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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Advent, 19.12.2010

Predigt zu Lukas 1:26-38, verfasst von Angelika Reichert


Liebe Gemeinde,

der Predigttext steht im Lukasevangelium, Kapitel 1, Vers 26-38:

Im sechsten Monat aber wurde der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt Galiläas namens Nazareth zu einer Jungfrau, verlobt mit einem Mann namens Joseph aus dem Haus Davids. Und der Name der Jungfrau war Maria.
Und der Engel ging hinein zu ihr und sagte: „Sei gegrüßt, Begnadete, der Herr mit dir!“ Sie aber wurde unruhig über dem Wort und überlegte, was dies für ein Gruß sei. Und der Engel sagte zu ihr: „Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade gefunden bei Gott. Und siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären und du wirst ihm den Namen Jesus geben. Dieser wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden, und Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und herrschen wird er über das Haus Jakobs in Ewigkeit, und seine Herrschaft wird kein Ende haben.“
Maria aber sagte zu dem Engel: „Wie wird dies sein, da ich mit keinem Mann schlafe?“ Und der Engel antwortete und sprach zu ihr: „Heiliger Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Daher wird das gezeugte Kind heilig genannt werden, Sohn Gottes. Und siehe, Elisabeth, deine Verwandte, auch sie wurde mit einem Sohn schwanger in ihrem Alter, und dies ist der sechste Monat für sie, die unfruchtbar genannt wird. Denn von Gott aus ist nichts unmöglich.“
Maria aber sagte: „Siehe, die Magd des Herrn! Mir geschehe nach deinem Wort!“ Und der Engel ging weg von ihr.

I.

Liebe Gemeinde, in dieser Geschichte geht es nicht nur, aber auch um eine Geburt ohne leiblichen Vater. Vorstellen kann man sich das beim besten Willen nicht. Nicht mal Maria kann sich vorstellen, wie das zugehen soll. Und schlimmer: Dem Engel fällt auch keine vernünftige Erklärung ein. Er verweist auf ein anderes seltsames Geschehen, auf die Schwangerschaft einer Verwandten, die schon jenseits der Wechseljahre ist. Das macht die vaterlose Geburt nun wirklich nicht begreiflicher.

Aber wie wär’s, wenn wir uns das Erzählte gar nicht im Einzelnen vorstellen sollen, wenn wir uns einfach nur in die handelnden Personen hinein versetzen sollen? − Ich fürchte, so kommen wir auch nicht weiter: Maria und der Engel Gabriel sind die beiden einzigen handelnden Personen in der Geschichte. Der Engel Gabriel, direkt aus dem Himmel geflogen in Marias Wohnzimmer, eignet sich ohnehin nicht zum Einfühlen. Und bei Maria, einem Mädchen, das den Sohn Gottes gebären soll, dürften sogar Konfirmandinnen Schwierigkeiten haben, obwohl sie genau das passende Alter, eben das damalige Verlobungsalter von ca. 12-14 Jahren, haben. Nein, als Objekte für unser einfühlendes Verstehen eignen sich diese beiden Personen nicht. In dieser Geschichte bietet uns der Erzähler Lukas keinen Platz an. Ich behaupte mal: Dies ist ganz einfach nicht unsere Geschichte.

Lassen wir also Maria und den Engel einen Moment lang allein. Wechseln wir zu einer anderen Geschichte, in der auch eine Geburt ohne natürlichen Vater vorkommt. Ich meine die Geschichte eines Films, der vor einigen Jahren in den Kinos lief und auch mehrfach im Fernsehen gesendet wurde. Der Film mit Franka Potente als Hauptdarstellerin heißt „Blueprint – Blaupause“. Ein Blueprint, eine Blaupause, ist eine Kopie ohne Negativ. Die Filmgeschichte geht in etwa so:
Hauptfigur ist die Komponistin und Pianistin Iris: circa dreißig, alleinstehend, schön, erfolgreich, hochbegabt, überaus selbstbeherrscht und diszipliniert. Bei ersten Anzeichen einer unheilbaren Krankheit beschließt Iris, sich klonen zu lassen, damit sie und ihr Talent nicht aus der Welt schwinden. Durchgeführt wird die Klonzeugung von dem Wissenschaftler Prof. Mortimer G. Fisher. (G. steht für Gabriel). Seine Devise: Was gedacht werden kann, muss auch getan werden.
Nach normaler Schwangerschaft kommt der Blueprint, Iris’ Kopie, ihr Überlebensplan, zur Welt, das Mädchen Siri. Siri – Iris – Blaupause. Als Kopie ihrer Mutter lebt Siri ein vorgegebenes, vorgelebtes Leben, aus dem sie nicht fliehen kann. Als Original und doch nur älterer Zwilling zur Tochter sieht Iris, wie ihre Kopie mit ganzer Kraft gegen sie anwächst. Beide können sich nicht wirklich voneinander unterscheiden und auch nicht aufeinander zugehen. Wer ich ist und wer du, kann keine von beiden sagen. Als Sklavin der je anderen richten sich beide psychisch zugrunde. Als Iris – man möchte fast sagen: endlich – dann auch physisch stirbt, findet Siri einen Brief von ihr mit Worten Georg Christoph Lichtenbergs: „Lieber Gott, mach aus mir, was du willst,... aber bitte, mach mich nicht noch einmal!“

II.

Das ist nun schon eher unsere Geschichte. Diese Geburt ohne natürlichen Vater können wir uns vorstellen. Wer die nötigen naturwissenschaftlichen Kenntnisse hat, könnte sie sogar erklären. Vielleicht ist eine menschliche Klongeburt schon gemacht worden, wer weiß. Und wenn nicht, dann ist so etwas doch mindestens für die Zukunft denkbar. Menschliche Klonierung würde eine Entwicklung weiterführen, die schon vor gut 50 Jahren zu Kopien von Pflanzen, Zellen und Mikroorganismen führte. Ob wir uns darüber empören oder nicht, diese Art von Geburt liegt ganz auf der Linie dessen, was schon geschehen ist; die Anknüpfung wäre bruchlos. Die Zeit ist reif dafür, wie man so sagt.

Zurück zur Lukanischen Geschichte mit dem Engel, Maria und dem angekündigten Gottessohn! Vielleicht ist diese Geschichte für uns auch deshalb so schwierig, weil die Geburt Jesu eben nicht an Gegebenheiten, an menschliche Geschichte anknüpft? Weil die Zeit dafür nicht reif war und nicht reif ist? Weil Jesus nicht nur scheinbar, sondern wirklich unverständlicherweise zur Welt kam? Weil seine Geburt nicht den Zielpunkt irgendeiner Entwicklung darstellt, sondern im Gegenteil – Unterbrechung?

Unterbrechung stört, bringt Vorhandenes und Pläne durcheinander – und löst darum Widerstand aus. Der schlaueste Umgang mit Unterbrechung liegt immer noch darin, sie in die Gegebenheiten einzuordnen, den Unterbrecher irgendwie einzubeziehen. So nämlich verpufft die Unterbrechung gewissermaßen von selbst.

Wir haben längst unsere Maßnahmen entwickelt, um uns durch die Geburt des unterbrechenden Gottessohns Jesus nicht allzu sehr stören zu lassen. Weihnachten, das Fest dieser höchst sonderbaren Geburt, hat seinen Platz in unserem Jahresrhythmus. Die meisten von uns feiern Weihnachten bewusst: mit Geschenken, um Freude handfest weiterzugeben, oder ohne Geschenke, weil die Schenkverabredung auch nervig werden kann. Eher ruhig und besinnlich, weil wir eine Auszeit brauchen, oder durchorganisiert, um möglichst viel unterzubringen von dem, was sonst oft zu kurz kommt: Gottesdienst, Bescherung, Essen, Turmblasen, Freunde treffen. Unsere Art der Feier (nicht nur der Gottesdienst) kann durchaus mit Jesus, mit dem Sinn von Weihnachten, zu tun haben. Nur: Nehmen wir unsere Art der „Weihnachtsgestaltung“ vielleicht etwas wichtig, so dass der Gottessohn zwar in vorgesehener Rolle einbezogen und berücksichtigt wird, aber keinesfalls selbst als Gestalter vorkommen darf? Man weiß ja wirklich nicht genau, was herauskommt, wenn wir die Regie abgeben.

Die Eingliederungsmaßnahmen am unterbrechenden Gottessohn Jesus sind nicht auf Weihnachten beschränkt. Vor allem kleinen Kindern gegenüber bemüht man sich, Jesus möglichst plausibel, beinahe selbstverständlich zu machen: Jesus, besonders freundlich zu sozialen Außenseitern, besonders phantasievoll im Umgang mit Gewalt, besonders gut im Erzählen tiefsinniger Geschichten, aber insgesamt eben doch: ein Mensch wie du und ich. Den angesprochenen Kindern leuchtet das glücklicherweise nicht immer ein. „Wenn Jesus ein Mensch war wie du und ich, warum dann das ganze Theater um ihn?“ – so eine nicht erfundene kindliche Reaktion.

III.

Was ist aber, liebe Gemeinde, wenn sich der Gottessohn Jesus nicht in unsere sinnvollen Weihnachtsfeiern einordnen lassen will, wenn er nicht als Vorbildgestalt für unsere Zeit plausibel gemacht werden will? Darüber lässt der Engel Gabriel ja keinen Zweifel: Von Gott her ist der Sohn, den Maria bekommen soll, anders gemeint. Er ist vor allem gemeint als der, der Regie führen soll. „Herrschen“ sagt der Engel, herrschen, und das für immer. Diese Worte kann der Engel nicht geflüstert haben. Schluss ist es mit der Beschaulichkeit in Marias Wohnzimmer. Der Engel zieht alle Register lauter, fast unangenehm deutlicher Herrschaftssprache. Warum eigentlich? Ließe sich denn nicht auch anders vom angekündigten Gottessohn Jesus reden, irgendwie freundlicher, uns entgegenkommender, ein bisschen − tröstlicher?

Weichen wir jetzt ruhig noch einmal aus zu unserer Geschichte, der Filmgeschichte. Der Blueprint, die Kopie Siri, ist Iris’ Überlebensplan, ihre Selbstverlängerung. Nein, das darf nicht alles aus der Welt schwinden, die Intelligenz, die Disziplin, die musikalische Hochbegabung, alles das, was Iris ausmacht. Das ist verständlich, auch für uns, die vielleicht weniger oder anders Intelligenten, Disziplinierten, Begabten. Auch wenn wir der Film-Iris nicht ähneln, den dringenden Wunsch, die Dinge und vor allem uns selbst im Griff zu behalten, das eigene Leben in eigener Regie zu führen, bei Bedarf (und wann wäre kein Bedarf?) mit Überlebensplänen und Selbstverlängerungsstrategien zu reagieren − wer hätte diesen Wunsch nicht?

Nur fallen unsere Selbstverlängerungsstrategien in der Regel nicht so spektakulär aus wie das Klonierungsprojekt der Iris. Da ist der Zwölftklässler, der schon zwei Jahre vorm Abitur sich den Schnitt errechnet, den er für seinen Traumstudienplatz braucht, und seine Lebensweise mit allen Konsequenzen darauf abstimmt. Oder die Studentin, die nach reiflicher Abwägung drei Kinder für sich beschlossen hat, nun schon mit 25 die biologische Uhr ticken hört und allmählich gar nichts mehr geregelt kriegt. Die Eltern, die für die spätere Karriere ihres Kindergartensprösslings kein heiteres Lernspiel auslassen, und extrem enttäuscht sind, dass nicht jeder die Genialität des Kindes auf Anhieb erkennt. Der Wissenschaftler, der seinen Ruhestand auf ein 6-bändiges Werk verwendet hat, und nun bemerkt, dass keiner drauf gewartet hat. − Und Selbstverlängerung kann man natürlich auch kollektiv betreiben, etwa in Institutionen wie Kirche, Schule oder Universität. Zum Ergebnis kann man dann „Neustrukturierung“ sagen, oder, wenn man’s lieber hoffnungsfroh ausdrückt, „Zukunftsgestaltung“.

Die Beispiele sind nicht erfunden, aber etwas platt. Die fiktive Filmgeschichte zeigt viel klarer, wie es ist, wenn unsere Selbstverlängerung gegen uns anwächst und so in beides, in Fremd- und Selbstversklavung, verwickelt.

An einer Stelle unserer Film-Geschichte besucht die kranke Iris die entflohene Tochter, um sie zurückzuholen. Verzweifelt bettelt sie ihre eigene Kopie, ihre eigene Selbstverlängerung, an: „Verlass mich nicht. Ich habe ja nur dich.“ Darauf Siri: „Komisch, ich habe auch nur mich! Warum sollte ich bei dir bleiben? Ich will ja nicht mal bei mir bleiben!“ Ein Ende der Selbst- und Fremdversklavung ist nicht in Sicht. Zwar umgibt der Schluss des Films, nach dem Tod der Iris, die Siri mit einem Hoffnungsschimmer. Ganz einsichtig wird das nicht. Aber andererseits, ein Film braucht nun mal einen Schluss, und außerdem: Es wäre sonst wirklich gar zu traurig.

IV.

Es wäre sonst wirklich gar zu traurig. Musste vielleicht deshalb der Engel in der anderen, der Lukas-Geschichte so laut und so deutlich werden? Er, der zur Unterbrechung in die Welt gekommene Gottessohn, „wird herrschen ... und seine Herrschaft wird kein Ende haben“. Ja, von Gott her ist wirklich Schluss mit menschlicher Selbstverlängerung, mit Fremd- und Selbstversklavung! Er will uns die Herrschaft abnehmen, weil sie uns nicht bekommt. Weil wir es besser haben sollen unter der Herrschaft des Gottessohnes. Besser als unter dem Druck unserer Strategien, mit denen wir uns immer neu erfinden, verlängern und wahnsinnig machen.

Besser sollen wir es haben, und zwar für immer. Auch dann, wenn alles, was uns auszumachen scheint, aus der Welt schwindet, unsere Intelligenz, Begabung, Spontaneität, Kreativität, Hilfsbereitschaft. Tröstlicher konnte der Engel wirklich nicht reden, denn in der Ansage dieses Herrschers, der uns aus unserer Selbstherrschaft erlösen will, besteht tatsächlich der einzige, der entscheidende Trost.

Maria in unserer Geschichte hat das offensichtlich begriffen. Sie sagt ganz kurz, noch ein bisschen verwundert, was mit ihr los ist: „Siehe, die Magd des Herrn!“ Damit meint sie sich selbst. Dann stellt sie sich ein auf das, was mit ihr los ist, und auf den, der sie ausmacht: „Mir geschehe nach deinem Wort!“

Jetzt geht der Engel von Maria weg, und die Geschichte ist aus. Oder auch nicht, denn die nächste Geschichte, die schon eben in der Lesung vorkam, gehört eigentlich unbedingt dazu. Maria geht auch weg aus ihrem Wohnzimmer. Sehr eilig geht sie in die Stadt. Da sagt sie nun erst recht, was los ist mit ihr – und nicht nur mit ihr, sondern mit aller Welt. Dabei nimmt sie den Mund sehr voll. Sie verwechselt sogar das, was noch kommen soll, mit dem, was schon geschehen ist, und die Herrschaftssprache hat sie nicht vergessen:
„Großes hat mir der Mächtige getan, und heilig sein Name, und sein Erbarmen von Geschlecht zu Geschlecht für die, die ihn fürchten. Macht hat er ausgeübt mit seinem Arm, zerstreut die Wahnsinns-Hochmütigen, Gewaltige vom Thron gestoßen und Niedrige erhöht.“

Diese „Magd des Herrn“ hat’s gemerkt: Wenn Gott zur Welt kommt, dann geht es um Machtfragen, um Herrschaft über die Einzelnen, die wahnsinnigen Selbstverlängerer, die Gott zu ihrem Glück und ihrem Heil nicht sich selbst überlassen will. Aber dabei soll es nicht bleiben: Auch unsere kollektiven Bastelwerke, Institutionen, soziale, politische Strukturen, werden dem Angriff seiner Barmherzigkeit nicht Stand halten können.

V.

Liebe Gemeinde, können wir die Geschichte mit Maria, dem Engel und dem angekündigten Gottessohn jetzt eigentlich verstehen? – Ich glaube, nicht wirklich, weil sie die andere, nicht unsere, sondern Gottes Geschichte bleibt. Die Herrschaft des Gottessohnes lässt sich nicht beweisen und nicht evaluieren. Aber man kann sehr tröstliche Erfahrungen machen mit dieser fremden Regie, die unsere selbstinszenierten Filme dann und wann zum Reißen bringt.
Gott sei Dank.
Amen.

 



Prof. Dr. Angelika Reichert
Gütersloh
E-Mail: Kontakt@LOGOS-Reichert.de

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