Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

22. Sonntag nach Trinitatis - Reformationsfest, 31.10.2010

Predigt zu Römer 3:21-28, verfasst von Ruth Conrad

(19) Wir wissen aber: was das Gesetz sagt, das sagt es denen, die unter dem Gesetz sind, damit allen der Mund gestopft werde und alle Welt vor Gott schuldig sei, (20) weil kein Mensch durch die Werke des Gesetzes vor ihm gerecht sein kann. Denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde. Die Rechtfertigung allein durch Glauben. (21) Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. (22) Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben. Denn es ist hier kein Unterschied: (23) sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, (24) und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. (25) Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher (26) begangen wurden in der Zeit seiner Geduld, um nun in dieser Zeit seine Gerechtigkeit zu erweisen, dass er selbst gerecht ist und gerecht macht den, der da ist aus dem Glauben an Jesus. (27) Wo bleibt nun das Rühmen? Es ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch das Gesetz der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens. (28) So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.

 

Wer, liebe Gemeinde,
wer schreibt meine Biographie? Wer ist der Autor meiner Lebensgeschichte?
Die Antwort auf diese Frage ist eine doppelte: Erstens: Ich. Zweitens: Aber nicht allein. Beide Antworten gehören aufs engste zusammen.

Beginnen wir mit der ersten: Wer schreibt meine Biographie? - Ich! Wer denn sonst?
Die Geschichte meines Lebens erzähle ich. Meine Taten, meine Leistungen, meine Arbeit - das ist die Geschichte meines Lebens. Mein Haus, meine Familie, mein Beruf - das ist mein Leben. Meine Alpentour, meine Beförderung, mein erfolgreicher Sohn -die berühmte Werbung ist nicht zynisch, sie hat Recht. Wenn wir unsere Geschichte erzählen, dann erzählen wir die Geschichte unserer Erfolge. Das, was wir geschafft und erreicht haben, das ist unsere Geschichte. Die Geschichte unseres Lebens ist die Geschichte unserer Leistungen. Unsere Leistungen rechtfertigen uns und unser Leben. Das ist das Gesetz des menschlichen Lebens.
Und das ist zunächst auch gut so. Es ist gut, wenn Leistung zählt. Man muss da nicht immer gleich - ganz evangelisch - die Nase rümpfen und über die ach so schlimme Leistungsgesellschaft wehklagen. Leistung heißt immer auch Befreiung. Ich kann mein Schicksal in die eigene Hand nehmen. Was aus meinem Leben wird, liegt immer auch in meiner Hand.
Man kann sich ja einmal das Gegenteil vorstellen: Was wäre, wenn in unseren Betrieben und an den Schulen Leistung nicht zählen würde? Was würde dann entscheiden? Beziehungsweise: Was entscheidet dann? Der gute Draht zum Chef? Der regelmäßige Plausch mit der Lehrerin? Das angepasste Verhalten? Der bekannte Nachname? Der richtige Kontakt? Das optimale Netzwerk? In solchen Fällen empören wir uns doch zu Recht über Karrieren des Mittelmäßigen, Streberei, Vetterleswirtschaft und Mauschelei. Nicht immer sind die Ehrgeizigen auch die Besten. Die Ambitionierten sind nicht notwendig die Klügsten. Leistung ist daher nun einmal ein weitgehend eindeutiger Faktor zur Regelung unserer Geschäftsbeziehungen. Auch der kirchlichen Geschäftsbeziehungen.
Oder stellen Sie sich vor: Ein siebzigste Geburtstag wird gefeiert. Der Pfarrer und die Bürgermeisterin kommen ins Haus. Aber keiner der beiden interessiert sich für unsere Lebensleistung. Kein staunendes Wort über den gelungenen Wintergarten? Keine Anerkennung für die begabte Enkeltochter, der die Schule so leicht von der Hand geht? Der Pfarrer erlebt sie doch im Religionsunterricht. Keine Nachfrage nach meiner Zeit als Abteilungsleiter einer großen Firma? Kein Lob für den gelungenen Kuchen? Nein, das wollen wir nicht!

Die Geschichte unseres Lebens ist die Geschichte unserer Leistungen. Wir sind der Autor unserer Geschichte. Das ist das Gesetz des Lebens. So funktioniert diese Veranstaltung. Luther, an den wir heute besonders denken, hatte das gut verstanden. Und er hat immer betont: Dieses Gesetz des Lebens - es ist von Gott gegeben. So hart es manchmal sein mag - diese Bedingungen sind von Gott gesetzt. Luther hat dafür ein großartiges Bild gefunden. Er hat einmal geschrieben, Gott habe den Menschen zwei Predigten gehalten. „Die erste Predigt und Lehre ist das Gesetz Gottes, die zweite ist das Evangelium. Diese zwei Predigten kommen nicht aufs gleich heraus. Darum muß man ein gutes Verständnis dafür haben, daß man sie zu unterscheiden verstehe und wisse, was das Gesetz sei und was das Evangelium. Das Gesetz gebietet und fordert von uns, was wir tun sollen, es ist allein auf unser Tun gerichtet [...]. Das Evangelium aber predigt nicht, was wir tun oder lassen sollen [...], sondern wendet es um [... und] heißt uns nur den Schoß hinhalten und nehmen und spricht: Sieh, lieber Mensch, das hat dir Gott getan".

Und damit sind wir beim Zweiten, liebe Gemeinde.
Vielleicht haben Sie ja auch schon gedacht: Was ist das für ein Leben, in das Gott uns entlassen hat? Ein Leben, in dem nur zählt, was ich leiste? Ein Leben, für dessen Geschichte ich die alleinige Verantwortung tragen soll? Ein solches Leben kann unglaublich hart und brutal werden. Kalt und zynisch.
Der Kollege hatte sich jahrelang um die Firma verdient gemacht. Tag und Nacht hat er gearbeitet. Zugegeben: Damals konnte er kalt sein. Arroganz war ihm nicht fremd. Er hielt sich für den Besten. Doch seit seinem Schlaganfall ist er nicht mehr der Alte. Er kann einfach nicht mehr. Er ist erschöpft. Doch für den Ruhestand ist er noch zu jung. Das Haus ist noch nicht abbezahlt. Aber wie die Firma ihn jetzt behandelt, das ist mit - mit Verlaub - dann doch widerwärtig. Ins letzte fensterlose Kabuff hat sie ihn abgeschoben, ohne Telefon, ohne Internet. Mürbe soll er gemacht werden. Er ist ja nur ein Kostenfaktor. Die nächste Abwicklung wird ihn treffen. Wen interessieren die Schulden?
Da sieht eine ihrem siebzigsten Geburtstag mit Grauen entgegen. Sicher wird der Bürgermeister wieder nach der Tochter fragen und die Pfarrerin wird mehr neugierig als wirklich interessiert ihr Haupt neigen. Schon lange ist die Tochter im Methadonprogramm einer auswärtigen Stadt. Die Jahre davor waren ein einziger Alptraum: Bahnhofsabsteigen, Schwangerschaft, verzweifelte Entzüge, doch immer war die Sucht stärker. Und die hat das Geld gereicht. Alles hat sie, die Mutter, investiert. Irgendwann musste sie den Kontakt abbrechen. Sie hatte keine Kraft mehr. Jedes Mal kam es nur zu Vorwürfen. Die Sucht hat auch sie fertig gemacht. Das einzige Kind - und jetzt so eine Geschichte. Klassentreffen und Jahrgangsfeste meidet sie schon lange. Die anderen schienen keine Niederlagen zu kennen.

Das Gesetz des Lebens lehrt uns auch unsere Niederlagen, unsere Grenzen, unser Versagen, unsere Scham.

Das Gesetzt des Lebens zeigt uns: Das Leben ist vergänglich, das Glück zerbrechlich, manches Handeln vergeblich.

Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde, heißt es bei Paulus.

Dann aber fährt er, gottseidank, fort: So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.

Wir müssen die Geschichte unseres Lebens selbst schreiben. Aber eben nicht allein. Ein anderer, Gott, hat den ersten Satz unserer Geschichte geschrieben. Bevor wir anfingen, an unserer Geschichte zu stricken, hat er in das Buch unseres Lebens eingetragen: Ich hab dich je und je geliebt. Aus lauter Güte und Gnade habe ich dich zu mir gezogen.

Der erste Satz ist geschrieben. Und zwar nicht von uns.

Und deshalb, liebe Gemeinde,

deshalb ist eben immer auch ein großer Unterschied zwischen uns und unserer Leistung. Gott macht einen heilsamen Unterschied zwischen dem, was wir leisten und auch leisten sollen, und dem, was wir sind. Er unterscheidet uns als Person von dem, was wir tun oder eben auch nicht tun oder gar an Üblem tun.
Dieser Unterschied ist lebenswichtig. Denn an diesem Unterschied hängen der Sinn unseres Lebens und die Seligkeit unseres Herzen. Wir sind nicht, was wir leisten, auch wenn es noch so viele Situationen im Leben gibt, in denen wir uns so fühlen und in denen wir auch so leben. Wir sind nicht, was wir leisten. Wir sind vielmehr Gottes geliebte Geschöpfe. Und diese Liebe bemisst sich eben nicht danach, welch tolle Hechte wir sind beziehungsweise welch tapsige looser. „Es ist hier kein Unterschied: (23) sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten".
Gottes Liebe hört nicht einfach auf, wenn wir Scheitern und schlimme Fehler machen. Dafür steht die Geschichte von Jesus Christus. In seinem Gesicht erkennen wir die Liebe Gottes zu uns, die unabhängig von dem ist, was wir zuwege bringen. Eine Liebe, die auch den schlimmsten Abgrund durchsteht und dann spricht: Dies ist mein geliebter Sohn. Ich hab dich je und je geliebt.

Liebe Gemeinde,
die erste Predigt Gottes ist das Gesetz. Es lautet: Die Geschichte deines Lebens erzählst Du selbst.

Die zweite Predigt Gottes ist das Evangelium. Es lautet: Die Geschichte deines Lebens erzählst Du freilich nicht allein. Musst Du auch gar nicht. Das erste und das letzte Wort habe ich, Gott, dein Erbarmer. Deshalb liegt der Sinn deines Lebens nicht in dem, was du kannst. Die Gewissheit deines Lebens und deines Sterbens, die musst Du Dir nicht erarbeiten. Die wird gewährt.
Gesetz und Evangelium, zwei Predigten, beide von Gott. Beide gehören zu unserem Leben. Oft vermischen sie sich und wir können sie nur schwer trennen. Vor allem das Evangelium hat es manchmal schwer in unserer Erfahrung. Zu laut meldet sich das Gesetz der Leistung, auch dann, wenn es einmal nichts zu sagen hat, also dann, wenn es um den Sinn unseres Daseins geht. Doch manchmal entdecken wir mitten im Lauf des Lebens Spuren des Evangeliums. Da findet einer plötzlich eine große innere Freiheit - er wird das Haus verkaufen. Früher war es im Statussymbol wichtig. Heute denkt er anders. Er will lieber aufrecht die Firma verlassen können und Zeit für die Enkel haben. Und auf einen Besuch am Geburtstag freut sie sich doch - den der Enkeltochter. Mit der hatte sie ein tolles Verhältnis. Das hatte ihr gezeigt: Nicht alles war ihre Schuld. Nicht alles lag an. Die Beziehung zu ihrer  Enkeltochter, das war ihre Rechtfertigung. Zumindest ein stückweit. Und völlig unverdient.

Es ist also zu unserem eigenen Heil und Seelenfrieden, wenn wir uns den Unterschied zwischen uns und unseren Werken immer wieder klar machen. Auf das wir nicht hart und zynisch oder klein und verzagt werden. Und auf dass wir in einer Haltung getroster Gelassenheit und evangelischer Heiterkeit unsere täglichen Aufgaben erledigen können und ab und an dem Gesetz des Lebens frech ins Gesicht zu trotzen vermögen:
Ich leiste meinen Teil gerne, aber ich bin nicht, was ich leiste.
Sondern: Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.

Amen

 

Das Lutherzitat stammt aus: Martin Luther, Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten soll (1522), in: ders.: Ausgewählte Schriften, hg. v. Karin Bornkamm u. Gerhard Ebeling, Bd.2, Frankfurt 21983, S.197-205, hier 200.



Dr. Ruth Conrad



E-Mail: ruth.conrad@uni-tuebingen.de

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