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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Heiliges Christfest - 2. Weihnachtstag, 26.12.2010

Predigt zu Matthäus 23:34-39, verfasst von Leise Christensen

Liebe Gemeinde,

ich bin nicht alt genug, um die Zeit der (deutschen) Besatzung (in Dänemark) erlebt zu haben (obwohl mich einmal ein Vorkonfirmand gefragt hat, ob ich bei der Pest dabei gewesen wäre), aber ich habe doch über diese Jahre so viel im Fernsehen gesehen und so viele Bücher gelesen, dass ich recht gut das Gefühl haben kann, dabei gewesen zu sein.

Jedenfalls gibt es ein Bild, das mir ganz klar vor Augen steht, auch wenn ich die Situation tatsächlich nie gesehen habe: Da sitzen einige Leute eng vor dem Radio, während sie heimlich die BBC abhören, die den Dänen von London aus Nachrichten sendet über die besetzten Gebiete, einschließlich Dänemark. Konzentriert lauschen die Menschen, ihre Ohren ganz nahe am Lautsprecher. Und warum sitzen sie so da? Natürlich wegen der schwachen Lautstärke. Die Nachrichtensendungen wurden durch Störsender gestört, und man lernte schnell: Je mehr gestört und je geräuschvoller, desto wichtiger war eine Botschaft aus London.

Warum ich darauf zurückkomme, heute an einem 2. Weihnachtstag? Weil das Evangelium von heute tatsächlich recht gut an eine solche durch Störung gestörte Sendung aus dem Himmel erinnern kann. Wir haben hier nun an etlichen Tagen von der schönen Heiligen Nacht mit Engeln, Hirten, Anbetung und Geburt des Kindes gehört – ja, ich habe das Weihnachtsevangelium jetzt im Dezember, bei Weihnachtsfeiern, in Kindergottesdiensten, richtig oft vorgelesen; und dann wird uns heute am 2. Weihnachtstag plötzlich, mitten im Duft von Gänsebraten, solch eine ungemütliche Tirade über Kampf, blutige Verfolgung und Unterdrückung vorgesetzt, ganz zu schweigen von dem schrecklichen Schicksal des Stephanus, von dem wir eben gehört haben. Hat das vielleicht mit fröhlichen Weihnachten zu tun? Es mag wohl schwer fallen, das zu verstehen. Warum können wir nicht ein wenig länger bei dem Schönen verweilen?

Dies ist der Punkt, wo das Kriegsradio der BBC wieder ins Spiel kommt. Der geräuschvolle und (ver)störende Evangelientext von heute hat etwas Wichtiges zu sagen. Wir, als alte BBC-Hörer, müssen aufhorchen, da das, was zunächst in den Ohren gellt, laute Irritation verursacht oder auf andere Weise „gestört“ ist, ganz besondere Bedeutung haben kann.

Dass der Evangelientext, ebenso wie die anderen Texte von heute, schwer und blutig ist, hat ja nicht den Sinn, Menschen vor den Kopf zu stoßen. Es soll uns vielmehr einerseits ins Gedächtnis rufen, dass die Kirche in ihrer Geschichte viele Märtyrer verloren hat und rund um die Welt noch immer verliert, d. h. viele wie Stephanus; andererseits erinnert es daran, dass die Welt trotz Weihnachten mit seinem Frieden und Segen doch immer noch ein Kriegsschauplatz ist, eine Arena der Unvollkommenheit. Es erinnert uns daran, dass wir immer noch in der Welt sind und dass es viel zu tun gibt. Wenn der Tag des Märtyrers Stephanus so nahe an die Geburt des Herrn herangerückt ist, mag das wohl damit zu tun haben, dass wir mitten in der Freude über die Geburt, über die anmutige Mutter und die vielen Engel nicht vergessen sollen, wie es denn dem kleinen Jesuskind ergangen ist, als es herangewachsen war und zum Mann wurde.

Es ist so einfach zu idyllisieren, aber Gott kam nicht in die Welt, um als Stimmungsbild auf einer Weihnachtskarte zu enden. Gott kam, um seine Liebe unserer Selbstgenügsamkeit und Selbstzufriedenheit entgegenzusetzen. Und das kostete, und es kostet noch immer. Er kam, um uns von einer Liebe und Leidenschaft zu sagen, die so stark ist, dass man lieber zu sterben bereit ist, als sich auf einen Kompromiss einzulassen.

Jesus selbst zeigte es am Karfreitag, die ersten Märtyrer wie Stephanus, Petrus und Paulus zeigten es – und ja, mag es auch unbehaglich sein, daran zu denken, wenn wir auf unserem Sofa sitzen und unseren Glühwein trinken, es gibt immer noch Menschen rund um die Welt, die heute zeigen, dass es sie etwas kostet, sich zum Christentum zu bekennen. Das Martyrium gehört ja nicht in die graue Vorzeit. 40 % aller Christen auf der Welt leben unter Restriktionen dieser oder jener Art, beginnend mit Schikanen durch politische Systeme oder die Nachbarn, im vergleichsweise leichten Fall, und endend mit dem sicheren Tod im schweren. Es geht um den Glauben, um Liebe und Leidenschaft. Leidenschaft im Gegensatz zu Gleichgültigkeit. Glaube im Gegensatz zu Bequemlichkeit. Liebe im Gegensatz zu der kühlen Kalkulation, die immer abschätzt, ob sich etwas denn auch auszahlt.

Stephanus wurde gesteinigt, weil man nicht hören wollte, was er über Jesus als Christus zu sagen hatte. Man wollte nichts hören von Jesus als dem Sohn Gottes. Man wollte die Erzählung des Stephanus steinigen – zusammen mit ihm. So, wie sein Körper unter den harten Schlägen der Steine zusammenbrach, wollte man auch die Erzählung über Jesus zusammenbrechen sehen. Aber so geschah es nicht. Sie flog stattdessen von Mund zu Mund und durch die Geschichte bis zu uns, die wir sie heute hören, und wir werden sie künftigen Generationen weitererzählen. Wenn wir es denn wollen. (Unser Problem ist nicht die Steinigung – es ist das Desinteresse.)

Die Geschichte von Jesus starb nicht mit Stephanus, Petrus, Paulus und all den anderen bekannten und unbekannten, sie kann nicht sterben, niemals; Gott will, dass gerade diese Geschichte leben soll, denn in dieser Geschichte lebt und brodelt noch immer seine Liebe, die Liebe, die er zu uns, seinen Menschen, trotz allem noch immer hegt.

Die Steine, die Stephanus trafen, sind nicht die einzigen Steine, von denen wir hören. Zu Ostern hören wir von einem anderen, einem riesengroßen Stein, der vor einem Grab lag. Einige Frauen kamen hinaus zum Grab und wollten nach einem Toten sehen. Aber sie konnten den schweren Stein nicht vom Eingang des Grabes wegschieben. Zu ihrem großen Erstaunen jedoch war der Stein bereits fortgewälzt, als sie sich dem Grabe näherten – Jesus war auferstanden, wie er gesagt hatte. Der Stein konnte seine Auferstehung nicht aufhalten, wie die Steine auch des Stephanus Glauben und Bekenntnis nicht aufhalten konnten. Das meint, wie Gott uns in dem Geschehen von Ostern wissen machte: dass die harte Sprache des Steins nie das letzte Wort behalten, dass die brutale Macht der Steine nie siegen kann.

Dieser Tag, so nahe bei dem Geburtstag, den wir gerade so schön gefeiert haben, erinnert uns daran, dass wir nicht auf der Welt sind, um mit Steinen zu werfen, um unseren Mitmenschen niederzumachen, mit den Wölfen zu heulen, zu mobben, zu betrügen, unseren Mitmenschen gar zu schlagen und zu töten. Dies nämlich hat uns das Christkind gelehrt, als es auf Erden wandelte und selbst gepeinigt, betrogen, geschlagen und getötet wurde: Wir sind auf der Welt, um die Steine beiseite zu räumen, die auf dem Weg unserer Mitmenschen liegen, so dass sie in Frieden ihren Weg gehen können und im Schutz der Liebe. Und ebenso sollen wir die Steine wegräumen, die Gottes Geschichte von seinem Sohn im Weg liegen, damit das Wort von der Liebe und Vergebung Gottes andere Menschen erreichen kann.

Im Zusammenhang mit Weihnachten haben wir oft (ich jedenfalls!) gesungen: „Ein Kind ist geboren in Bethlehem“. Einer der Verse heißt: „Überwunden ist nun all unsere Not, uns ist heute der Heiland geboren.“ Es heißt nicht, wie es die Kinder oft singen, „verschwunden ist nun all unsere Not.“ Jedermann kann sich umschauen in der Welt, unter den Ermordeten und den Geängstigten, unter denen, die, zum Tode verurteilt, auf ihre Hinrichtung warten, und er wird sehen, dass die Not nicht verschwunden ist. Sondern sie ist überwunden. Denn sie ist nicht mehr das Stärkste überhaupt.

Der Stärkste ist der, von dem gesagt ist, er ist der, „der kommt im Namen des Herrn“. Er, der sagte: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Hier in der Welt herrscht das Gesetz des Steins, und die Not ist nicht verschwunden, aber am stärksten von allem ist das Evangelium der Liebe Gottes. Das Evangelium, von dem Stephanus so erfüllt war, dass er mit Blick auf seine Mörder sagen konnte: „Rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ Selbst seine Mörder konnte er als Mitmenschen sehen, als Menschen, mit denen zusammen er Mensch sein sollte. Das Regiment der Steine währt nicht für immer, denn Gottes Bestimmung zur Liebe ist weit stärker als der Steine Macht und Gewalt.

Amen



Lektor Leise Christensen
Teologisk Pædagogisk Center,DK-6240 Løgumkloster
E-Mail: lec@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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