Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Advent 2010, 05.12.2010

Predigt zu Matthäus 24:1-14, verfasst von Esko Ryökäs

Liebe Gemeinde,

Jutta war empört. Das kann doch nicht wahr sein! Vor der Vorlesung hatte sie ihr altes Fahrrad hier abgestellt. Auch früher hatte sie das Rad nie abgeschlossen. In drei Jahren ist es immer dort stehen geblieben. Warum hatte es irgendjemand jetzt mitgenommen, gerade heute, wo sie ihre Weihnachtsgeschenke einkaufen wollte?

Aber das Fahrrad ist weg. Hatte es jemand vielleicht nur beiseite gestellt, neben den Eingang zur Mensa vielleicht? Leider nicht. Gestohlen, geklaut. Einfach weg. Jutta war voller Ärger. Zuhause, im Harz, da wäre das nicht vorgekommen. Dort ist man noch ehrlich. Wenn ihr Vater bei den Kühen oder in der Scheune arbeitet, verschließt er die Haustür nie. Und immer ist alles ganz ruhig und in Ordnung.

Ja, der Vater hat sie gewarnt. Auf dem Lande, oben im Harz, ist das Leben noch etwas anderes als hier, in Göttingen, in der Stadt. Ich hätte daran denken müssen, dachte Jutta und machte sich zu Fuß auf den Weg in Richtung Innenstadt.

Es war schon Abend, und alles war nass. Wie üblich hatte sich die Kälte wieder verzogen. Der Schnee war geschmolzen. Graues Vorweihnachtswetter, voller Nebel. Ach, wäre der erste Schnee doch noch etwas liegen geblieben, dann wäre es wenigstens ein bisschen heller, klagt Jutta bei sich. Aber das ist sicher dieser Klimawandel, der den Schnee immer schneller zum Schmelzen bringt. Bei der Universitätsbibliothek gab es noch ein wenig Eis, nicht viel, doch so viel, dass es glatt war. Jutta war gezwungen, sehr vorsichtig weiterzugehen.

Göttinger Sieben. „Platz der Göttinger Sieben“, so heißt dieser Campus. Zu Fuß kommt er ihr viel größer vor als sonst. Die Sieben – auch sie waren aufgebracht. Das hatte Jutta eben in der Vorlesung gehört. Die Universität war frei gewesen, als König Ernst August von Hannover 1837 die Verfassung aufhob, das Staatsgrundgesetz außer Kraft setzte, da es ohne seine Zustimmung zustande gekommen war. Als die sieben Universitäts-Professoren gegen den Verlust der Freiheit protestierten, lag die Macht beim König. Die Sieben wurden entlassen. Es ist nicht klug, sich gegen einen mächtigen König aufzulehnen. Die Sieben waren empört. Jetzt ist es Jutta, zwar nicht mehr so heftig wie vorhin, aber doch immer noch.

An der Kreuzung von Weender Landstraße und Nikolausberger Weg gab es einen Unfall. Die Polizei war schon da. Es gab viel Geschrei. Zwei größere PKW waren aneinander geraten, ihre Fahrer auch, und das war nicht schön zu hören. So geht es immer in der Weihnachtszeit, dachte Jutta im Vorbeigehen. Immer mehr Eile. Eile, um Frieden zu finden. Man will immer mehr. Man redet zwar von Alternativen, tut das schon seit Jahren, aber das Leben läuft weiter wie gehabt. Immer mehr und noch mehr – für mich, nicht für die anderen. Zu Fuß kommt sie nur langsam voran.

Und dazu jetzt auch noch Terroristengefahr. Was soll ich denn dazu meinen, so sinniert Jutta weiter. Es wurde berichtet, die wichtigsten Gebäude in Berlin wie der Reichstag seien bedroht. Sicherheit? Kann es die noch geben? Könnte man irgendwo – einfach in Ruhe leben? Ich kann ja nicht zurück in den Harz gehen, nach dem Examen. Dort finde ich bestimmt keinen Arbeitsplatz. Es sieht düster aus.

Das alte Warenhaus an der Kreuzung zur Jüdenstraße ist grau. Früher war es ein großes Einkaufszentrum, inzwischen sind seine besten Zeiten vorbei. Traurig, stellt Jutta fest. Mancher ist arbeitslos geworden, hier und in anderen Geschäften. Das Leben ist nicht leicht. Immer mehr arbeiten, immer mehr leisten, immer produktiver sein! Jutta beginnt sogleich ein wenig schneller zu gehen, um das renovierte Karstadt-Haus rascher zu erreichen.

Bei diesem Wetter, ohne Fahrrad, auf der vollen Wender Straße will sich weihnachtliche Stimmung nicht so recht einstellen. Und doch möchte Jutta etwas für ihren Vater kaufen. Was könnte das sein? Was würde ihn freuen? Ein neuer Rasierer vielleicht? Eine besondere Taschenlampe, ja, warum nicht? Oder ein Notfallsignal? Das wäre sicher schon zu teuer.

“Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft...” Woher kommt denn das nun? Jutta schaut sich um. Bei der St.-Jakobi-Kirche bleibt sie stehen. Die Kirche ist halb dunkel. Die Stimmen dringen durch die Fenster nach draußen, das muss der Chor sein. Probe für Weihnachten. Ach, Anno dazumal, da war das ganz anders, denkt Jutta im Weitergehen. Alles muss viel einfacher gewesen sein. Keine Autos, keine Eile, kein Glatteis. Ja, und auch kein Fahrrad. Und da war Jutta dann doch wieder bedrückt. Sie hatte es schon fast vergessen. Ihr Rad ist weg, und sie ist von nun an zu Fuß unterwegs.

An der Ecke zur Barfüßerstraße stehen einige Leute vom Roten Kreuz. Sie sammeln noch immer Geld für die Opfer des Erdbebens in Haiti. Die Cholera ist ausgebrochen, einige Hundert Haitianer, die Ärmsten der Armen, sind an ihr gestorben. Den einen oder anderen Euro hatte Jutta ja immer wieder einmal gegeben. Dieses Mal will sie nicht. Nur Tempo zu und vorbei. Und der Euro ist auch wieder schwächer geworden, nach diesen Krisen in Griechenland und in Irland. Müsste man deshalb nicht eigentlich mehr geben, überlegt Jutta kurz. Aber nein, keine Zeit.

Beim Gänseliesl schwenkt sie nach rechts, um zu Karstadt zu kommen. Doch um das Rathaus herum herrscht Trubel. Eine gewisse Weihnachtstimmung, und daneben verschiedene Aktivisten, die den Menschen ihre Anliegen hautnah präsentieren wollen. Na ja, manches ist gar nicht so schlecht, geht es Jutta durch den Kopf. Aber für mich ist das nichts. Es gibt so viele Messiasse, die die Welt erlösen wollen. Ich muss einkaufen gehen, Vater wartet. Geschickt an Leuten und Ständen vorbei, hat sie das Kaufhaus bald erreicht.

Nun gibt es Ruhe, schöne Stimmung mit ganz leisen weihnachtlichen Melodien, aber immer wieder wird’s eng. Viel zu viele Leute. Und es wird heiß. In der Eile und im Gedränge beginnt man zu schwitzen. Jutta wusste das, und sie merkt es auch. Die Luft im Erdgeschoss ist voll von Düften, nicht nur von Parfums. Schnell weiter. Ich muss hier raus. Frische Luft. Immer drängender schiebt sich Jutta durch die Menschen, und dann steht sie auch schon beim Ausgang an der Groner Straße vor dem Geschäft. Sie hält einen Moment inne. Auf dem Boden neben ihr sitzt eine Bettlerin aus Rumänien.

Und wohin nun? Das Kaufhaus war voll, Jutta ist müde, und ein Geschenk für den Vater hat sie immer noch nicht. Um sich wenigstens einmal kurz hinzusetzen, geht sie weiter in Richtung Süden. Wo bin ich denn eigentlich jetzt? War ich hier überhaupt schon mal? Ach ja, fällt es ihr ein, hier war ich doch neulich am Sonntag. Universitäts-Gottesdienst. Die Nikolai-Kirche muss hier irgendwo in der Nähe sein – Düstere Straße. Durch sie kann ich sie erreichen. In der Kirche kann ich mich setzen! Die Gasse ist wirklich düster, und so war es auch Jutta zumute. Die graue Kirche steht da, aber sie ist in dunkles Grau gehüllt. Kein Licht. Zur Weihnachtszeit sollten die Kirchen hell erleuchtet sein, ärgert sich Jutta. Aber kein Licht, nirgendwo. Nur eine kleine Zeichnung von irgendeinem Kind, angebracht am Fenster im Erdgeschoss irgendeines Hauses an der Seite.

Dort bleibt Jutta stehen. Die Zeichnung: ein Bild der Heiligen Drei Könige. Könige, die nicht wie Ernst August waren, der die Freiheit als gefährlich empfand. Diese Könige wollten den Erlöser finden. Sie sahen einen Stern und folgten ihm auf einem weiten Weg. Denn Licht sollte werden. Er würde kommen, um Unterdrückung, Angst, Grauen und Bedrohung zu bezwingen. Ein Licht leitete sie nach Bethlehem, zum Messias, zur Hoffnung der Welt.

Und da, bei der dunklen Kirche, wusste Jutta mit einemmal, was sie ihrem Vater schenken wollte. Sie schwenkte um. Fast lief sie zum Warenhaus zurück. Ein paar Euros gab sie der Bettlerin. Sie brauchte nicht mehr so viel Geld. Sie wollte jetzt bloß eine Form für ein Weihnachtsgebäck finden, aber nicht irgendeine. Sie wollte einen großen Stern aus Lebkuchenteig backen. Der Stern spricht von der Hoffnung. Das Licht der Welt wird kommen. Dunkel und Grau sind nicht alles. Auch im nassen Göttingen, auch im dunklen Harz und auch anderswo sonst kann man einem Stern, zumindest einem Sternchen, folgen. Es ist Adventzeit, die Zeit der Erwartung – auf das Licht, das kommt. Hoffnung wird sich erfüllen. Es wird Weihnachten werden.

Amen.

Gastprofessor in Göttingen 2000

 



Prof. Dr. Esko Ryökäs
Joensuu, Finnland
E-Mail: esko.ryokas@uef.fi

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