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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 07.11.2010

Predigt zu Matthäus 5:13-16, verfasst von Claus Oldenburg

Manchmal kann man in meinem Job in eine Lage kommen, die technisch gesehen eine Ketzerei wäre, also eine Irrlehre im Gegensatz zur rechten Lehre.

            Und weil wir heute (in Dänemark) Totensonntag haben, Allerheiligen, möchte ich die Gelegenheit benutzen, die reformatorische Lehre vom Tod zu problematisieren, weil generell betrachtet eine jede Lehre vom Tod in Bezug auf Religion ungeheuer wichtig ist.

Zuvor aber ein merkwürdiger kleiner Aspekt unserer Kultur. Denn zwar hat man zu allen Zeiten in der dänischen Kirche Allerheiligen gedacht, und mancherorts sind sich fleißige Kirchgänger durchaus darüber im Klaren, dass  dieser Tag der Tag ihrer eigenen Verstorbenen ist, weshalb man ihrer gedenkt – aber in der öffentlichen Kultur ist Allerheiligen nie besonders hervorgehoben worden.

            Anderserseits importieren wir Kulturformen. Und wir haben in recht umfassendem Maße das amerikanische Halloweenfest importiert, das ja auch Tag der Toten ist, aber eben auf Amerikanisch – oder richtiger auf Lateinamerikanisch. Diese ganz eigenartige Mischung aus Ungemütlichkeit und Spaß ist augenscheinlich sehr anziehend, und wer in den Herbstferien in Tivoli gewesen ist, weiß, dass der ausgehöhlte Kürbiskopf mit einem Licht darin für immer zu uns gekommen ist.

            Aber ich möchte hier den Hintergrund dafür skizzieren, soweit ich es kann oder soweit ich ihn erschließen kann. Man hat nämlich seit der Zeit der Alten Kirche immer an den Gräbern Mahlzeiten zu sich genommen; man hat ganz einfach mit seinen Verstorbenen jährlich gemeinsam gegessen. Wir wissen es von den Martyrien, und wir wissen es von der katholischen Friedhofskultur.

            Sicherlich ist bei dieser Gelegenheit diese Mischung aus Grauen und Fest entstanden, und sie ist eben in den katholischen Ländern Lateinamerikas, vor allem in Mexiko, sehr deutlich erkennbar. Und ein jedes Fest pflegt sich, wenn es erst einmal Fuß gefasst hat, auszuweiten, und daher hat sich der Tag der Toten zu einem sehr bedeutungsvollen Tag entwickelt. Und dann hat der gesamte nordamerikanische Kontinent diesen Brauch übernommen, ohne dass er dann noch jene enge Verbindung zu den Gräbern und Mahlzeiten für die Toten oder mit den Toten bewahrt hätte.

            Man kann es niemandem verargen, denn es ist ein ganz gewöhnliches Phänomen bei allen ordentlichen, öffentlichen Festen. Man kann es mit Weihnachten vergleichen, das ja Jahrhunderte lang ein Fest gewesen ist, das sich entwickelte und sich also geändert hat und neue und andere Formen angenommen hat, auch wenn das alles ein traditionelles Aussehen hat und am liebsten wie ’Weihnachten einst zuhause bei Mutter’ sein soll.

            Aber worauf ich eigentlich mit dieser kleinen Kulturanalyse hinauswill, ist der nahe Umgang mit den Verstorbenen, das Gefühl der Nähe zwischen den Lebenden und den Toten, das für die frühe Kirche und gerade auch für die römisch-katholische Kirche durchaus charakteristisch ist.

            Und eine weitere Eigentümlichkeit. Dass alle – ich sage: alle − Toten in geweihte Erde kamen und somit im Prinzip eine Grabstätte bekamen, ist eine zivilisatorische Eigenheit des Christentums, die sehr wichtig ist. Denn in früheren oder anderen Kulturformen hat man es damit nicht so genau genommen, jedenfalls nicht was den gemeinen Menschen angeht. Von der Kultur der Wikinkger wissen wir, dass man die Leichen oft auf den Misthaufen warf, Aussetzung von Kindern mit dem gewissen Tod  als Folge gab es in zahlreichen Kulturen, und wenn man auf ein verhältnismäßig modernes europäisches Phänomen verweisen soll wie die Massengräber in Zentral- und Osteuropa, so hat sich die Barbarei ja gerade in einer Unmenschlichkeit gegenüber den Lebenden gezeigt, indem man auch die Identität aus ihrem Tod entfernte.

            Eine gewisse Ordnung im Tod und Respekt vor den Verstorbenen zu haben, ist die notwendige zivilisatorische Voraussetzung dafür, dass man Ordnung ins Leben hineinbekommt und einen entsprechenden Respekt vor den Lebenden.

            Deshalb ist die Grabstätte von so großer Wichtigkeit. Denn die Nachgeborenen wissen, wo ihre Toten sind, sie können nach ihnen sehen und mit ihnen sprechen – und von hier ist der Sprung in Wirklichkeit gar nicht so weit, eine Mahlzeit auf einer Waldwanderung an der Grabstätte zu haben und mit den Verstorbenen anzustoßen. Die Nähe ist da.

            Und noch eine weitere Eigenheit. Die Grabstätte bietet jedenfalls in gewissem Umfang Schutz vor Spuk. Denn die Lebenden wissen, wo ihre Toten sind, weshalb es eine reine Heimsuchung ist, nächtlichen Besuch zu bekommen. So verlässt der Vampyr des Nachts sein Grab, um Leben aus den Lebenden zu saugen, und hinter der Vorstellung von einer jeden Form von Spuk liegt einfach nur das, was man den Unfrieden des Grabes nennen könnte, im Gegensatz zur Friedhofsruhe.

            Aber jetzt möchte ich mich der angekündigten Ketzerei zuwenden.

            In der Antike hatten die Kulturformen sehr vage Vorstellungen vom Zustand ihrer Toten – und angenehm war er jedenfalls in keiner Weise.

            Was die mittelalterliche Kirche ganz parallel zum Weltbild entwickelt, ist eine eigentliche Seelenlehre, und ich möchte meinen, dass diese Lehre in uns allen sitzt; sie sitzt jedenfalls auch in mir. Und das hat geistesgeschichtlich betrachtet sowohl etwas mit dem Weltbild zu tun als auch mit dem Gang der Geschichte.

            Denn was man seit Augustin entwickelt, von dem ich meine, dass der die eigentliche Übergangsfigur von der Antike zum Mittelalter ist, ist eine vertikale Linie, die dem Weltbild mit einem Himmel oben und einer Hölle unten entspricht. Gleichzeitig entwickelt man eine horizontale Linie, die in der Wanderung des Menschengeschlechts vom einstigen Morgen der Schöpfung und bis hin zum Leben der künftigen Welt besteht, also bis zu dem Zustand, der jenseits von Gericht und Erlösung liegt.

            Die vertikale Linie zwischen einem Oben und einem Unten besitzt meiner Meinung nach fortgesetzt großen Einfluss auf unser Bewusstsein. Und dasselbe gilt von der horizontalen Linie, denn eine jede Lehre der Entwicklung ist unweigerlich mit dem Motiv der Wanderung und mit der Bewegung der Zeit vom einen Punkt zum anderen verknüpft.

            Innerhalb dieser vertikalen und horizontalen mentalen Geometrie entwickelt sich die Seelenlehre, die einfach darauf hinausläuft, dass die Seele des Menschsen entweder zu Gott geht oder dem Teufel anheimfällt, während der Leib ins Grab steigt und die Auferstehung von den Toten entweder zu entscheidender Erlösung oder endgültiger Verdammnis abwarten muss. Es geht hier um einen nahezu klassischen Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist – und er findet sich tatsächlich in der Lehre von der Reinkarnation in ihren verschiedenen Schattierungen wieder − aber dieser Dualismus ist eindeutig verlockend, weil er realistisch erscheint und zugleich auch so manche Probleme löst, die mit der Vorstellung von einem Leben nach den Tode verbunden sind. Denn die Seele lebt nach dieser Auffassung in irgendeiner Form weiter, während der Leib, das Fleisch, das Schicksal seiner eigenen Auflösung erleiden muss – was man auf Latein ”sic transit” nennt.

            Kann das Gesagte überhaupt jemandem einen Schrecken einjagen? Es kling doch recht beruhigend und vertrauenerweckend.

            Aber wenn die Reformatoren dieser Seelenlehre so aggressiv begegneten, hat das seinen Grund in dem einfachen Sachverhalt, dass die Römische Kirche im Mittelalter eben diese Seelenlehre zu einer finanziellen Maschine zu entwickeln vermochte, die tatsächlich die Häuser der Witwen fressen konnte – um mit einem Zitat aus der Bibel zu sprechen.

            Denn wenn die Kirche entscheiden konnte, ob deine oder meine Seele Erlösung oder Verdammnis zu erwarten hatte, dann ist die Versuchung – mit Hilfe der Furcht – dem System sowohl Macht als auch Geld abzugewinnen, einfach zu groß.

            Auf diesen religiösen und politisch-wirtschaftlichen Größenwahnsinn waren die Reformatoren aus – und zwar mit Recht. Denn die Welt war mit diesem Missbrauch ins Stocken geraten.

            Den Reformatoren zufolge war das Heil – bzw. die Verdammnis − Gottes souveränes Prärogativ, und keine menschliche Organisation oder ideologischer Überbau konnte sich auf irgendeine Weise eine solche Macht über Menschen herausnehmen – geschweige denn über das Leben der Erde.

            Deshalb wurden Seelenmessen verboten, denn die Hinterbliebenen durften und sollen sich nicht in das mögliche Nachleben des Verstorbenen einmischen. Und wir Lutheraner dürfen nicht einmal für die Verstorbenen beten, denn auch das wäre ein Versuch, auf etwas einzuwirken, was außerhalb unseres Bereichs liegt.

            Man kann es sicherlich so sagen, dass der klassische Unterschied zwischen katholischer und protestantischer Theologie darin besteht, dass die Entscheidung für ein Menschenleben innerhalb des katholischen Horizonts beim Tod fällt, während dieselbe Entscheidung innerhalb eines protestantischen Horizonts irgendwann einmal fällt – in unbekannter Zukunft, wenn Gott es denn will.

            Der gute katholische Mensch lebt also nach seinem Tod bei Gott – während der gute protestantische Mensch genötigt ist, in seinem Grab auf seinen Gott zu warten.

            Dieser Unterschied zeigt sich auch auf andere Weise. In der katholischen Kirche bleibt die Autorität im Namen Gottes intakt, während die Autorität in einer protestantischen Welt auf eine unbekannte Zukunft verschoben wird. Daher waren die großen volkstümlichen Erweckungsbewegungen, die ein Kennzeichen der protestantischen Welt sind, außerordentlich erlösungsfixiert in einem solchen unsicheren zeitlichen Horizont. Das aber schafft nun wieder Energie, Fleiß und Blick nach vorwärts, denn wer möchte in diesem Leben nicht gesegnet werden auf eine Erlösung hin – anstatt auf eine mögliche Verdammnis im Nichts hin verdammt zu werden.

            Und hier tritt in Wirklichkeit derselbe Mechanismus auf, denn wir Menschen möchten gern unser eigenes Leben, das Leben anderer und der Welt hier und jetzt entscheiden. Sowieso kann niemand entscheiden, ob die Entscheidung ”jetzt” oder ”dereinst” fällt.

            Wenn ich also auch der Meinung bin, dass die Reformatoren im Prinzip Recht haben, so ist ihre Auseinandersetzung mit einem Missbrauch nicht notwendigerweise unser Problem. 

            Deshalb meine ich, der Mensch muss seinem Empfinden folgen und seinen Mitmenschen in die andere Welt schicken mit dem, was man nun einmal zu geben hat, nämlich entweder seinem Segen oder seiner Verdammung – und alles Übrige seinem Gott überlassen.

            Aber das heißt dann auch, dass die Liebe unseren Nächsten bei Gott anbringt und ihn oder sie dort in der warmen Obhut des Allmächtigen weiß – während das entgegengesetzte Gefühl nur an seiner Kälte erkennbar ist.

            So fällt die Entscheidung jetzt, aber sie fällt nicht nach den größeren oder kleineren Verdiensten des Menschen – oder nach einer kirchlichen Autorität – sondern sie fällt in Übereinstimmung mit dem Gefühl, das einem gegeben ist. Liebe ist eine reine Gnade – ganz einfach. Liebe ist Hingabe – und kein Zeugnis.

            Meine mögliche Ketzerei ist also nicht schlimmer, als dass der Beitrag, den wir unserem Mitmenschen mit auf die letzte Reise geben, unser Gefühl für ihn sein wird – und dass wir hoffen und erwarten, dass der Schöpfer und Erhalter dieser Welt seinen Teil der Absprache hält, der ja gerade die Verheißung ist, dass er sein Geschöpf liebt.

            Was sollte er sonst mit uns wollen?

Amen

                 Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


 



Pastor Claus Oldenburg
DK-1250 København K
E-Mail: col@km.dk

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