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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Altjahresabend, 31.12.2010

Predigt zu Jesaja 30:15-17, verfasst von Wolfram Stille

„Denn so spricht Gott der HERR, der Heilige Israels:
Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein. Aber ihr wollt nicht und sprecht: „Nein, sondern auf Rossen wollen wir dahinfliehen“ – darum werdet ihr dahinfliehen, „und auf Rennern wollen wir reiten“– darum werden euch eure Verfolger überrennen.
Denn euer tausend werden fliehen vor eines einzigen Drohen, ja vor fünfen werdet ihr alle fliehen, bis ihr übrig bleibt wie ein Mast oben auf einem Berge und wie ein Banner auf einem Hügel
.“


Liebe Gemeinde,

an der Schwelle zum neuen Jahr, am Altjahrsabend – eigentlich also gar kein kirchlicher Feiertag, an dem wir zusammenkommen –, was erwarten wir da? Was wollen wir feiern, worauf wollen wir uns besinnen? Kann uns der Prophet Jesaja helfen mit seiner Aufforderung zu Umkehr und Ruhe? An einem Abend, an dem um uns herum jetzt schon geböllert wird?

Traditionell geht es heute Abend um zwei Aspekte, beide kommen auch in der Ansprache der Bundeskanzlerin regelmäßig vor – einen Rückblick auf das vergangene Jahr und eine kleine Vorschau auf das kommende neue Jahr, mit seinen neuen Aufgaben: Was war und was kommt? Zwei Fragen, die uns alle beschäftigen – wenn wohl auch je nach Lebensalter mit unterschiedlichen Schwerpunkten.

Wie ist es gewesen für jede und jeden von uns im vergangenen Jahr? Was hat sich erfüllt an Wünschen und Erwartungen? Wovon sind wir überrascht worden? Wo hat uns unser Weg hingeführt? Wer musste sich von liebgewonnenen Gewohnheiten trennen? Wer von seinem Arbeitsplatz und warum? Wer ist umgezogen, an einen neuen Ort, in eine neue Wohnung, ins Seniorenheim? Welche uns nahen Menschen haben wir verloren, durch den Tod, vielleicht auch durch das Zerbrechen einer Beziehung? Und wo wird uns unser Lebensweg im nächsten Jahr hinführen? Was werden wir erleben dürfen, was erleben müssen?

Einige werden sich noch erinnern an die Predigt von Margot Käßmann, damals noch Hannoversche Landesbischöfin und EKD-Ratsvorsitzende, am Neujahrstag in der Dresdner Frauenkirche. Zu ihren Aussagen zum Krieg in Afghanistan mit den deutlichen Worten, es sei nichts gut in Afghanistan, es sei keine Lösung erkennbar, hat sie viel Zustimmung bekommen und beinahe noch mehr Widerspruch. Und dann der überraschende Rücktritt von ihren Ämtern nach der Alkoholfahrt.

Viele hat das sehr bewegt; ebenso wie die Meldungen von den vielen, viel zu vielen Missbrauchsopfern in kirchlichen und öffentlichen Einrichtungen und Schulen.
Quälend dann der langsame Rücktritt des Augsburger Bischofs. Er war danach schnell vergessen; unerwartet schnell war ein neuer Bischof bestellt. Frau Käßmann dagegen wurde auf dem ökumenischen Kirchentag in München von vielen schon wieder begeistert empfangen und bejubelt.

Noch überraschender der Rücktritt des Bundespräsidenten nach seinen Äußerungen über den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr. Dann die packende Wahl eines Nachfolgers.
In mehreren Bundesländern haben wir neue Ministerpräsidentinnen oder Ministerpräsidenten. Und unser Rheinischer Präses ist nun neuer EKD-Ratsvorsitzender.

Täuscht der Eindruck, oder haben uns wirklich ungewöhnlich viele Rücktritte und Rückzüge bewegt? Auch fehlende Rücktritte vielleicht? Nach der Loveparade in Duisburg mit ihren vielen Toten und Verletzten, die uns betroffen hat, ...
wie auch die vielen anderen Katastrophen – Erdbeben in Haiti und Chile, mit immer noch unsäglichen und furchtbaren Folgen für viele Tausend Menschen; die Ölpest im Golf von Mexiko; die verschütteten und dann glücklich geretteten Bergleute in Chile.

Dann die vielen Terroranschläge weltweit – und nun auch die Terrorwarnungen bei uns, auch wenn sie weder den Besuch von Weihnachtsmärkten noch die Reiselust wirklich eingeschränkt haben. Dazu war erst das chaotische Winterwetter mit all seinen Folgen für den Verkehr auf den Strassen, aber auch mit der Bahn und im Flugverkehr, in der Lage.

Jeder von uns könnte wohl diese Aufzählung noch fortsetzen. Hilft uns dabei Jesajas Aufforderung zu Umkehr und Ruhe, verbunden mit dem Versprechen, dass uns geholfen wird? Hilft sie uns in der verbreiteten Lebensangst vor Terror und Krieg, vor Krankheit und Tod, vor Armut und Arbeitslosigkeit?

Liebe Gemeinde, ich habe auch keine allgemein gültige Antwort. Aber ich merke, dass es gut tut, einmal innezuhalten, ruhig zu werden, nachzudenken – und vor allem tut es gut, das gemeinsam zu tun. In der Familie, im Freundeskreis, hier in der Gemeinde. Wenn wir spüren, dass eben nicht alles machbar ist, dass wir nicht alles in der Hand haben, dass es nicht nur auf uns selbst ankommt.

Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte. (Ps.103,8)
So haben wir das eben im Psalmwort gehört.
Und Erbarmen ist eben mehr als Gefühl und Mitleid.

Ich denke, es stimmt, dass wir Erbarmen und Barmherzigkeit wieder neu kennen lernen müssen. Gerade wenn uns nicht alles gelingt und weil uns nicht alles gelingt, können wir spüren: Wir sind angewiesen auf andere, und wir sind angewiesen auf die Hilfe Gottes. Umkehren und stille werden, das bedeutet ja eben nicht, die Hände in den Schoß zu legen und zu warten. Das heißt ja nicht, wir warten jetzt mal ab, dass andere etwas tun oder ein anderer etwas tut.

Umkehren, uns wieder Gottes Thora, seinem guten Plan zuzuwenden, das bedeutet, unser Vertrauen und unsere Hoffnung auf ihn zu setzen. Es heißt, nicht den großen Worten von Mächtigen in Politik, in Wirtschaft und Gesellschaft zu vertrauen, die immer alles schon richten wollen; wohin das führt, haben wir gesehen und erlebt. Es heißt stattdessen, uns Gottes Richtungsweisung wieder anzuvertrauen.

Ich meine immer noch, unser Gemeindelied von Bernhard Wibben drückt das sehr schön aus:

Wir wollen sein ein Haus mit offnen Türen,
wo Menschen freudig gehen ein und aus.
Lasst uns Gemeinschaft sein und Liebe spüren,
Gott schütze uns und dieses offne Haus.

Lasst für Gerechtigkeit uns mutig streiten,
und gegen Unrecht in der Welt aufstehn.
Unsere Schritte wird Gott sicher leiten,
mit uns den rechten Weg gemeinsam gehn.

Lasst gegen Trauer uns die Freude singen,
gegen den Hunger kämpfen jederzeit.
Gegen den Tod soll unser Lied erklingen,
gegen Gewalt und Terror und auch Leid.

Lasst uns das Leben jetzt gemeinsam leben,
den Nächsten jetzt mit offnen Augen sehn,
und dort, wo Hilfe nötig, lasst uns helfen.
Und unsern Weg mit Gott gemeinsam gehn.

Liebe Gemeinde, Abschied nehmen, nicht nur vom alten Jahr, sondern auch vom Gedanken, dass alles machbar ist, und auch davon, dass uns alles gelingen muss. Dafür mit der Zuversicht ins neue Jahr gehen, dass wir begleitet werden und Gottes Güte und Gottes Hilfe bei uns sind, wenn wir uns gemeinsam auf den Weg machen in ein neues Jahr!

Amen.



Prädikant Wolfram Stille
Maifeld
E-Mail: wolfram.stille@evangelisch-im-maifeld.de

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