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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Erntedank / 18. Sonntag nach Trinitatis, 03.10.2010

Predigt zu Römer 14:17-19, verfasst von Martin Schewe

(1) Wenn wir untereinander eine Umfrage veranstalten würden, liebe Gemeinde, was wir uns von unserem Leben wünschen, dann hätten Glück und Lebensfreude gute Chancen auf Platz eins. Glück und Lebensfreude sind vielleicht nicht genau dasselbe. Sie haben aber viel gemeinsam. Deshalb schlage ich vor, wir setzen sie gemeinsam auf den ersten Platz. Und wenn wir die gleiche Umfrage in der Innenstadt von Gütersloh veranstalten würden: was sich die Passantinnen und Passanten am meisten wünschen - ich nehme an, wir erhielten das gleiche Ergebnis. Glück und Lebensfreude kämen wieder auf den ersten Platz. Sie hätten es auch verdient, finde ich. Glück und Freude sind Ziele, für die es sich zu leben lohnt. Merkwürdig ist nur: Selbst wenn wir uns bis hierher einig sind, bedeutet das noch längst nicht, dass wir tatsächlich alle dieselben Ziele haben. Wenn wir die Umfrage nämlich fortsetzen würden und weiterfragten, wie wir uns unser Glück und unsere Lebensfreude vorstellen, würde sich zeigen, dass wir unterschiedliche Dinge meinen. Den einen macht seine Familie glücklich, die andere ihr Erfolg im Beruf. Viele von euch Konfirmandinnen und Konfirmanden haben besondere Freude am Sport, aber nicht alle an der selben Sportart. Wir Älteren dagegen gehen vielleicht gern in die Oper oder ins Museum. Oder in den Garten oder früh ins Bett. Gut schlafen macht glücklich - nur eben nicht jeden. Unsere Umfrage käme zu dem Ergebnis: Was wir uns wirklich wünschen, sind nicht einfach Glück und Lebensfreude, sondern die unterschiedlichen Dinge, an denen wir Glück und Lebensfreude finden, jeder ein bisschen anders als die anderen. Um das herauszufinden, brauchen wir nicht erst eine Umfrage.

Trotzdem möchte ich weiter zusammen mit Ihnen und euch über unsere Wünsche und unser Glück nachdenken. Es lohnt sich. Glück und Freude bleiben ein wichtiges und schönes Gesprächsthema, obwohl wir uns darüber nicht einigen werden - wichtig und schön, gerade weil wir uns nicht einigen werden, sondern ausprobieren dürfen, jede und jeder von uns, was gerade dich, gerade mich glücklich macht. Zusammen darüber nachzudenken, lohnt sich, weil wir dabei uns selbst und einander besser kennen lernen. Es gibt zwar kein gemeinsames Glücksrezept für alle. Zum Glück nicht. Es gibt jedoch Wünsche, die wir teilen, und Freuden, die wir nur miteinander erleben können. So bin ich davon überzeugt, dass sich die unterschiedlichen Antworten, die wir bei unserer Umfrage bekämen, in einem Punkt sehr ähnlich wären: Die meisten Befragten hier im Gottesdienst und in der Gütersloher Innenstadt würden, glaube ich, antworten, dass ihr eigenes Glück und ihre eigene Lebensfreude etwas mit dem Glück und der Lebensfreude der Menschen zu tun hat, die ihnen wichtig sind. Womöglich brauchen wir die anderen, damit sich unsere Wünsche erfüllen, und sie brauchen uns.

Aber lassen Sie uns nicht nur grundsätzlich und abstrakt über unser wichtiges und schönes Thema reden. Lassen Sie uns auch nicht so tun, als wären wir die Ersten, die darüber nachdenken, und als müssten wir alles, was es darüber zu erfahren gibt, allein herausbekommen. Lassen wir uns helfen - von einem Film, in dem es um Glück und Lebensfreude geht. Später werden wir dazu außerdem eine Stelle aus der Bibel hören. Zunächst jedoch der Film des dänischen Regisseurs Gabriel Axel. Sein Film gewann 1988 einen Oscar und heißt „Babettes Fest".

(2) Schon der Titel verspricht einiges, denn Feste und Feiern gehören zu den Dingen, auf die sich viele Gütersloher freuen, die an unserer fiktiven Umfrage teilgenommen haben. Wie es sich in einem guten Film gehört, müssen wir uns natürlich bis zum Höhepunkt, dem Fest also, gedulden. Auch wer Babette ist, erfahren wir Zuschauerinnen und Zuschauer erst nach und nach. Zuvor lernen wir die anderen Hauptpersonen des Films kennen: zwei Schwestern, Martine und Philippa, die Töchter eines Pfarrers. Sie leben um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in einem Dorf in Jütland. Zu Beginn des Films sind Martine und Philippa junge Frauen. Ihr Vater, der Pfarrer, erzieht sie streng und enthaltsam. Streng und enthaltsam geht es auch in seiner kleinen Gemeinde zu. Zwei Männer bringen Großstadtluft ins Dorf. Der Offizier Löwenhjelm wirbt um Martine, der Opernsänger Papin um Philippa. Papin stammt aus Paris. Auf der Bühne verkörpert er am liebsten den Verführer in Mozarts „Don Giovanni". Doch die beiden Schwestern weisen ihre Verehrer ab. Ob aus eigenem Antrieb oder auf Wunsch ihres Vaters, können sie wohl selbst nicht unterscheiden.

Jahre später: Der Pfarrer ist gestorben, seine kleine Gemeinde noch kleiner geworden. Sonst hat sich nicht viel verändert. Im Dorf geht es immer noch streng und enthaltsam zu. Martine und Philippa wohnen immer noch zusammen im Pfarrhaus. Möglicherweise erhalten wir den Eindruck, von Glück und Lebensfreude verstünden diese Leute nicht viel. Von außen betrachtet wirkt ihr Dasein eher eintönig. Aber dieser Vorwurf wäre nicht ganz fair, denn wir sind ja nicht sie. Glücklich kann man hoffentlich auch unter bescheidenen Umständen werden. Andererseits dürfte den Leuten im Film ein bisschen frischer Wind tatsächlich nicht schaden. Da hat Babette ihren Auftritt.

Babette kommt aus Paris nach Dänemark und bringt einen Brief von Papin mit. Darin schildert der Opernsänger, dass Babette im Bürgerkrieg ihre Familie verloren hat und aus Frankreich fliehen musste. Martine und Philippa nehmen die Fremde bei sich auf und stellen sie als Köchin an. Babette erweist sich als vorzügliche Köchin. Sonst verändert sich immer noch nicht viel - bis Babette eines Tages die Nachricht erhält, dass sie zehntausend Francs in der Lotterie gewonnen hat. Die Schwestern fürchten, ihre Köchin zu verlieren. Bevor es dazu kommt, hat Babette eine Bitte. Zum hundertsten Geburtstag des verstorbenen Pfarrers möchte sie seine alte Gemeinde zu einem Festessen einladen. Die Zutaten lässt Babette eigens aus Paris liefern. Damit wir einen Eindruck davon gewinnen, wie exotisch die Mahlzeit, die Babette plant, den beiden Schwestern und den anderen Dorfbewohnern vorkommt und wie verstört sie Babettes Vorbereitungen mitansehen, lese ich einen Abschnitt aus der Erzählung vor, die dem Film „Babettes Fest" zu Grunde liegt. Die Erzählung stammt von der Schriftstellerin Tania Blixen. Es heißt dort:

„Als Martine eine Karrenlast von Flaschen in der Küche anrollen sah, erstarrte sie. Sie berührte die Flaschen und hob eine hoch. ‚Was ist da drin, Babette?', fragte sie. ‚Doch nicht Wein?' - ‚Wein, Madame', erwiderte Babette, ‚nein, ein Clos Vougeot von 1846!' Nach einer Weile fügte sie hinzu: ‚Von Philippe in der Rue Montorgueil.' Martine hatte nicht im entferntesten geahnt, dass ein Wein einen eigenen Namen haben könnte, und musste verstummen.

Später am Abend öffnete sie auf ein Klingeln und sah sich abermals dem Schubkarren gegenüber, hinter dem diesmal ein rothaariger Schiffsjunge stand. Der Junge grinste sie an, als er einen riesigen, unbestimmbaren Gegenstand von dem Schubkarren hob. Im Lampenschimmer sah er aus wie eine Art grünschwarzer Stein, aber als er auf dem Küchenboden abgesetzt war, ließ er plötzlich einen schlangenähnlichen Kopf nach außen schießen und gemächlich hin und her wackeln. Martine hatte Abbildungen von Schildkröten gesehen und als Kind sogar selber eine Zwergschildkröte als Spielzeug besessen, aber das Ding hier war von unförmiger Größe und schrecklich anzusehen. Sie drückte sich wortlos rückwärts zur Küche hinaus."

(3) Babette scheut keine Kosten und Mühen und serviert auf ihrem Fest, was gut und teuer ist. Bevor wir erfahren, wie es den Gästen schmeckt, halten wir den Film an und wenden uns dem Apostel Paulus und seinem Brief an die Christinnen und Christen in Rom zu. Unser Thema sind das Glück und die Lebensfreude. Nicht nur der Film, auch Paulus hat uns dazu etwas zu sagen. Und zwar: „Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Frieden und Freude im heiligen Geist. Wer darin Christus dient, findet Wohlgefallen bei Gott und Anerkennung bei den Menschen. Wir wollen uns also einsetzen für das, was dem Frieden und der gegenseitigen Erbauung dient!"

Das klingt, als wolle Paulus Babette kritisieren. „Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken", schreibt er. Genau damit möchte Babette ihren Gästen eine Freude machen: Sie sollen essen und trinken wie noch nie. Eine gefährliche Vorstellung von Glück und Lebensfreude, argwöhnt die strenge, enthaltsame Gemeinde in Jütland, die den hundertsten Geburtstag ihres Pastors feiert. Die Gemeindemitglieder nehmen die gut gemeinte Einladung zwar an. Sie vereinbaren jedoch, kein Wort über Babettes Kochkunst zu verlieren und sie auf keinen Fall zu loben, sondern sich an den Römerbrief zu halten und daran, was zählt und wirklich wichtig ist: „nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Frieden und Freude im heiligen Geist. Wer darin Christus dient, findet Wohlgefallen bei Gott und Anerkennung bei den Menschen. Wir wollen uns also einsetzen für das, was dem Frieden und der gegenseitigen Erbauung dient!"

Würden die frommen Jütländer den Römerbrief aufmerksamer lesen, verstünden sie den Apostel Paulus besser. Der hat gar nichts gegen Babette und gegen die feine Küche. Paulus möchte vielmehr verhindern, dass das passiert, was im Film zu passieren droht. Die unterschiedlichen Meinungen über Glück und Lebensfreude, möchte der Apostel, sollen nicht zum Streit führen. Paulus stellt sich zwei Gruppen von Christinnen und Christen vor. Er nennt sie „die im Glauben Schwachen" und „die Starken" und erklärt den Unterschied am Beispiel von Essen und Trinken. Die eine Gruppe, „die Schwachen", fürchtet sich davor, manche Dinge zu essen. Gott könnte sie verboten haben. Paulus denkt dabei an Menschen, die aus religiösen Gründen Vegetarier sind. Er könnte genauso gut an die Gemeinde im Film denken, die den Luxus nicht gewohnt ist, den Babette ihr gönnt, und dem Braten nicht traut. Die andere Gruppe, „die Starken", wie Paulus schreibt, hat erkannt, dass Essen und Trinken uns nicht von Gott trennen. Wer gern gut isst, darf das durchaus - solange er niemanden provoziert oder verunsichert. Paulus bittet die „Starken" darum, Rücksicht auf die „Schwachen" zu nehmen und im Zweifelsfall selber auf eine gute Mahlzeit zu verzichten, damit sich die anderen nicht etwa genötigt fühlen, gegen ihre Überzeugung mitzuessen, und deshalb ein schlechtes Gewissen bekommen. So wichtig sind Essen und Trinken für Paulus nicht, um ihretwegen ein schlechtes Gewissen in Kauf zu nehmen. Wichtiger ist, worüber sich beide Gruppen von Christinnen und Christen, „Starke" und „Schwache", einig sind und was sie miteinander verbindet: Gottes Liebe, und wie viel wir von ihr zu erwarten haben - mit den Worten des Apostels: „Gerechtigkeit, Frieden und Freude im heiligen Geist".

Am Anfang haben wir uns überlegt, dass jede und jeder von uns ausprobieren darf, was gerade dich, gerade mich glücklich macht. Dabei bleibt es. Wir haben nicht alle den selben Geschmack. Weiter haben wir vermutet, dass wir zu unserem Glück und unserer Lebensfreude auf unsere Mitmenschen angewiesen sind und sie auf uns. Auch das stimmt. Glück und Lebensfreude sind nicht bloß unsere Privatsache. Die anderen spielen dabei eine große Rolle. Der Apostel Paulus erinnert uns daran, wie beides zusammenpasst, wir und die anderen, unsere Wünsche und ihre. Gott liebt sie und uns, erinnert uns Paulus. Daran können wir uns halten; das zählt und ist wirklich wichtig. Weil Gott uns liebt, sollen wir einander lieben und unseren Mitmenschen entgegenkommen, auch wenn wir im Einzelnen anderer Meinung sind als sie. Auf die Liebe kommt es an.

(4) Damit sind wir wieder bei Babettes Fest. Dort geht die Liebe durch den Magen. Babette tischt Gang um Gang auf. Die Gäste essen - und schweigen wie vereinbart. Bloß einer nicht. Durch einen Zufall hält sich Löwenhjelm wieder im Dorf auf, der einst als junger Offizier um Martine geworben hat, und nimmt an der Feier teil. In der Zwischenzeit hat er es zum General gebracht und ist in der Welt herumgekommen. Entzückt erkennt Löwenhjelm in Babette die Chefin eines Feinschmeckerlokals, das er vor dem Bürgerkrieg in Paris besucht und in schönster Erinnerung behalten hat. So gut hat er seither nicht mehr gegessen. Jetzt wieder. Doch obwohl Löwenhjelm der Einzige ist, der Worte des Lobs für Speisen und Getränke findet - auf die Dauer können auch die anderen Gäste Babettes nicht verbergen, wie sehr sie den Abend genießen. Mit jedem Gang werden sie fröhlicher. Die strenge, enthaltsame Gemeinde gewinnt nicht nur Gefallen an kostbaren Weinen und Schildkrötensuppe. Vor allem nehmen die Dorfbewohner sich selbst mit neuen Augen wahr. Sie vergessen die Auseinandersetzungen, mit denen sie sich das Leben schwer gemacht haben, merken, wie sympathisch sie einander sind, und tanzen ausgelassen um den Dorfbrunnen.

Am Schluss der Geschichte stellt sich heraus, dass Babette bei Martine und Philippa bleiben wird, denn ihren gesamten Lotteriegewinn hat sie in ihr Meisterwerk investiert, das große Fest. Diesen Schluss will ich wieder aus der Novelle von Tania Blixen vorlesen. „Aber dies ist nicht das Ende", sagt Philippa da zu Babette. „‚Ein Gefühl sagt mir, Babette, dass dies nicht das Ende ist. Im Paradies wirst du die große Künstlerin sein, als die Gott dich schuf. Und ein Entzücken', fügte sie hinzu, und die Tränen liefen ihr über die Wangen, ‚ein Entzücken, Babette, für die Engel!'"

Philippa rechnet offenbar damit, dass gute Köchinnen im Paradies gefragt sind. Das steht auch in der Bibel: Am Ende der Zeiten wird Gott auf dem Berg Zion ein großes Gastmahl für alle Völker geben. Jemand muss es schließlich zubereiten. Von Jesus lesen wir im Neuen Testament, er feiere so gern, dass ihn manche Leute für einen Fresser und Säufer halten. Und wenn Paulus schreibt: „Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken", so lehnt er Glück und Lebensfreude nicht ab. Sie dürfen nur nicht auf Kosten unserer Mitmenschen gehen. Glück und Lebensfreude auf Kosten der anderen, meint Paulus, gibt es gar nicht. Die anderen gehören immer dazu. Wie im Film. Babettes Fest gelingt, weil es die Gäste zusammenführt.

(5) Als der Film aus war, liebe Gemeinde, habe ich mich gefragt, wer hinterher spült. Keine überflüssige Frage, wie mir schien. Zwölf Personen haben einen ganzen Abend lang gegessen. Zwölf sind so viel, wie Israel Stämme und Jesus Jünger hat. Größer ist die Gemeinde im Film nicht. Aber groß genug, um eine Menge schmutziges Geschirr zu hinterlassen; und eine Spülmaschine gibt es im neunzehnten Jahrhundert noch nicht. Viel Arbeit für Babette. Es sei denn, die Dorfbewohner kommen am nächsten Tag wieder, ausgerüstet diesmal mit Bürsten und mit Trockentüchern. Der Film sagt davon nichts, denn das ist eine andere Geschichte. Oder doch nicht?



Pfarrer Dr. Martin Schewe
Evangelisch Stiftisches Gymnasium Gütersloh
E-Mail: marschewe@yahoo.de

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