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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Buß- und Bettag, 17.11.2010

Predigt zu Römer 2:1-11, verfasst von Wolfgang Vögele

Friedensgruß

Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der du richtest. Denn worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest. Wir wissen aber, dass Gottes Urteil recht ist über die, die solches tun. Denkst du aber, o Mensch, der du die richtest, die solches tun, und tust auch dasselbe, dass du dem Urteil Gottes entrinnen wirst? Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut? Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet? Du aber mit deinem verstockten und unbußfertigen Herzen häufst dir selbst Zorn an auf den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes, der einem jeden geben wird nach seinen Werken: ewiges Leben denen, die in aller Geduld mit guten Werken trachten nach Herrlichkeit, Ehre und unvergänglichem Leben; Ungnade und Zorn aber denen, die streitsüchtig sind und der Wahrheit nicht gehorchen, gehorchen aber der Ungerechtigkeit; Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die Böses tun, zuerst der Juden und ebenso der Griechen; Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden allen denen, die Gutes tun, zuerst den Juden und ebenso den Griechen. Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott. Alle, die ohne Gesetz gesündigt haben, werden auch ohne Gesetz verloren gehen; und alle, die unter dem Gesetz gesündigt haben, werden durchs Gesetz verurteilt werden.“

 

Liebe Gemeinde,

wer richten will, der misst sich selbst oder einen anderen mit einem besonderen Maßstab. Die Richterin im Amtsgericht ist dabei an die Maßstäbe vorgegebener Gesetze gebunden: Wenn sie in ihrem Urteil zum Kaufhausdiebstahl über das hinausgeht, was das Gesetz zulässt, wird das Urteil in der Revision keinen Bestand haben. Das ist auch gut so, denn Urteile vor Gericht können für den Angeklagten von der Geldstrafe bis zum Entzug der Freiheit empfindliche Folgen haben.

O Mensch! Paulus spricht über das Gericht Gottes, und man ist geneigt, diese teils anklagenden, teils sogar kränkenden Worte abzutun und wegzuschieben. Das will man nicht so gerne wahrhaben. Aber mit dem Wegschieben würden wir uns selbst keinen Gefallen tun.

Richten, Beurteilen, Verurteilen gehören in den Alltag, in die täglichen Vollzüge jedes Menschen. Im positiven Sinn benötigt jeder Mensch Anerkennung, Respekt, gnädige Verstärkung, um sich selbstbewusst entwickeln zu können. Im negativen Sinn erleben Menschen Ausgrenzung, Verachtung, fehlende Integration. Die Opfer ungerechtfertigter Verurteilungen können darunter bis zur letzten Grenze des Selbstmords leiden.

Jeder Mensch ist darauf angewiesen zu urteilen, um sich in der sozialen Welt seiner Familie, seiner Freunde und der Gesellschaft zurechtzufinden. Er sucht Anerkennung und vermeidet Demütigung. Aber das Richten kann nicht nur auf andere, sondern auch auf einen selbst zielen. Manche Menschen messen sich selbst an Maßstäben, die völlig überzogen und übertrieben sein können. Es gibt Menschen, die verurteilen sich bis zur allerletzten Konsequenz, weil sie sich selbst nicht genügen. Sie zerfallen psychisch in zwei Menschen, in den Richter und in den Verurteilten. Und wegen dieser Spaltung kommen sie mit sich selbst nicht mehr zurecht.

So ernst und grausam das klingen mag, im Moment, in dieser von Medien geprägten Gesellschaft, erscheint das Gegenüber von Richten und Verurteilen vor allem von einer scheinbar unterhaltsamen Seite. In den Castingshows und in den Kochsendungen drängen sich Hobbysänger, Hobbytänzer und Hobbyköche danach, von den Profis beurteilt zu werden. Manche so genannte Juroren pflegen ihre Richterrollen, indem sie sich bis über die Grenze des Zynismus hinaus an der Unfähigkeit der Kandidaten weiden. Diese wiederum ertragen übelste Beschimpfungen gelegentlich mit einem Lächeln, als hätte die Lehrerin doch ein Lob ausgesprochen. Jeder weiß im Grunde genommen, dass das morgendliche Singen unter der Dusche in der Regel nicht für eine Plattenkarriere reicht. Wenn sich trotzdem ein Duschensänger in die Castingshow verirrt, dann lächeln die Juroren, lächeln und verkünden: Du kommst nicht in den Recall. Die Sänger stehen fröhlich da und ertragen jede Kritik.

Urteilen und Sich-dem-Urteil-Stellen sind zu einem Spiel verkommen, das über die Grenze der Albernheit und manchmal Geschmacklosigkeit hinausgeht. Fernsehgericht ist Entertainment geworden. Und die Rollen sind genau verteilt. Der Zuschauer findet sich in beiden wieder: in den Richter-Juroren und den verurteilten Kandidaten. Es ist ganz angenehm, sich in die Souveränität des Jurors hineinzuversetzen, der mit flotten Sprüchen zwei Zentimeter unterhalb der Gürtellinie den Elvis-Presley-Imitator niedermacht oder die versalzene Kürbissuppe der schönen blonden Hobbyköchin in den Ausguss kippt. Genauso angenehm ist es, die Freude der Kandidaten zu teilen, die eine Runde weitergekommen sind. Und es prickelt so schön, wenn die Juroren die vor Spannung zitternden Mädchen und Jungs im Ungewissen lassen, ob ihre Darbietung gefallen hat oder doch eher durchgefallen ist. Und um so besser, wenn dann noch Tränen fließen oder wenn wirklich einmal ein Supermarktverkäufer in der Lage ist, Puccinis „Nessun dorma“ im Stile von Luciano Pavarotti ins Mikrofon zu schmettern. Dann tritt neben die Tränen der Rührung die Erleichterung darüber, dass es einem einfachen Mann aus dem Volk gelungen ist, die gestrenge Jury zu überwinden. Anrührende, bewegende Geschichten.

Was macht all die Casting- und Kochshows von der „Küchenschlacht“ bis zu DSDS und GNT so attraktiv, dass die Menschen wie beim Länderspiel vor dem Bildschirm hängen und die Einschaltquoten hochtreiben? Das soziale Spiel von Anerkennung, Verurteilung, Ausgrenzung, Respekt und Würde wird in den Shows vereinfacht und ins Lächerliche gezogen. Es gewinnt immer nur einer. Jeder heult mit den Verlierern und jubelt mit den Siegern. Jeder regt sich über die ungerechten Juroren und die unfähigen Kandidaten auf. Jeder redet über die letzten sieben, fünf, drei Kandidaten, die Konfirmanden schreiben SMS, die über Dreißigjährigen telefonieren oder treffen sich auf einen Milchkaffee.

Die Unberechenbarkeit und Ungerechtigkeit der Welt spiegelt sich in vereinfachter Form in den Castingshows; dazu eine gute Dosis Ironie, ein klein wenig Häme, viele Tränen und Lachen. Aus der Distanz lässt es sich leichter reden über das Urteilen. Über den Umweg all der Kandidaten-Shows wird das Urteilen ein wenig lächerlich gemacht und erleichtert. Die Kandidaten sind Stellvertreter, auf die wir, je nachdem, unsere Begeisterung und unseren Ärger abladen können. Castingshows sind ein Ventil, über das überschüssige Gefühle zu Urteilen und Richten abgedampft werden.

Der Apostel Paulus macht es den römischen Lesern seines theologischen Briefes nicht so einfach. Auch er kann harte Urteile fällen, aber den flapsigen Zynismus des Jurors mit den goldgelb gefärbten Haaren kann man sich bei ihm nicht vorstellen. Paulus spricht über das Urteilen und Verurteiltwerden, aber ihm stehen nicht einzelne Kandidaten vor Augen, die besonders schön singen oder kochen. Er hat vielmehr den unablässigen Prozess erkannt, durch den Menschen sich in ihren sozialen Zusammenhängen zurechtfinden. Menschen sehnen sich nach Anerkennung. Dabei kann nur ein Maßstab gelten. Den Maßstab, den ich anwende, wenn ich einen anderen verurteile, den muss ich auch anwenden, wenn ich in derselben Sache über mich selbst richte. Aber gerade daran lassen es die meisten Menschen fehlen. Man geht mit sich selbst und mit der eigenen Familie gnädiger um als mit weit entfernten Menschen, mit denen man nur am Rande zu tun hat. Und an dieser Stelle erhebt Paulus energischen Einspruch. Ungleiche Maßstäbe dürfen nicht sein.

Denn hier besteht ein entscheidender Unterschied zwischen den unbedachten und oberflächlichen Urteilen und Beurteilungen, die Menschen untereinander fällen, zu den gerechten Urteilen Gottes.

Damit ist es heraus, der schreckliche Sachverhalt ist benannt. Paulus redet ganz anders von Gott, als es seine Leser und Hörer gerne hätten. Man hätte Gott ja gerne als eine freundliche, starke Macht, die in allen Momenten der Schwäche hilfreich einspringt. Gott tut dem Betenden nur Gutes und lässt den Menschen ansonsten in Muße und Arbeit in Ruhe. Gott als ein universaler Nikolaus, der mit Rauschebart die Wünsche sehnsüchtiger Kinder erfüllt. Aber so ist Gott nicht. Selbstverständlich redet auch Paulus von der Gnade und Barmherzigkeit Gottes, aber diese Rede entfaltet sich vor dem Hintergrund göttlichen Gerichts. Was will Paulus damit sagen?

Müssen die Menschen vor Gott Angst haben? Nein. Ich bin überzeugt: Zuerst einmal müssen die Menschen vor sich selbst Angst haben, weil ihr Richten und Urteilen zu solch großen Ungerechtigkeiten führt, dass viele Menschen zeit ihres Lebens darunter leiden. Sie leiden, weil sie von anderen zu Unrecht beschuldigt werden. Sie leiden, weil sie eine Strafe ertragen müssen für eine Anschuldigung, für die sie nicht verantwortlich sind. Sie leiden, weil sie sich unberechtigt als Richter aufgespielt haben. Diesen ganzen Prozess mit unterschiedlichen Rollen zu durchschauen, dafür eignen sich die Castingshows im übrigen sehr gut. Denn sie zeigen als tränen- und freudenreiche Komödie, was in der Wirklichkeit für viele Menschen tragischer Alltag ist, wenn Menschen untereinander richten und verurteilen.

Dem stellt Paulus einen gerechten Gott gegenüber. Der entscheidende Satz lautet: „Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott.“ Überall dort, wo Menschen in katholischen Gegenden in der Passionszeit Büßergewänder anziehen, achtet man sehr darauf, dass diese Gewänder sich nicht unterscheiden. Jeder soll denselben Umhang tragen, um auszudrücken: Wenn Menschen vor Gott treten, dann treten die sozialen Unterschiede der Gesellschaft vollständig in den Hintergrund. Vor Gott ist ganz anderes wichtig als vor den Menschen.

Wenn Gott richtet, dann wägt er nicht die Vor- und Nachteile ab. Wenn Gott richtet, dann will er nicht dem Angesehenen noch einen Gefallen tun, dann wird er nicht ein zweites Mal auf den draufhauen, der sowieso schon geächtet ist. Wenn Gott richtet, dann richtet er alle Menschen nach den gleichen Maßstäben und Kriterien. Und darin, liebe Schwestern und Brüder, liegt erst einmal eine Gnade. Auf eines kann man sich verlassen: Bei Gott geht es gerecht zu.

Aber wenn es gerecht zugeht, dann kann ich auf den Folgegedanken kommen: Möglicherweise wird dann das Urteil über mich selbst nicht besonders freundlich ausfallen. Ich müsste mir eingestehen, dass ich dem, was Gott von den Menschen erwartet, nicht immer genügt habe. Ich müsste mir und anderen eingestehen, dass ich Fehler begangen habe. Ich müsste mir eingestehen, dass ich genau wusste, was ich hätte anders machen können.

Paulus stellt den Römern und seinen späteren Lesern einen Gott vor, der gerecht ist. Er wird ein unbestechliches Urteil fällen. Vor Gott sind alle Menschen gleich. Es ist schwer einzusehen und nachzuvollziehen, aber es ist so: Es ist eine Gnade, dass Gott kein menschlicher Richter ist. Und nun kommt ein zweiter schwieriger Gedanke hinzu. Paulus sagt: Im Grunde kann niemand den gesetzlichen Ansprüchen, die Gott stellt, genügen. Alle Menschen sind Sünder, ganz gleich, ob sie die Gesetze, die Gott gegeben hat, kannten oder nicht. Das Gebot, den Nächsten zu lieben, oder die Zehn Gebote – im Grunde sind das ganz einfache Regeln. Aber niemand kann ihnen gerecht werden.

An dieser Stelle endet der Abschnitt des Römerbriefs, der heute, an diesem Buß- und Bettag, zu predigen war. Es war ein Abschnitt über die Gerechtigkeit von Gottes Gericht. Aber damit man ihn ganz versteht, benötigt er noch eine Ergänzung: Der gerechte Gott entlarvt die Menschen als Sünder. Er tut das ohne doppelten Boden und doppelte Maßstäbe. Aber dieser Gott hat auch kein Interesse an der Bestrafung des Sünders. Gott will die Sünde abschaffen, nicht den Sünder zu Fall bringen. Auf die Erkenntnis der wirklichen, schlechten Verhältnisse folgt auch die Begnadigung. Noch mehr: In Jesus Christus ist diese Begnadigung längst geschehen, längst Wirklichkeit geworden. Aber das steht in anderen Passagen des Römerbriefs. Heute soll es damit genug sein, das anzudeuten. Amen.



Pastor PD Dr. Wolfgang Vögele
Karlsruhe
E-Mail: Wolfgang.voegele@aktivanet.de

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