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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Heiligabend, 24.12.2010

Predigt zu Lukas 2:1-20, verfasst von Henriette Pedersen

Liebe Gemeinde,

‚wir gehen herum’ und versuchen, Antwort zu finden. Die Antwort darauf, warum wir eigentlich hier sind! Antwort darauf, was wir jedenfalls brauchen – sei es in den Ferien, sei es im Alltag, wenn die Nacht schlaflos vergeht oder der Tag endlos ist. Oft suchen wir Antwort darauf, was es heißt zu lieben. Und in stillen und vielleicht existenziell schweren Momenten kommt uns die Frage an, dass wir sterben müssen. Die wichtigen Lebensfragen melden sich in uns allen – unabhängig von Rang und Alter – mit unterschiedlicher Macht, doch lebenslang.

Damit fragen wir im Grunde nach etwas – einerseits ganz Banalen, andererseits freilich ungeheuer Großen und Anspruchsvollen: Was soll das alles? Wozu bin ich auf der Welt? Was ist der Sinn meines Lebens? Meiner Freuden und meines Kummers? Meines eigenen Leidens und des der anderen Menschen?

Und während wir in Wald und Flur umherstreifen oder uns bloß an den Wänden entlang tasten, uns an einem verregneten Vormittag in die Stadt wagen, erhobenen Hauptes mit unserer Freundin oder unserem Freund einherspazieren, mit dem Kind, oder mit dem Hund an der Leine, oder während wir dastehen wie die Hirten auf dem Felde des Herrn, da öffnet sich der Himmel genau wie damals in der Heiligen Nacht, als die Schar der Engel überwältigend majestätisch und zugleich wahrer Segen in die Trompeten trötete.

Die Weihnacht ist sternenklar, und voller Staunen müssen wir zusammen mit ihnen, also den Hirten, den Kopf in den Nacken legen und einfach nur den Blick auf das Wunderbare heften: das Drama – das himmlische Drama –, das sich unmittelbar vor unseren Augen abspielt. Und wir alle, ob klein oder groß, kräftig oder schlank, ob wir Hirten sind, im Ruhestand, in den Weihnachtsferien, auf Drogen oder in der Entziehungskur, auf dem Weg der Genesung, in der Reha, geduldet oder ausgegrenzt, ob wir nur wir selbst sind oder auch noch ganz anders, reich oder arm im Geiste oder in der Tat, ob wir Ökos sind oder die ganz gewöhnliche Kuhmilch in den Kaffee tun, ob wir völlig außer uns sind vor Freude oder Zorn oder bloß mürrisch und verbittert und zurückgezogen in uns selber, verrückt oder ganz besonders normal, die meisten vielleicht irgendwo in der Mitte – so stehen wir da und können uns so oder so dem Gedanken nicht entziehen: Was im Himmel geht hier vor?

Und während wir nachdenken und dastehen wie dumme Schafe, da landet der Bote unseres Herrn mitten unter uns – und plötzlich ist es ganz gleich, ob du genau in der Mitte stehst oder am Rande, ganz vorn oder ganz hinten. Denn der Engel landet wirklich mitten unter uns, mit allem Wissen und Verstand des Himmels, und sagt schlicht und einfach: FÜRCHTET EUCH NICHT!

Und wir warten und warten und warten auf weitere Worte, die uns den Zusammenhang von allem erklären sollen! Wir hängen an den Lippen des Engels, weil wir glauben, dass wir JETZT – ein für allemal – in das Mysterium des Lebens eingeweiht werden sollen, – in so etwas wie einem geistigen Aufwärtsstreben, das uns belehrt über das Rätsel Gottes, des gesamten Universums und nicht zuletzt des Menschengeschlechts. Wir hoffen und wähnen, auf diesem Wege eine Bestätigung dafür zu finden, dass es da einen größeren Zusammenhang gibt: Einen Sinn in der Krankheit. Einen Sinn in Tod und Zerstörung. Einen Sinn im Leiden. Einen Sinn in den Unglücken und Zufällen. Ja, einen Sinn in ALLEM, von dem wir annehmen, wir könnten besser damit fertig werden, wenn es denn Teil eines „großen übergeordneten Plans“, eines MASTERPLANS, wäre!

Und während wir warten, erstellen wir Angst-Szenarien mit Leib und Seele. Da ist so vieles, was wir fürchten: Den heutigen Tag. Die Weihnachtszeit. Die Finsternis. Das kommende Jahr. Uns selbst und einander. Und dann sind da auch die großen, kollektiven Angst-Phänomene: Das Klima – dass das Meer tatsächlich so hoch steigt, dass wir nur in den Türmen von Aalborg überleben können. Die Furcht vor Terror – so dass schon eine vergessene, halb verrottete Sporttasche den Ruf nach dem Bombenräumkommando auslöst. Die Schweinegrippe – so dass wir uns z. B. auf der Post überlegt haben, ob man denn den dort ausliegenden Kugelschreiber wie alle anderen in die Hand nehmen sollte, und alle Kranken aufgefordert wurden, zu Hause zu bleiben.

Ja – verzeiht meine simple und vielleicht etwas flapsige Karikatur! –, natürlich müssen wir wachsam sein hinsichtlich des Klimas, des Terrors und ansteckender Epidemien. Aber von da ist es doch ein weiter Weg bis zur Panik und dem Verfallen in unnötige Ängste. So, dass Kinder nicht mehr schlafen können, weil sie sich tatsächlich Sorgen machen, wie hoch das Wasser steigt und wo sie mit ihren Familien überleben können, wenn die Pole schmelzen. So, dass alte Menschen sich nicht mehr auf die Straße zu gehen trauen und wir allenthalben unsere Wohnungen mit Überwachungskameras und anderem James-Bond-Gerät ausstatten, usw. usw. Ja, Entschuldigung, aber in meiner Sicht ist das deutlich übertrieben.

Der norwegische Philosoph Lars Fredrik Händler Svendsen meint, wenn wir uns mit so vielen potenziellen Gefahren beschäftigen – also mit Dingen, die passieren könnten −, dann habe das seinen Grund darin, dass wir im täglichen Leben eigentlich gar nicht so vielen Gefahren ausgesetzt sind. Wir brauchen nicht unter Einsatz unseres Lebens um das tägliche Brot zu kämpfen. Wir wohnen nicht in Breitengraden, wo Krieg und Diktatur herrschen. Für gewöhnlich geht es vernünftig zu. Nur im Ausnahmefall werden wir überfallen, wenn wir bei Dunkelheit unterwegs sind. Und bisher ist wohl auch noch niemand an Resten von Pflanzenschutzmitteln im Essen gestorben.

Aber noch nie haben so viele Menschen vor so vielerlei Angst gehabt – und mit so wenig Grund!

Wir wissen natürlich: Angst ist ein irrationales Phänomen. Weder Statistik noch gesunder Menschenverstand vermögen unseren Ängsten Grenzen zu setzen. Die können im Extremfall unser Leben lahm legen und uns zur Flucht aus dem Leben treiben. Es braucht enorme geistige Kraft, die Dinge auseinanderzuhalten! Mögliche Gefahren und tatsächliche Gefahren fallen ja nur allzu leicht ineins.

Und damit sind wir dann zurück auf dem Felde des Herrn in der Heiligen Nacht – der Engel steht noch immer da. Und in diesem geistlosen, vielleicht angsterfüllten Moment öffnet der Engel noch einmal seinen Mund und sagt dir und mir: FÜCHTET EUCH NICHT! Das ist schlicht und einfach die Antwort auf alle unsere verzweifelte Furchtsamkeit.

FÜRCHTET EUCH NICHT! Das sind die Worte, die das Licht begleiten, das mit dem Jesuskind in die Welt gekommen ist. FÜRCHTET EUCH NICHT – das Licht ist gekommen, die Finsternis zu verdrängen – die Lüge zu verdrängen – die Verdrängung zu verdrängen – die FURCHT zu verdrängen, so dass die Freude Raum gewinnt!

Die Freude, die weit über die Weihnacht hinausreicht – die uns auch gilt am 1. Januar und am 17. März und den ganzen grauen November hindurch. Und die uns gilt, wenn wir uns den großen, undurchschaubaren Fakten des Lebens gegenübersehen: dem Tod, dem Leid, dem Schmerz, der Trauer, der Kraftlosigkeit!

FÜRCHTET EUCH NICHT, liebe Gemeinde, mit euch die ganze Stadt, das ganze Bistum, die gesamte Nation, ja, die ganze Welt! Oder wie der Engel sagt: FÜRCHTET EUCH NICHT, denn ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird!

Denn das ist die einzige Antwort, die wir bekommen. FÜRCHTET EUCH NICHT! Das ist die Antwort auf alles Verwundern, die Antwort auf die große, undurchschaubare Rätselhaftigkeit des Lebens. Diese Worte seien unser Fundament mitten im Leben – das ganze Leben lang! Frohe Weihnachten!

Amen

 


Weihnachtsgebet:

Himmlischer Vater! Wir danken dir, dass wir in diesem Jahr wieder die Geburt deines Sohnes hier auf Erden feiern dürfen.

Lass den Weihnachtsfrieden in allen Herzen ankommen, bei den Traurigen und bei den Fröhlichen. Komm auch zu uns und gib uns allen ein frohes Weihnachtsfest heute Abend in allen unseren Häusern.

Öffne unsere Herzen, dass wir dich und das Wort, das du uns sagst, empfangen können.

Wir bitten, dass du mit deinem Frieden und mit deiner Freude bei allen bist, die nicht mit ihren Lieben Weihnachten feiern können: Sei bei denen, die zur See fahren, bei unseren Soldaten und den anderen, die sich außerhalb der Grenzen unseres Landes aufhalten.
Sei bei denen, die im Krankenhaus liegen, und bei denen, die einen Menschen, den sie lieb haben, verloren haben oder verlieren werden. Wache mit denen, die heute Nacht wachen.

Sei bei denen, die verurteilt im Gefängnis sitzen, und mit denen, die auf ihr Urteil warten. Und sei bei den Flüchtlingen, die Weihnachten weit entfernt von ihrer Heimat feiern müssen.

Komm zu denen, denen es schwer fällt, Weihnachten zu feiern: zu den Einsamen, zu denen, die Leid tragen – zu denen, die Angst vor und um ihr Leben haben. Lass vor allem sie spüren, dass du in die Welt gekommen bist, um ihnen nahe zu sein.

Herr, segne unser Weihnachtsfest!

 



Gemeinde- und Klinikpfarrerin Henriette Pedersen
Aalborg
E-Mail: hp@km.dk

Bemerkung:
Die Predigt entstand nach einem angstfreien Gespräch mit Pastorin Lena Kjems und Pastorin Marlene Bendtsen.

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier



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