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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

vorletzter Sonntag des Kirchenjahres, 14.11.2010

Predigt zu Römer 8:18-23, verfasst von Heinz Behrends

Die Natur verharrt verängstigt

Er hätte 1915 nach seinem abgeschlossenen Studium als Lehrer in die Schule gehen können, aber er meldet sich freiwillig im englischen Heer, der 21jährige Wilfried Owen. 1917 wird er verwundet, kommt ins Lazarett und erliegt seinem Kriegstrauma. Alles kommt hoch. Tagelang schutzlos in den Schützengräben an der Westfront ausgeharrt. Artillerie, automatische Maschinengewehre, Bajonette, Menschen werden wie Vieh getötet, Senfgas, elendes Ersticken. Er hat das alles gesehen. Sie liefern ihn zu anderen kranken Kameraden in eine psychiatrische Klinik ein. Er lernt einen Dichter kennen, sein Glück. Er lernt, seine Gedanken von der Seele zu schreiben. Der große englische Komponist Benjamin Britten nimmt seine Texte auf und komponiert aus ihnen sein „War Requiem". Bei der Einweihung der Gedenkstätte von Coventry, dem Mahnmal zum 2. Weltkrieg, wird es 1962 uraufgeführt. Ich erinnere eine eindrucksvolle Aufführung des Werkes in der Marktkirche Hannover, meiner früheren Kirche. „Die ganze Schöpfung seufzst bis zu diesem Augenblick und ängstet sich." Ängstliches Harren der Kreatur.

Verängstigte Natur ist Nährboden für Gewaltbereite

Unsere Generation heute ist von keinem Krieg erfasst worden. 60 Jahre Frieden. Aber ängstliches Harren vermehrt sich wieder. Irak, Palästina, Afghanistan, Pakistan, manches Land in Afrika mit seinem verborgenen Leid. Das Ende des Ost-West-Konfliktes hat die Welt neu sortiert und völlig neue Bedrohungen geschaffen. Auch in unserem Land auf ganz eigene Weise. Auf einem Titelbild der ZEIT sieht man eine Schubkarre mit 5 Arbeitern. Der unbekannte Mann mit Sonnenbrille, Manager der Globalisierung schiebt sie aus der Szene. Sie sind verdutzt und können sich nicht wehren. Alles, was vor kurzem noch als selbstverständliche Errungenschaft galt, wird zurückgefahren. Wir haben über die Verhältnisse gelebt. Alle müssen zurückschrauben. Ja, alle? Nein, die Geldmenge ist nicht weniger geworden, sie wird nur neu verteilt. Schnurstracks sind wir auf dem Weg zu sehr arm und sehr reich. Ein Nährboden für gewaltbereite Ideologie.

Sie rückt näher. Stellen sie sich vor, der Fernseh-Unterhalter Harald Schmidt oder ein anderer Kabarettist macht einen derben Witz gegen das Kopftuch der moslemischen Frauen, am nächsten Tag wird er auf offener Straße in Köln erschossen. Vor der Flucht versucht der Täter, ihn noch zu köpfen. So war das vor Jahren mit Theo van Gogh in Holland. Der Nährboden spuckt seine Leute aus. Kirchen brannten und Moscheen in unserem liberalen Nachbarland, gleich nebenan. „Die Kreatur harrt in Ängsten."

Nein, nicht bei uns, denken Sie. Doch die US-Generäle haben den Plan noch nicht aufgegeben: Einen Angriff auf den Iran. Die fast vollendete Atombombe vernichten. Die Netze der Ölversorgung reißen. Nicht nur das Autofahren wird schwer. Die Produktion wird erheblich geschwächt werden. Und der Arbeiter wird von der Schubkarre geschubst. Die Schöpfung seufzst, sie ängstet sich. Sie ist unterworfen der Vergänglichkeit. Der bescheidene Reichtum, die Unversehrtheit, die Natur, dein behütetes Leben in Frieden, dein Rentenanspruch der Vergänglichkeit preis gegeben. Hast du das gewusst? Sind unsere Kinder auf solche Zeit vorbereitet?

Wehe, wenn der Mensch gegen den Menschen

Wehe, wenn in dieser Vergänglichkeit sich der Mensch gegen den Menschen entfesselt. Im War-Requiem singen Tenor und Bariton von Abraham und Isaak, wie sie beide unterwegs sind. Abraham, den Isaak zu opfern, Doch dann ein wundervolles Duett voller Harmonie. Ehe irgend etwas geschehen kann, rufen die Engel Abraham zu, „sieh den Widder dort, nimm ihn, bewahre deinen Sohn." Dann wird die Trommel laut, die Trompeten eindringlich, die Geigen schrill. „Aber der Alte wollt' nicht so, er bracht ihn um. Und halb Europas Samen, Mann um Mann" heißt es im Requiem. Wenn die Kräfte des Menschen entfesselt werden, bleibt das Abschlachten für die einen, das ängstliche Harren für die anderen. Der englische Komponist spitzt das Harren noch einmal zu. Das Requiem beginnt mit der Beschreibung des Leides im Schützengraben, in ungewöhnlichen Klängen der klassischen Instrumente hört man die Granaten, die Bomben, die Geschütze. Man denkt, lauter geht es nicht, aber dann das große Glockenspiel hinten rechts im Orchester und eine dröhnende Musik, der laute Chor. Dies irae, dies illa. Tag des Zorns, Tag der Zehren.

Der Dichter Wilfried Owen ist von nichts mehr besetzt als von der Frage der Verantwortung, der Schuld. „Weh, was werd ich Armer sagen, welchen Anwalt mir erfragen. Wenn Gerechte selbst verzagen." Der Komponist bricht alle bisher beruhigenden Perspektiven. „Gefallen fürs Vatersland, Tod den Feinden." Nein, es gibt nicht Freund hier und Feind dort. Der Krieg ist Feind aller. Am Ende des Requiem sind sie alle tot, alle vor Gott, und es spielt keine Rolle, wer Feind war und wer nicht. „Lasst uns schlafen nun", sagen zueinander, die sich im Felde gegenseitig umgebracht haben. Einig nun in der Bitte „Erlöse uns vom ew‘gen Tod." Ein eindrucksvolles Versöhnungswerk, das War-Requiem. Die ganze Schöpfung seufzst und ist der Vergänglichkeit unterworfen.

Ein Sehnen nach Kindschaft

Die Christen sind davon nicht ausgenommen, sagt Paulus. „Nicht allein sie, sondern auch wir seufzen in uns selbst." Wir sind von der Vergänglichkeit nicht ausgenommen. Wie könnt ihr denken, dass Ihr ohne Kreuz durchs Leben kommt, wenn Christus es auch tragen musste, sagt Karl Barth in seiner Römerbrief-Auslegung. Aber Ihr seid nicht ohne Aussicht. Im War-Requiem vereinen sich die Feinde am Ende mit Lazarus in Abrahams Schoß. Paulus hat eine andere Antwort. „Wir sehnen uns nach Kindschaft, nach unbeschwertem Kindsein, und nach Erlösung des Leibes." Denn wir sind auf Hoffnung hin geschaffen in aller Vergänglichkeit. Er zeichnet das Bild einer Waage, einer Wippe. Rechts das schwere Pfund Leid, aber die linke Seite wiegt es auf, die Herrlichkeit. So als wenn der Vater mit seinem Kind auf dem Spielplatz auf einer Wippe wiegt. Er spielt sein Gewicht aus, der Kleine auf der anderen Seite hängt in der Luft, bekommt Angst, schreit. Vater zwinkert und sagt: „Keine Angst, ich lass dich wieder runter." Und sie lachen beide. Seine Herrlichkeit wiegt mehr als das Leid.

Wie soll das gehen, wenn das Leid unerträglich ist? „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf," sagt der Apostel. Die Musikbesessenen hören hier die Mottete von Bach klingen. Wir werden frei werden von der Vergänglichkeit, Das ist unsere Hoffnung in Christus.

Kein Gedenken ohne Christus-Bezug

Hier muss ich inne halten. Wieso das alles? Vergänglich, Hoffnung. Wo berührt mich das. Ich lebe in Frieden, mir geht es gut. Die Kriege sind nicht schön, aber fern. Bei uns wurde 65 Jahre intensiv am Frieden gearbeitet, ich bin kein Fanatiker. Ich zahle meine Steuern.

Ich helfe anderen Menschen. Worauf soll ich hoffen? Ja, das stimmt.

Hoffnung wird zur Kraft, wenn es mir schlecht geht. Darum können wir uns zur Zeit das Klagen und Wehleiden auf hohem Niveau noch leisten. Aber das erste Attentat der El Quaida in unserem Land würde alles auf eine harte Probe stellen, unsere Toleranz, unsere Nachbarschaft, unser christliches Ethos. Wer jünger ist als 65 in unserem Land, hat keine Erfahrung, kein Bild von Gewalt und Krieg. Darum ist das Gedenken so wichtig. Nicht historisch nach hinten schauen, sondern das Gedenken in Beziehung ins Heute setzen.

Wir haben in unserer Kirche die Hieronymus-Kapelle wieder als Gedenkstätte hergestellt. Das alte Buch wieder ausgelegt mit den Namen der Northeimer, die im ersten Weltkrieg gestorben sind. Die Lebensgeschichte eines jeden ist dort aufgezeichnet. Gedenken wird fassbar, wenn es in Lebensgeschichten gefasst ist. Ihre Sprache ist uns manchmal fremd, lesen Sie nach, aber alles steht unter dem Bild des Christus, der auf seinem Weg zum Kreuz zusammenbricht. Ein hiesiger Maler aus der Schule von Lovis Corinth hat es darüber an die Wand gemalt. Das Gedenken muss in der Kirche alle Opfer nennen und muss einen Christusbezug haben, haben wir gesagt. Das war kein Urteil gegen die Gedenktafel, die wir unter Protest vor 8 Jahren aus unserer Kirche herausgenommen haben. Sie hat ihre eigene Geschichte und Würde. Aber mit Helm und Säbel und ohne einen Bezug zu Christus hat sie an einem anderen Gedenkort ihren Platz, nicht in der Kirche.

So mahnen uns die Namen der gefallenen Soldaten unter dem fallenden Christus auf dem Gemälde an der Wand. Und das Geschick von Wilfried Owen mahnt uns. Er wurde gesund und zog wieder in den Krieg. Am Tag, als die Eltern vom Ende des Krieges hörten, bekamen sie auch die Nachricht vom Tod ihres Sohnes. Wir brauchen diese Geschichten, ehe aus Erinnerung Geschichte wird. „Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes", so endet das Wort des Apostels über die Vergänglichkeit, „nichts, weder Hohes noch Tiefes, weder Fürstentümer noch Gewalten, von Leben noch Tod."



Superintendent Heinz Behrends
37154 Northeim
E-Mail: Heinz.Behrends@evlka.de

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