unsere Herzen geschrieben hat, weiter schreibt und schreiben wird. Glaube selbst heißt, diesen Brief zu öffnen. Amen.

 



PD Dr. Wolfgang Vögele
Christuskirche - Nordpfarramt, Karlsruhe
www.Christuskirche-Karlsruhe.de
E-Mail: wolfgang.voegele@aktivanet.de

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