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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 07.11.2010

Predigt zu Römer 14:7-9, verfasst von Wolfgang Voegele

Friedensgruß

Der Predigttext ist ein wunderbarer Lobgesang auf das Leben, diktiert vom Apostel Paulus vor mehr als 1900 Jahren als Teil eines Briefes an die christliche Gemeinde in Rom. Von dort aus hat diese Hymne auf das Leben ihren Weg in die Herzen aller Christenmenschen gefunden. Ich lese Röm 14,7-9. Paulus schreibt:

 „Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, daß er über Tote und Lebende Herr sei.“

 

Liebe Gemeinde,

das Leben ist wunderbar, bunt, vielfältig, eine unbeschreibliche Mischung aus Chaos und Ordnung, Leiden und Freude, Lachen und Weinen, aus Geburt und Tod, eine einzige andauernde nachhaltige Verwandlung, die uns gleichzeitig zur Verzweiflung und zum Jubeln bringt.

Wer darüber nicht staunen kann, sondern bitter geworden ist nach Jahren schlechter Erfahrungen, der gehe an einem schönen Herbstnachmittag an einem Spielplatz vorbei und beobachte die Drei- und Vierjährigen. Die Mütter und vereinzelt auch ein Vater auf den Bänken sitzen scheinbar unbeteiligt und diskutieren die Probleme von Kindergarten und Einwegwindeln. All die Sophies, Kevins und Emmas sind vollständig in ihr Spiel versunken. Was die Mütter reden, kümmert sie überhaupt nicht. Wer jenseits des Zaunes mit dem Fahrrad vorbeifährt, entgeht ihrer Aufmerksamkeit. Wenn ein paar Regentropfen fallen, dann blicken sie vielleicht einmal besorgt zur Mutter, ob die vielleicht auf die dumme Idee kommt, ausgerechnet jetzt, wo das Spiel am schönsten ist, nach Hause zu gehen. Aber doch nicht wegen dreier Regentropfen.

Sophie sitzt im Sandkasten und ist zur Baggerführerin geworden. Sie schlägt eine akkurate Schneise durch einen kleinen Sandberg. Kevin steht neben ihr und ist ein Maurer geworden. Professionell schwingt er die Schaufel und gräbt ein Loch. Alexander ist ein Wasseringenieur und begradigt einen Flußlauf, damit das Schaufelrad am Ende des Wasserlaufs immer in Bewegung bleibt. Emma ist gar nichts, aber das hindert sie nicht, mit größter Begeisterung zusammen mit Ruben stets von neuem die kurze Rutsche hinunterzuschlittern, auf dem Bauch, auf dem Hintern, mit den Füßen zuerst und dann mit dem Kopf zuerst.

Kleine Kinder können in ihren Spielplatzspielen völlig versinken. Nur noch auf ihre eigene Tätigkeit achten sie. Alles was um sie herum geschieht, nehmen sie nicht mehr wahr. Und viel wichtiger: Ein Dreijähriger ist im Spiel ganz bei sich selbst. Was er spielt, spielt er ohne Berechnung und Hintergedanken, ohne Zweck. Er spielt nicht, um zu lernen. Er spielt nicht, um erwachsen zu werden. Genauso wenig spielt er, um seine Koordination, seine Muskelkraft oder seine Kooperationsfähigkeit zu verbessern. In solchen Zwecken scheinen die Hintergedanken der Erwachsenen auf. Kinder spielen um des Spielens willen, zwecklos und – im besten Sinne des Wortes – arglos. Darum bedürfen sie des Schutzes.

Je älter und erwachsener Kinder werden, desto mehr verlieren sie von dieser Arglosigkeit und Naivität. Sie fangen an, über ihr Leben nachzudenken. Das Leben fängt an, sich zu teilen, in Bewußtsein und Wirklichkeit, in Gedanke und Ereignis, in Gefühl und Geschehen, in Plan und Erinnerung. Das eröffnet die Möglichkeit zum Vergleich. Wenn Sophie und Alexander – sagen wir – sechzehn Jahre geworden sind, dann fangen sie an, über ihre Zukunft nachzudenken. Sie fragen sich, welchen Beruf sie einmal ergreifen sollen. Und sie achten besonders sensibel darauf, was Freundinnen, Freunde und Klassenkameraden über sie denken. Sie müssen unzählige Mails und SMS schreiben, um sich darüber auf dem laufenden zu halten. Ein bißchen versuchen sie, den Erwartungen ihrer Clique zu entsprechen. Sophie und Alexander ist es wichtig, daß sie anerkannt werden. Lehrer, Eltern und Verwandte sind da nur peinlich. Viel entscheidender ist die Anerkennung der Gleichaltrigen, obwohl sie das niemanden eingestehen würden, der sie darauf anspricht.

Je älter Menschen werden, desto mehr kommen sie ins Nachdenken über ihr eigenes Leben: Geburt und Tod rücken nun näher in den Blick. Sophie und Alexander haben mit ihren jeweiligen Partnern Familien gegründet, Kinder bekommen. Mit ihren eigenen Dreijährigen sind sie auf den Kinderspielplatz gegangen. Sie haben über die Spielfähigkeiten ihrer Kleinen gestaunt, ohne sich selbst daran zu erinnern, daß sie auch einmal eine kleine Baggerführerin und ein kleiner Maurer waren.

Beide haben gelernt, über ihr Leben nachzudenken und ihm manchmal einen Sinn abzugewinnen. Genauso sehr gleitet manchmal das Nachdenken in Grübelei ab, und aus dem längeren Grübeln kann eine ganz finstere Bitterkeit entstehen. Das Herz wird von dem Gefühl gequält, zu kurz gekommen zu sein. Und dazu kann das nagende Gefühl kommen, daß das Leben gerade mich gestraft hat. Daß das Leben Wunden geschlagen hat, die nur schlecht vernarbt sind. Daß ich mich mehr hätte anstrengen können. Daß ich aus diesem Leben mehr hätte machen können. Mehr Erfolg. Vielleicht mehr Kinder. Ein Studium statt Baggerführer. Mehr Freundschaften statt Sechzigstundenwochen. Mehr Zeit, die im Alltagsstreß so oft fehlt. Mehr das Große und Ganze als die Kleinigkeiten, über die man sich ärgert.

Nachdenken über das Leben muß nicht nur Grübelei bedeuten. Manche Menschen leben von einem ungebrochenen Optimismus, der sie über jede Kränkung und Verletzung hinweg rettet. Ihre Fröhlichkeit und Freundlichkeit ist durch nichts zu brechen. Noch besser, wenn sie andere damit anstecken.

Wenn Sophie und Alexander um die Vierzig geworden sind, kommt ein weiterer Gedanke in ihr Leben, der Gedanke an den Tod. Sie haben nun die ersten Beerdigungen erlebt. Der Schwiegervater und eine weit entfernt lebende, sehr alte Tante wurden zu Grabe getragen. Der Tod von Verwandten und Freunden hat ihnen den quälenden Gedanken an den eigenen Tod geweckt. Auf einmal stellen sich bohrende Fragen: Wenn ich fünfzig bin, dann bleiben mir noch dreißig Jahre, wenn ich Glück habe und ohne den Lebensfresser Krebs durchs Leben komme. Was fange ich an mit den nächsten zwanzig, dreißig, vierzig Jahren?

Es macht einen großen Unterschied, ob Alexander und Sophie diese Frage grübelnd oder hoffend und planend angehen. Manche stellen die Frage nach dem Leben bohrend und hartnäckig, andere lassen Gnade und Barmherzigkeit walten. Sie können sich selbst und anderen vergeben. Die meisten jedoch kommen nie an ein Ende bei ihrem Versuch, die Frage nach dem Sinn ihres Lebens zu beantworten.

Das Leben ist ein Geheimnis, das sich niemand vollständig aufschlüsseln und errechnen kann. Das Leben kann die Hölle sein, weil Menschen sich selbst quälen oder von anderen unschuldig geplagt werden. Das Leben kann ein Wunder sein, dem ein Mensch mit Staunen und Enthusiasmus begegnen wird. Das Leben setzt stets neue Anfänge, vor allem kleine, neugeborene Kinder, die alles anders machen können und werden als ihre Mütter und Väter. Das Leben läuft aber auch aus, es verläuft sich langsam, aber sicher. Es nimmt ein Ende im Tod des hoffentlich alt gewordenen Greises. Und es macht Angst zu wissen, daß niemand dem eigenen Sterben entkommen wird. Das Leben ist so vielfältig, daß Freude und Begeisterung, Lachen und Weinen, Grübeln und Hoffen nicht ausreichen, um es in seiner unendlichen Vielfalt zu umfangen oder zu begreifen. Bei manchen Menschen fallen Lebenswelt und das Nachdenken darüber so sehr auseinander, daß sie über dem entstehenden Graben verzweifeln. Dann kommen Weinen und Freude, Grübeln und Planen nicht mehr in die notwendige Balance.

Paulus, in der Passage des Römerbriefs, hat einen Hymnus auf das Leben verfaßt, das von der Geburt des Babies bis zum Tod der Greisin reicht. Der Apostel Paulus, liebe Gemeinde, war ein Experte darin, Menschen zu helfen, die aus dem Gleichgewicht geraten waren. Paulus war ein Freund des Lebens. Er half den Christen in der römischen Gemeinde, weil sie ihre Lebenswelt und ihr Nachdenken darüber gelegentlich nicht mehr in Übereinstimmung bringen konnten. Als Hilfestellung genügen Paulus, dem theologisch nachdenkenden Lebensfreund, wenige kurze Hinweise.

Der erste Hinweis: Unser keiner lebt sich selber. Der Zweck und das Ziel eines Lebens liegen nicht in diesem selbst. Es kommt nicht auf die Ziele an, die Menschen sich selbst stecken, gleich ob die Ziele Karriere, Eigenheim oder finanzieller Erfolg heißen. Je verzweifelter ein Mensch daran arbeitet, desto mehr verstrickt er sich in das, was Paulus an anderer Stelle Sünde nennt. Der Sünder macht sich selbst zum Maßstab seines Lebens. Damit aber muß er scheitern.

Der Sinn menschlichen Lebens liegt außerhalb von diesem Leben selbst. Martin Luther hat das in einem berühmten Brief an seinen väterlichen Freund Spalatin aus dem Jahr 1530 in den einfachen Satz gefaßt: „Wir sollen Menschen und nicht Gott sein. Das ist die Summa; es wird doch nicht anders.“ (WA Br 5, 415) Der Mensch ist kein Selbstzweck. Unnötig, daß er sich selbst vergöttert.

Menschen sind unvollkommen. Allein Gott ist vollkommen. Gott ist das Ganze. Der Mensch ist Teil, Fragment; Mosaikstein. Der Mensch, der sich als Gott sieht, strebt nach Vollkommenheit, Selbstbeherrschung, Allmacht. Diesem sündigen Prozeß der Selbstvergötterung setzt Paulus eine Bewegung der Humanisierung entgegen. Der Mensch, der Gott sein will, muß erst einmal menschlich werden. Human wird und bleibt, wer die eigene Unvollkommenheit annimmt, wer sich bescheiden kann, wer erkennt, daß er eingespannt ist in ein Räderwerk von gesellschaftlichen und sozialen Beziehungen. Frömmigkeit heißt für Paulus human sein, den Prozeß der Selbstvergötterung zu unterbrechen.

Ein weiterer Hinweis: Leben wir, so leben wir dem Herrn. Wenn wir es schaffen, den Prozeß der Selbstvergötterung zu unterbrechen, verändert sich das Leben. Alles, Gebären, Leben und Sterben, alle Wachstums- und Veränderungsprozesse des Lebens sind dann auf Gott bezogen.

Das Leben findet sein Ziel in dem, der er es geschaffen hat. Der die ganze Welt, dich und mich geschaffen hat. Der die Welt am Leben erhält. Der die Welt in sein, Gottes Reich verwandeln wird. Der dich und mich erlösen wird. Wer das in Gewißheit annehmen kann, der hält ein Gegenmittel gegen die Grübelei in der Hand. Er muß sich um das Ziel des Lebens keine Gedanken mehr machen. Über das Leben nicht und – noch wichtiger – auch über den Tod nicht. „Sterben wir, so sterben wir dem Herrn.“ Vielleicht hören wir diese Worte zu häufig auf dem Friedhof. Aber ich bin überzeugt, diese Worte sind deshalb immer wieder auf dem Friedhof zu hören, weil sie im Angesicht von Tod und Sterben das Leben loben.

Schließlich der letzte Hinweis des Paulus zur Lebenshilfe: Christus ist Herr über Lebende und Tote. Die getauften Babies, die Dreijährigen, die in ihr Spiel versunken sind, die Konfirmanden, die Paare, die Familien gründen, die Paten, die älter werden Menschen, die ganz alten Menschen, die vergeßlich und pflegebedürftig geworden sind, die Sterbenden und schließlich die Toten – sie alle leben im Herrschaftsbereich der Gnade und Barmherzigkeit Christi. Was Heil und Erlösung angeht - es kann ihnen nichts mehr passieren. Aus diesem Herrschaftsbereich der Gnade kann niemand mehr herausfallen. Wer das in Gewißheit annehmen kann, der sieht das Leben mit den Augen der Gnade Gottes, weit hinaus über die Wirklichkeit, die manchmal nur Grübelei und Leiden bereithält. Amen.



Pastor PD Dr. Wolfgang Voegele
76133 Karlsruhe
E-Mail: Wolfgang.voegele@aktivanet.de

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