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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Heiliges Christfest - 1. Weihnachtstag, 25.12.2010

Predigt zu Lukas 2:1-14, verfasst von Marianne Frank Larsen

  

"Der Ochse kennt seinen Herrn", sagt Jesaja, "und der Esel die Krippe seines Herrn." Deshalb sind Ochse und Esel auf dem Gemälde abgebildet, das Martin Schongauer von der Heiligen Familie im Jahre 1480 in seiner Werkstatt in Colmar gemalt hat. Daher steht sicher auch etwas über sie in dem Buch, das auf dem Schoß Marias liegt. Der Ochse, der seinen Herrn kennt, und der Esel die Krippe seines Herrn, ganz zu schweigen davon, dass "ein Reis ausgehen wird von dem Stamm Isais" und dass uns ein Kind geboren ist, dass uns ein Sohn gegeben ist". Genau wie die Worte, mit denen wir heute begannen (Jes. 9,1 ff.), erinnert uns das Buch auf dem Schoß Marias daran, dass das, was Weihnachten geschieht, die Erfüllung der alten Verheißungen ist. Das war es, was Gott versprochen hatte. Er hat sein Versprechen gehalten. Aber es sind ja nun weder Esel noch Ochse, die in die Augen fallen, wenn man das Gemälde zu sehen bekommt: es ist natürlich Marias wunderschönes, rotes Gewand. Das Gewand sticht in die Augen und füllt das Bild aus, weil es nicht klein ist und stramm anliegt; man ist mit Stoff und Farbe großzügig gewesen. In dem Gewand ist Platz für mehr als einen, und Wärme ist darin. Es ist glutrot wie Liebe, worin man sich verbergen kann.

Aber der, der darin hinter den Falten verborgen war, steht jetzt genau in der Mitte des Gemäldes, so dass wir keinen Augenblick daran zweifeln, um wen es hier geht.Er steht auf dem Schoß Marias, von ihrem Arm gehalten, an sie gelehnt mit der ganzen selbstverständlichen, körperlichen Nähe, die zwischen Kindern und ihren Müttern herrscht. Die beiden sind eng miteinander verbunden. Und doch ist er er selbst. Man betrachte nur den feinen kleinen Fuß, der frei nach vorn strampelt - er ist unwiderstehlich. Hinter ihnen bringt Joseph frisches Stroh für die Krippe herein. Er bereitet die Nachtruhe vor. Vor ihnen aber liegt der Wanderstab und zeugt davon, dass die kleine Familie hier nicht bleiben darf. Hinter ihnen liegt ein Aufbruch und eine Wanderung - und vor ihnen liegt ein neuerlicher Aufbruch und eine neue Wanderung, trotz der Geburt, trotz der Schwere der neuen Verantwortung, trotz der Zartheit der feinen kleinen Füße.

Mit dem üppigen roten Gewand und dem aufgeweckten, halbnackten Kind gleicht Schongauers Maria unserer eigenen Maria hier in der Kirche von Herslev (Jütland). Sie sind ja auch gleichalt. Obendrein ähneln sich die beiden auch in ihrem traurigen Gesichtsausruck, der auf die Lebensgeschichte vorausweist, die dem Knaben bevorsteht. Bis dahin ist das Gemälde wiederzuerkennen. Überrascht ist man erst, wenn man entdeckt, worauf sich Mutter und Kind in dem Gemälde Schongauers konzentrieren: eine Traube blauer Weintrauben, wahrhaftig, von denen die Mutter für den Kleinen pflückt, und sie gehen vorläufig nicht zur Neige, denn der Korb neben dem Wanderstab im Vordergrund des Bildes ist mit sonnengereiften Weintrauben gefüllt. Da sind reichlich Beeren im Korb. Wieder das Symbol der Fruchtbarkeit. Die unerwartete Fruchtbarkeit, die wir u.a. von den Liedern kennen, wo Rosen auf öden Fluren und im kalten Winter blühen. Oft sind es rote Rosen. Auf einem anderen Gemälde Schongauers, der Jungfrau im Rosenhag, blühen sie auf und glühen sie überall um Mutter und Kind, und im Gras zu ihren Füßen nehmen die Erdbeeren die rote Farbe an. Auf unserem Bild sind es blaue Trauben. Sie sind Sinnbild derselben Sache: Üppiges Wachstum, Fruchtbarkeit. Aber während die Rosen von Schönheit und Liebe sprechen, sprechen die Trauben unzweideutig von Süße, Saft und Durst, der gelöscht werden wird.

Trauben im Dezember? Das ist nicht die Jahreszeit für Trauben! Die Fruchtbarkeit auf dem Bild Schongauers ist unerwartet und verwunderlich. Genauso unerwartet und verwunderlich wie die Fruchtbarkeit in Marias Mutterleib. Denn hier sitzt sie mit ihrem langem Mädchenhaar und ihrem milden Mädchengesicht, unverheiratet und allzu jung, um Mutter zu werden. Das Kind auf ihrem Schoß ist keine Frucht ihrer Fertilität, sondern Frucht des Gottes, der das Licht und das Leben am Morgen der Schöpfung aus der Leere Wüste rief, verwunderlich und unerwartet. In der Weihnacht ruft er ein neues Leben aus Marias taubem Mutterleib hervor. Eine unerwartete Frucht, wo es keine Frucht gab, in ihrem leeren Schoß. Es ist ein neues Leben, das beginnt - für den Kleinen mit den zarten Füßen und für das Mädchen, das ihn unter ihrem Herzen getragen und in Liebe gehüllt hat. Aber nicht nur für die beiden. Das ist es, was der Maler mit seinen Trauben zeigt. Es sind genügend Trauben in den Korb, und viel mehr können ihren Durst löschen.

Und dies ist, was der Erzähler und der gute Gott mit ihren Engeln im Evangelium von heute zeigen. Wären da nicht die Engel, hätten wir gar nicht gewusst, dass ein neues Leben begonnen hatte. Es sind die Engel, die die Stille der Weihnacht mit der Botschaft und den Gesängen brechen, die unsere Aufmerksamkeit wachrufen und uns in den Stall schicken, damit wir sehen, was geschehen ist. Es geht offensichtlich nicht nur die frischgebackenen Eltern an. "Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird", sagt der Engel, und alles Volk - das sind wir. Die frohe Botschaft ist, dass das neue Leben, das in Marias Schoß begonnen hat, auch ein neuer und froher Anfang in unserem Leben ist. "Heute ist euch ein Heiland geboren", fährt der Engel fort, und mit diesen Worten reicht er uns das Kind in den Armen Marias. Denn er sagt nicht allein, dass ein Heiland geboren ist, sondern das euch ein Heiland geboren ist. Bitte, er ist für euch. Heute. Wie die Trauben in dem Korb.

Er ist für uns, wenn wir das Dasein füreinander öde und unfruchtbar machen. Wenn die Worte ausdörren, und wenn die Zärtlichkeiten zwischen uns welken. Wenn die Wege zwischen uns steinig und umwegsam werden. Wenn Milde und Nachsicht versanden. Wenn Krankheit und Schwachheit das fruchtbare Leben in eine Wüstenwanderung verwandeln. Wenn noch ein Grab zugeschaufelt wird. Mitten in diese Wüste und Unfruchtbarkeit kommt das Kind, das unser Erlöser ist. Die feinen kleinen Füße hat er, weil er auf die Erde hinaussoll, die die unsrige ist, und in das Dasein, das das unsrige ist. Er geht da hinein, wo das Dasein steinig und unwegsam ist, mit Worten, die neues Leben beginnen lassen in lahmen Gliedern und stummen Stimmen und tauben Ohren. Am Ende werden Nägel durch die nackten Füße gehauen. Das sieht Maria voraus, wenn sie auf dem Gemälde und auf unserem Altarbild hier in Herslev den Blick senkt. Dass er hinaus muss in die äußerste Einsamkeit, wo wir sind; und dann ist es an seinem himmlischen Vater, neues Leben zu wecken, wo kein Leben ist, in dem dunklen Grab.

Völlig unerwartetes und verwunderliches neues Leben. Das war es, was den Frauen am Ostermorgen am Grab begegnete. Unschütterliches Leben, das kein Ende hat. Das Leben, dem wir heute hier drinnen begegnen wollen. Wie er in Marias tauben Mutterleib kam, so kommt er in unser einsames Dasein. Selbst in unsere Gräber kommt er. Er kommt mit Worten, die das Tote zum Leben rufen, und lässt uns wieder von Neuem beginnen. Worte, die genauso warm und verschwenderisch sind wie Marias rotes Gewand, Worte, die uns Halt geben, die das Missglückte verbergen und uns Wärme spenden. Worte, die genauso süß und saftig sind wie die blauen Trauben auf dem Gemälde, Worte, die den Durst im ausgetrockenen Herzen löschen und neue Möglichkeiten hervorsprießen lassen. Eine vage Hoffnung. Eine unerwartete Wärme. Die Andeutung eines Lächelns. Eine angelehnte Tür.

Nicht weil Maria in dem Stall sitzt, sehen wir den Korb mit reifen Trauben auf dem alten Gemälde. Und nicht, weil Maria durch den Wald geht, blühen in dem alten Lied die Rosen in den Dornen. Es geschieht, weil sie eben dieses Kind unter ihrem Herzen trägt. Das Kind, das einen neuen Anfang schafft. Rosen zwischen Dornen, Trauben im Dezember. Seht nur hin: sie wachsen auch auf unserem Altarbild. Eine unerwartete Üppigkeit und Fruchtbarkeit. Wir wissen, woher das Kind sie hat. Die Rosen in den Liedern und die Trauben auf dem Bild sind kleine Schimmer des Gartens, von dem er kommt. Des Gartens, der hinter Adam und Eva geschlossen worden ist. Jetzt öffnet er ihn für uns. Er pflanzt ein kleines Stück Paradies hier, wo wir stehen und gehen und uns einschließen, wo die Freude wächst - üppig und unerschütterlich mitten im kalten Winter - wie Rosen an den Zweigen, wie Trauben an den Ranken.

Amen



Pastorin Marianne Frank Larsen

E-Mail: MFL@KM.DK

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen Dietrich Harbsmeier


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