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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Heiliges Christfest - 2. Weihnachtstag, 26.12.2010

Predigt zu Johannes 8:12-16, verfasst von Rainer Stahl

Liebe Schwestern und Brüder,
liebe Leserin, lieber Leser,

der heutige zweite Weihnachtstag leitet uns endgültig an allen Vordergründigkeiten und menschlichen Wichtigkeiten zu Weihnachten – wie dessen Feier als Fest der Familie oder als Fest des Friedens, die für uns aber durchaus von entscheidender Bedeutung sind (!) – vorbei in das eigentliche Zentrum, in den Inhalt, um den es in Wahrheit geht.

Diese Wahrheit, diesen Inhalt deckt der Einwand der „Pharisäer“ auf, der in unserem Text berichtet wird. Mit „Pharisäern“ sind nicht etwa die jüdische Religion und unsere jüdischen Nachbarn und Freunde gemeint. Mit „Pharisäern“ sind Menschen gemeint, die uns alltäglich in unseren Kirchgemeinden, aber auch in den politischen Gemeinden, in unserer Nachbarschaft, unter unseren Kolleginnen und Kollegen, begegnen. Ja: Mit „Pharisäern“ sind wir alle gemeint.

In unserer Welt, in unserem Leben brauchen wir Referenzen, brauchen wir Belege, brauchen wir Quellen. Alle, die einmal eine Doktorarbeit geschrieben haben, können ein Lied davon singen. In fast allen Wissenschaften wird es wohl so sein, wie ich es von der Theologie her kenne: Am Ende werden es – wenn es gut geht – nur ein kleiner eigener Schritt, eine knappe neue Position, eine gerade noch als eigene Meinung deutlich werdende These sein, die vorgelegt werden können. Aber die hauptsächliche materiale Arbeit ist die Erfassung und Dokumentation dessen, was schon früher zum Gegenstand gedacht wurde, ist die Belegung des Zeugnisses durch andere. Diese uns selbstverständliche Situation bringen die „Pharisäer“ zum Ausdruck. Sie sagen vorwurfsvoll: „Du gibst Zeugnis von dir selbst.“ Anders gesagt: „Du belegst deine Positionen mit Selbstreferenzen, mit Verweisen auf dich selbst!“ Und was beweist das? „Beweise für deine Positionen müssten von außerhalb deiner Überzeugungen und deiner Meinungen kommen!“

Von woher?

Diese Haltung ist für uns überhaupt nicht überraschend. Wir selbst sind ihr noch viel tiefer verpflichtet, als ich es schon angedeutet habe. Denn das ist die Haltung derer, die eine biblische Grundlage für den Glauben voraussetzen. Das ist die Haltung der sola-scriptura-Leute. Also: Das ist unsere Haltung!

Alles, was ich vom Glauben sagen kann, muss im Zeugnis der Bibel begründet sein. Wenn es dort keinen Anhalt hat, dann darf ich das nicht verkündigen. Denn dann besteht die Gefahr, dass ich meine Meinung sage, dass ich Denk- und Glaubenspositionen miteinander verbinde, die nicht zusammen passen, dass ich einer Cafeteria- oder Patchwork-Religiosität huldige und aufnehme, was mir aus gegenwärtiger Laune und Betroffenheit heraus wichtig scheint: ein wenig Wiedergeburt von da, ein wenig diesseitige Glückseligkeit von dort – und anderes mehr.

Deshalb haben die „Pharisäer“ unter uns Recht, wenn sie warnen: „Dein Zeugnis ist nicht wahr.“ Ja – ich muss es zugeben –, je mehr ich nachdenke, desto mehr muss ich erkennen, dass ich als bewusst evangelisch-lutherischer Theologe ein ganzes Stück weit ein „Pharisäer“ bin. Und das muss ich sein. Und darauf bin ich stolz.

Denn – und jetzt tut sich uns das eigentliche Zentrum (!!) auf –, denn es gibt nur eine Ausnahme,
nur einen Bezug,
mit Blick auf die und den diese „Pharisäerhaltung“ falsch ist:
Mit Blick auf den Sohn der Weihnacht,
mit Blick auf Jesus aus Nazareth.

Was überall und für jeden gilt – dass das Glaubenszeugnis gegründet sein muss in Zeugnissen anderer –, das gilt für diesen Jesus aus Nazareth nicht.
Er – und nur er (!) – kann aus sich selbst heraus Zeugnisse ablegen, deshalb können wir ihn den „Christus“ nennen.
Er ist – um einen anderen Begriff unserer Glaubenswelt zu nutzen – der „Sohn Gottes“.

In ihm und durch ihn tritt Gott selbst auf uns zu. Deshalb gilt für ihn – und nur für ihn (!) –:
                      Er ist das Licht der Welt.
                      Wer ihm nachfolgt, wird das Licht des Lebens haben.

Natürlich weiß ich, dass es gerade nach der Auffassung der neutestamentlichen Zeugen eine tiefe Verankerung der Botschaft von Christus im Alten Testament gibt. Natürlich weiß ich, dass die Gotteseinsicht unserer jüdischen Schwestern und Brüder – wie sie in unserem Alten Testament vorliegt – nach unserem, christlichen Sinn ihre Vollendung in diesem Jesus aus Nazareth findet. Insofern wäre es möglich, ganz viele Quellen und Belege aufzuführen.

Aber ich möchte zu diesem Weihnachtstag festhalten und aushalten, wie unser konkreter Johannestext die Besonderheit Jesu Christi herausstellt:
                      gerade als eines, der keine Referenzen benötigt,
                      der aus sich selbst heraus Zeugnis geben kann,
                      für sich selbst (!)
                      und für die Wahrheit des Glaubens (!).

Im Auftakt des Johannesevangeliums wird auf einen besonderen Zeugen des Glaubens hingewiesen:
auf Johannes den Täufer.
Er war im Vergleich zu uns, zu meinem Zeugnisgeben, ein besonderer Zeuge – aber doch nur ein Zeuge wie letztlich wir alle.
Und für ihn wird festgehalten: „Er war nicht das Licht, sondern er sollte zeugen von dem Licht“ (Johannes 1,18).

Deshalb gilt für uns, gilt für mich, der ich das Zeugnis dieser Predigt schreibe:
Ich bin nicht das Licht, aber ich kann – wenn es denn gut geht – von dem Licht Zeugnis geben.
Aber: Christus ist das Licht! Christus ist Inbegriff der Einsicht und Erkenntnis Gottes.

Das wäre ein besonderes Weihnachtserlebnis, wenn uns das Licht der Erkenntnis Gottes aufginge. Und uns so Gott nahe käme.

Es gibt einen Halbsatz in unserem Predigttext, der vielleicht den Vorhang ein wenig lüftet, der eine entfernte Ahnung von Gott vermittelt, der all unsere Koordinaten umstürzt und unsere Welt vom Kopf auf die Füße stellt – (ich spiele bewusst auf das feine Bonmot über Karl Marx an, wonach er Hegel von den Füßen auf den Kopf gestellt habe, obwohl er selber gemeint hatte, er hätte ihn vom idealistischen Kopf auf die materialistischen Füße gestellt; das aber nur nebenbei):

                      „Ich aber richte gar niemanden“ (V. 15).

Diesen Satz will ich aushalten.

Es könnte jetzt so viel anderes geschrieben und gesagt werden – gerade auch vom Bezeugten her, von der Bibel her und ihren Gerichtsbildern! Ist vielleicht das Weihnachten, dass wir diese Aussage aushalten? Diese Aussage: „Er richtet niemanden!“?

Wir können diesen großen Satz aber nur für uns aushalten und nur gültig sein lassen, wenn wir auf uns selbst schauen. Auf andere können wir gar nicht mehr schauen. Solange wir das nämlich tun, werden wir diesen Satz nicht aushalten. Denn wir alle kennen viele, von denen wir meinen, dass sie gerichtet werden müssten. Wir können also nur noch auf uns schauen und für uns diesen Satz als große Hoffnung festhalten.

Und auch bei uns selbst gilt, dass wir zugeben müssten, dass wir gerichtet gehörten. Aber für uns selbst – in großer Offenheit uns selbst gegenüber und ohne jede Besserwisserei und Arroganz anderen gegenüber – können wir diesen großen Satz aushalten, wird er für uns zu der Weihnachtsbotschaft in diesem Jahr:

                      Nein, Gott wird nicht richten!

Gäbe es eine größere Weihnachtsbotschaft?

Amen.



Dr. Rainer Stahl
Erlangen
E-Mail: gensek@martin-luther-bund.de

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