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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

22. Sonntag nach Trinitatis - Reformationsfest, 31.10.2010

Predigt zu Matthäus 18:1-14, verfasst von Peter Lind

 Dieser Text ist ein reines ”Kinder-Ei”!

            Auch wenn es nun – glücklicherweise – schon einige Zeit her ist, dass ich zum letzten Mal die schreckliche Fernsehwerbrung gesehen habe, in der eine Mutter die zahlreichen Wünsche ihrer plagenden Kinder mit einem Kinderei erfüllt, so kann ich den ergreifenden Höhepunkt des Monologs der Werbung unmöglich vergessen.

            Die Mutter geht an den endlosen Regalen des Supermarkts entlang, während sie darüber nachdenkt, wie sie ihre Kinder vor einer Enttäuschung bewahren kann. Das Problem ist, dass sie sich mehrere Dinge auf einmal gewünscht haben – soviel ich mich erinnere, dass es eine Überraschung sein soll, Süßigkeiten und Spielzeug – und mehrfach muss sich diese vernünftige Mutter sagen: ”Das sind ja ganze drei Sachen auf einmal. Das geht wirklich nicht!”

            Bis zu dem erlösenden Augenblick, wo ihr das ”Kinderei” einfällt, das in seiner Schokoladenhülle irgendein kleines Plastikspielzeug enthält. Alle sind froh! Nicht zuletzt der Hersteller der Kindereier.

            Eine Suche mit Google ergibt 17.800 Ergebnisse für das Suchwort ”Kinderei” – allein aus Dänemark; der weitaus größte Teil davon sind Links zu Homepages, die geradezu enorme Sammlungen dieser kleinen verrückten Plastikfiguren aus den Eiern vorstellen, aber es gibt auch eine Menge von Links zu verschiedenen ”Hass-Geschenk-Homepages”, wo diese Fernsehwerbung ein unvermeidlicher Klassiker ist.

            ”Das sind ja ganze drei Sachen auf einmal. Das geht wirklich nicht!”

            Wenn ich es wage, den Predigttext von heute aus dem Matthäusevangelium mit einem Kinderei zu vergleichen, dann ausschließlich wegen dieser besorgten Bemerkung, drei so verschiedene Dinge können doch unmöglich in einem Ding vereint sein − und natürlich die frohe Botschaft, dass − doch, doch, das ist tatsächlich möglich.

            Unmittelbar ist es allerdings bestimmt nicht so leicht zu sehen, wie sich das machen lassen soll.

            Der Text ist in drei klare Abschnitte gegliedert. Zuerst eine kurze Geschichte über die Frage der Jünger an Jesus, wer er Größte im Himmelreich ist, und in der Jesus sie so beantwortet, dass er ein kleines Kind unter sie stellt und sagt: ”Wer sich selbst erniedrigt und wird wie dies Kind, der ist der Größte im Himmelreich.” Unser Altarbild hier in der Kirche stellt diese Szene dar.

            Dann folgt der längste Abschnitt – jedenfalls nach der Zahl der Wörter, inhaltlich lässt er sich ganz kurz wiedergeben: Es geht um das Zum-Abfall-bringen und darum, das, was zu Fall bringen kann, auszumerzen und zu entfernen: ”Wenn deine Hand oder dein Fuß dich zum Abfall verführt, reiß sie aus und wirf sie von dir…”

            Und schließlich endet die Perikope mit einem kurzen Gleichnis unter der Überschrift: ”Der Menschensohn ist gekommen, das Verlorene zu erlösen” – es erzählt von einem Hirten, der seine 99 Schafe auf den Bergen lässt, um das eine zu finden, das sich verirrt hat. ”So ist es auch der Wille eures himmlischen Vaters, dass auch nicht eines von diesen Kleinen verloren geht,” schließt Jesus das Gleichnis ab und beendet damit diese dreifache Textperikope.

            Wenn man jeden dieser Texte für sich nähme, wäre es relativ einfach, das Evangelium daraus zu verkünden.

            Im ersten Text von dem Kind, das der Größte im Himmelreich ist, läge es auf der Hand, eine Verbindung zur Kindertaufe aufzuzeigen, die doch so fein deutlich macht, dass wir alle Gottes Kinder sind. Weil Gott uns durch das Leiden, den Tod und die Auferstehung Jesu Christi, seines Sohnes, dazu gemacht hat. Wir können uns nicht selbst zu Kindern machen. Wenn man es als Erwachsener dennoch versucht, endet es immer in den schlimmsten und peinlichsten Auftritten, in Quatsch und Gehabe. Wir können nur an den Pakt unserer Taufe glauben und darauf hoffen, dass Gott uns immer als seine Kinder auffassen wird – ungeachtet unseres Alters, ob wir 13, 30 oder 80 Jahre alt sind. Als kleine Kinder, die, ohne das Wie und Warum und Wieviel und Wielange zu überlegen, allein in Geborgenheit und Vertrauen die Liebe, die uns gegeben ist, zu empfangen vermögen, in ihr zu leben als dem festen und unerschütterlichen Fundament unseres Daseins. Eine Liebe, die uns ohne Bedingungen und Forderungen geschenkt wird – ohne die Erwartung, dass sie im selben Maße vergolten würde – ohne die Gefahr, dass sie verloren gehen und verschwinden oder sich in Hass und Strafe verwandeln kann. Dass wir als Kinder Gottes, wie das kleine Kind im Arm seiner Mutter oder seines Vaters, in unendlicher Geborgenheit ruhen können, in der grundlegenden und unfassbar befreienden Feststellung, dass wir geliebt sind, weil wir leben – nicht um dessen willen, was wir tun.

            Das Gleichnis von den 100 Schafen, von denen sich eines verirrte, und dem Hirten, der die 99 Schafe verlässt und nach dem einen sucht, bis er es findet und voller Freude wieder nach Hause bringt, passt eigentlich glänzend als Forsetzung der Rede davon, dass wir Kinder Gottes sind.

            Denn kann es wirklich stimmen, dass Gott allezeit so seinen Menschen lieben wird − sein Kind − was immer geschehen mag?

            Ja!

            Dass er allezeit nach ihm suchen und ihn finden und in Freude nach Hause bringen wird?

            Ja!

            Es ist wirklich eine frohe Botschaft – ein Evangelium, das uns mit diesen beiden Texten von dem kleinen Kind und dem einen Schaf verkündet wird. Es ist hineingesprochen in unser Leben und unsere Welt als eine Wirklichkeit – als Gottes Wirklichkeit – in unserer Welt. Eine Wirklichkeit, die in einer so großen und machtvollen Liebe besteht, dass sie all unsere Vernunft übersteigt. Eine Liebe, die größer und mächtiger ist als der Tod. Ein Liebe, die uns nie loslässt.

            Aber mitten in diesem frohen Evangelium steht die Warnung davor, zum Abfall zu bringen und zum Abfall gebracht zu werden. Nicht bloß eine Warnung, sondern eine verurteilende Feststellung von ewigem Feuer, Hölle und Verdammnis. Wie ein unbehaglicher und anmaßender Keil schiebt sie sich in die Botschaft von der Liebe Gottes und nimmt – allzu großen Raum ein, findet man. Man kann sie nämlich nicht so einfach überspringen und mit eleganter Leichtigkeit so tun, als stünde sie gar nicht im Text. Ihre Aussagen sind nur allzu klar – allzu brutal. Man vergisst sie nicht so leicht, wie gern man es auch täte. ”Wenn dich dein Auge zum Abfall verführt, reiß es aus und wirf’s von dir. Es ist besser für dich, dass du einäugig zum Leben eingehst, als dass du zwei Augen hast und wirst in das höllische Feuer geworfen.”

            Mit einem oder mit beiden Augen muss man sich auch diesem Text stellen, und auch wenn es auf den ersten Blick unbequem und verwirrend − ja fast unmöglich wirken kann, so muss man ihn auch im Zusammenhang mit den beiden anderen Texten sehen. Es sind ”ganze drei Sachen auf einmal” – und es ist die Frage, ob sie sich in einer Botschaft vereinen lassen – in einer frohen Botschaft – in einem Evangelium.

            Ja, es ist möglich – und es ist notwendig. In Wirklichkeit ist es ganz entscheidend, dass man die drei Texte im Zusammenhang sieht und nicht jeweils für sich betrachtet.

            Denn sicherlich verkünden die beiden kurzen Geschichten vom Kind und vom Schaf eine schöne Botschaft; aber sie befinden sich auch hart an der Grenze zu einem reinen Glanzbild einer Wirklichkeit, die wir weder von uns selbst noch von unserem Glauben wiedererkennen können.

            Denn was passiert, wenn man an der Liebe Gottes zweifelt; oder geradezu den Glauben an Gott verliert oder Gott leugnet oder einem die Sache einfach völlig egal ist, dann muss man doch der Verdammnis anheimfallen – dann muss man ”abgehauen” und fortgeworfen und in der Finsternis dort draußen vergessen werden − als notwendige Folge seiner eigenen, freien Wahl?

            Nein! – ”Kann eine Frau ihr Kindlein vergessen? Vergisst eine Mutter das Kind, das sie geboren hat? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen” (vgl. Jes. 49,15). Gott will kein einziges seiner Kleinen verlieren. Gott ist in seiner mächtigen Liebe auch ein eifernder Gott, der keinen Verlust akzeptiert − mag er in dem großen Zusammenhang auch noch so klein und bedeutungslos scheinen; in Gottes Augen ist ein Mensch nie nur ein kleines unbedeutendes Ding; er ist sein Kind.

            Wir sollen uns auch nicht einbilden, wir hätten die Macht und die Freiheit, zu Gott nein danke zu sagen, als wäre er ein Angebot im Supermarkt. Ebenso wie das Schaf seinem Besitzer gehört, gehören wir Gott. Gott kaufte und bezahlte für uns durch seinen Sohn, Jesus Christus. Der Preis war allzu hoch, um auch nur einen einzigen von uns zu verlieren. Das steht fest. Es steht wie ein unverbrüchlicher Rahmen um unser Leben, ebenso wie hier die zwei kurzen Erzählungen gleichsam einen Rahmen ausmachen um die Warnung davor, zum Abfall zu bringen oder gebracht zu werden.

            Aber auf der anderen Seite haben wir natürlich auch darüber im Klaren zu sein, dass unsere Wahl – unsere Lebensweise – unsere Art und Weise des Umgangs miteinander – Folgen hat.  Nicht für das Maß der Liebe Gottes. Die Auferstehung am Ostermorgen ist Gottes endgültige Verheißung für uns, dass er uns auch das Leiden und den Kreuzestod seines eigenen Sohnes vergeben kann und will. Zuletzt findet er uns, wie der Hirte sein Schaf findet. Aber ebenso, wie das Schaf sich entschließen kann, in die Finsternis hinauszulaufen und sich zu verirren, hat jeder Mensch natürlich die Möglichkeit, mehr oder weniger und mehr oder weniger bewusst so zu wählen, dass er sein Leben vergeudet und es zu einer wahren Hölle macht, für sich und für andere. Manchmal geschieht das in einem solchen Ausmaß, dass die anderen reagieren müssen, um sich zu schützen, so wie z.B. die Gesellschaft einem Mörder oder einem anderen Menschen gegenüber, der sich auf eine so furchtbare Weise gegen die Existenz der Gemeinschaft vergangen hat, reagieren muss; die Gesellschaft muss ihn oder sie ”abhauen” – und das ist schmerzhaft wie das Abhauen einer Hand, aber es ist notwendig für das Überleben. Das ist das notwendige und unbarmherzige Urteil der Gesellschaft – unser Urteil − über den Verlorenen. Das sind die Bedingungen unseres Lebens und unserer Welt.

            Aber es sind nicht die einzigen Bedingungen, unter denen wir Menschen leben. Wir urteilen über uns selbst und über einander; aber das ist nicht das Urteil Gottes. Gottes endgültiges Urteil ist, dass sein Sohn ”gekommen ist, selig zu machen, was verloren ist” − ”dass auch nicht nur eines von diesen Kleinen verloren werde”. Ein Urteil, das in unsere Welt lautet, als eine Hoffnung.

            Als eine Hoffnung, die wie ein Licht auch in der größten Finsternis leuchten kann, und als die Hoffnung, die kein Mensch einem anderen Menschen zu nehmen das Recht hat.

Amen


Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier



Pastor Peter Lind
DK-5500 Middelfart
E-Mail: pli@km.dk

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