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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Advent 2010, 05.12.2010

Predigt zu Matthäus 24:1-14, verfasst von Klaus Wollenweber


Liebe Gemeinde,
in Jerusalem gibt es eine Kirche, die den seltsamen Namen trägt: „Der Herr weinte" (dominus flevit). Sie steht auf dem Abhang des Ölbergs oberhalb des Kidrontals. Die Besucherinnen und Besucher dieser Kirche können über den Altar hinweg durch ein großes Fenster auf die Altstadt von Jerusalem und auf den Tempelberg schauen.
Hier mag Jesus gestanden haben, als er über Jerusalem ausrief: „... deine Feinde werden keinen Stein auf dem anderen lassen, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du gnädig heimgesucht worden bist." Lukas berichtet, Jesus habe bei diesen Worten geweint. Darum trägt jene Kirche den Namen „Der Herr weinte".
Hier mag es auch gewesen sein, von wo aus Jesus seinen Jüngern die Zerstörung des Tempels weissagte: „Es wird hier nicht ein Stein auf dem anderen bleiben, der nicht zerbrochen werden wird."

Ich lese aus dem Evangelium nach Matthäus [Neue Genfer Übersetzung] aus dem 24. Kapitel die Verse 1-14:

Jesus verließ den Tempel und war im Begriff wegzugehen. Da traten seine Jünger zu ihm und machten ihn auf die Pracht der Tempelbauten aufmerksam. »Das alles beeindruckt euch, nicht wahr?«, sagte Jesus. »Doch ich versichere euch: Kein Stein wird hier auf dem anderen bleiben; es wird alles zerstört werden.«
Später, als Jesus auf dem Ölberg saß und mit seinen Jüngern allein war, wandten sie sich an ihn und baten: »Sag uns doch: Wann wird das geschehen, und welches Zeichen wird deine Wiederkunft und das Ende der Welt ankündigen?«
»Gebt Acht, dass euch niemand irreführt!«, erwiderte Jesus. »Denn viele werden unter meinem Namen auftreten; sie werden behaupten, sie seien der Messias, und werden viele irreführen. Ihr werdet von Kriegen hören; ihr werdet hören, dass Kriegsgefahr droht. Lasst euch dadurch nicht erschrecken. Es muss so kommen, aber das Ende ist es noch nicht. Ein Volk wird sich gegen das andere erheben und ein Reich gegen das andere. Hungersnöte und Erdbeben werden bald diese Gegend heimsuchen und bald jene. Doch das alles ist erst der Anfang, es ist wie der Beginn von Geburtswehen.
Man wird euch verraten, verfolgen und töten. Um meines Namens willen werdet ihr von allen Völkern gehasst werden. Viele werden vom Glauben abfallen; sie werden einander verraten, sie werden einander hassen. Falsche Propheten werden in großer Zahl auftreten und viele irreführen. Und weil die Gesetzlosigkeit überhand nehmen wird, wird bei den meisten die Liebe erkalten. Wer aber bis ans Ende standhaft bleibt, wird gerettet. Die Botschaft vom Reich Gottes wird in der ganzen Welt verkündet werden, damit alle Völker sie hören. Dann erst kommt das Ende.

Liebe Gemeinde, ich habe diesen biblischen Abschnitt nicht neutral und unvoreingenommen lesen und hören können. Hätten Sie nicht auch am liebsten gleich „geweint" bei den Gedanken an die heutige Situation des Lebens in der Welt?
„Ihr werdet hören von Kriegen und Kriegsgeschrei" - wer von uns denkt da nicht sofort an Afghanistan und an die Terroranschläge in verschiedenen Ländern, an den Nahostkonflikt und an Somalia? „Es wird sich ein Volk gegen das andere erheben und ein Königreich gegen das andere" - ist das nicht Realität in manchen Ländern Afrikas und Asiens? Und bei den erwähnten Hungersnöten und Erdbeben - wer von uns denkt nicht an Pakistan, an Haiti, an Südamerika und an die Vulkanausbrüche auf den indonesischen Inseln?
Ich kann diesen biblischen Abschnitt nicht lesen und nicht hören ohne solche Gedankenverbindungen. Ich kann nicht so tun, als ob ich in einer heilen, flimmernden Welt des adventlichen Lichtes lebte und alles ringsherum in Frieden und Gelassenheit vor sich ginge.

Heute begegnen mir bei den alten und neuen Sekten immer wieder vergleichbare Hinweise auf Ereignisse in unserer Zeitgeschichte: auf Kriege und Naturkatastrophen, auf technisches und menschliches Versagen, auf Bösartigkeit, Lieblosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen. Sie alle werden als Zeichen und als Beweis für den nahen Weltuntergang genommen, für das Gericht in der Endzeit. „Und wenn ihr es nicht ernstnehmt, dann seid ihr verloren, der ewigen Verdammnis verfallen!", so sprechen Vertreter dieser Sekten eindringlich und beschwörend - und das schon seit vielen Jahren!

Ich kann auch nicht von der Hand weisen, dass selbst in christlichen Gemeinden pessimistische Geschichtsspekulationen und euphorische Zukunftsentwürfe verbreitet werden. Die gegenwärtige Zeit bietet genug Stoff zur Spekulation und zu den Behauptungen vom Anbruch des angekündigten Weltendes. Auch das Zerbrechen herkömmlicher Wertesysteme und die Auflösung menschlicher Bindungen sind guter Nährboden vieler Befürchtungen, Ängste und Schreckensvorstellungen.

Ich will diese Situation schon ernst nehmen und nicht klein reden, aber ich kann nicht verschweigen, dass mir bei solchen apokalyptischen, endzeitlichen Denkweisen sehr unwohl ist; ich kann nur vor blühenden Spekulationen und verwegenen, grausigen Zukunftsausblicken warnen, auch wenn der biblische Abschnitt für den heutigen 2. Advent ähnliche Fragen und Gefühle aufzunehmen scheint.

Der Zielpunkt des Evangelienabschnittes ist wirklich nicht die Spekulation über das Ende, sondern die frohe und Mut machende Botschaft von der Veränderung, von der Hoffnung auf einen neuen Anfang: „Die Botschaft vom Reich Gottes wird in der ganzen Welt verkündet werden, damit alle Völker sie hören. Dann erst kommt das Ende" (Vers 14). Es gibt die lebendige Hoffnung, dass alle Völker die Botschaft des Friedens und der Liebe hören.

Wenn wir heute die Augen nicht nur auf negative Schlagzeilen richten, dann können wir wider alle Erfahrung und Augenschein erleben, wie Hoffnung lebendig gewagt wird. Zum Beispiel, wenn in Katastrophengebieten Menschen ihre Häuser wieder aufbauen; wenn Pläne für die nächsten Jahre geschmiedet werden; wenn die Wissenschaft und Technologie zum Wohl der Menschen neue Wege geht; wenn uns in scheinbar ausweglosen Situationen Kräfte zuwachsen, die uns über den Abgründen des Lebens zu halten imstande sind.
Da können wir miterleben, wie Eheleute mit Schuld und Enttäuschung umgehen, ohne sich gleich hasserfüllt aus dem Wege zu gehen; da bleiben Freundschaften bestehen, weil sich Menschen trotz aller Unterschiedlichkeit zu immer neuen Dialogen und Absprachen bereit finden. Da wird auch auf vielfältige Weise die vorhandene Angst vor den ausländischen Mitbürgern abgebaut, und da wird nicht zuletzt gegen den Hunger nach Brot und Gerechtigkeit in den ärmsten Ländern gekämpft.

Es geschieht tatsächlich einiges im Reich Gottes; die ermutigende Botschaft von dem Kommen Christi bestimmt an vielen Orten das alltägliche Leben von Christen. Es kann nicht so sein, dass wir die negativen Realitäten zum Maßstab für unser christliches Denken machen. Der Advent Christi mutet uns die spannende und aufregende Phantasie zu, dass Christus selbst auf Sie und mich wartet und zukommt, damit Sie und ich seine Werke des Friedens und der Menschenliebe fortsetzen. Wir starren doch nicht gebannt auf das Weltende, sondern wir rechnen mit verändernden Neuanfängen, vertrauen auf Vergebung unserer Fehler, auf die Verwandlung unserer Ängste in Hoffnungsperspektiven. Dabei schieben wir unsere Fehlschläge im alltäglichen Zusammenleben nicht beiseite und verdrängen sie auch nicht. Wir bekommen im Advent Christi Mut dazu, uns zum Wagnis und zum Scheitern auf unserem Lebensweg zu bekennen.

Es ist entscheidend, dass wir nicht sinnlos auf das Ende der Welt zulaufen, sondern dass wir den Glaubensmut und die Zivilcourage aufbringen, ein wenig am Sekundenzeiger der Weltenuhr zu rütteln. Wir werden diese mit unserem Tun und Denken nicht anhalten können, auch den Lauf technischer Entwicklungen nicht rückgängig machen. Aber wir können mit unseren Gaben und Fähigkeiten in dem jeweils begrenzten Lebensraum dazu beitragen, dass unsere Erde für alle Menschen und Völker bewohnbar bleibt, dass der Mensch nicht länger des Menschen ärgster Feind ist, dass das wärmende Licht der Adventskerze in die kalte Finsternis von den Menschen getragen wird, die nicht mehr weiter wissen und von Angst beherrscht werden.

Lothar Zenetti beschreibt diese Lebenssituation von Christen einmal so:

Was keiner wagt, das sollt ihr wagen;
was keiner sagt, das sagt heraus;
was keiner denkt, das wagt zu denken;
was keiner anfängt, das führt aus.

Wenn keiner ja sagt, sollt ihr's sagen;
wenn keiner nein sagt, sagt doch nein;
wenn alle zweifeln, wagt zu glauben;
wenn alle mittun, steht allein!

Wo alle loben, habt Bedenken;
wo alle spotten, spottet nicht;
wo alle geizen, wagt zu schenken;
wo alles dunkel ist, macht Licht!


Liebe Gemeinde, wo wir in diesem Sinne Advent Christi leben, sind wir auch zugleich den Mächten der Finsternis nahe und nicht weit entfernt vom Kreuz Christi. Wo wir als Christen unseren Alltag gestalten, da treten die Feinde deutlicher aus dem Dunkel hervor. Und wo wir unsere Zeit damit füllen, den Tempel unseres Erfolgs und unserer Karriere auszubauen, da gilt die Verheißung, dass kein Stein auf dem anderen bleiben wird; denn dieser Tempel wird vergehen.

Wo hingegen das Licht des Advents leuchtet, da werden die Konturen der Umgebung schärfer und deutlicher. Und wenn uns bei der Spannung, in der wir leben, einmal der Geduldsfaden reißt, dann wünsche ich uns allen, dass uns die Erinnerung an einen Satz aus dem heutigen Predigtabschnitt hilft: „Wer aber bis ans Ende standhaft bleibt, der wird gerettet."

Denn wir wissen nicht, w a s kommt, aber wir wissen, w e r kommt. Deshalb steht am Ende unseres Lebens und unserer Welt nicht der finstere Abgrund, sondern die befreiende, helle Begegnung mit dem Vater Jesu Christi. Aus der Zukunft kommt das Licht Gottes auf uns zu, sodass wir Christen ein Widerschein dieses Lichtes Gottes sind.

Der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserm Herrn.
Amen



Altbischof Klaus Wollenweber
Bonn
E-Mail: Klaus.Wollenweber@kkvsol.net

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