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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Sonntag nach Epiphanias, 09.01.2011

Predigt zu Lukas 2:41-52, verfasst von Marianne Frank Larsen

 

Anna Sophie Seidelin erzählt einmal in ihren Erinnerungen, wie sie das Lied "Lyksalig, lyksalig" (Glückselig, glückselig, dänisches Kirchenlied von B.S. Ingemann) in der Schule lernte, wo sie als Tochter eines Gemeindepastors auf Amager aufwuchs. Sie sang das Lied mit Freuden wegen der Melodie und wegen der ersten Zeile "Glückselig, glückselig eine jede Seele, die Frieden hat". Aber als sie es zu Hause anstimmte, sagte ihr Vater, der Herr Pastor, saofort "Hör auf!", und verbat sich den Rest des Liedes. Er wollte nicht, dass seine Tochter dieses Lied sang. Damals begriff sie nicht, warum sich ihr Vater das Lied verbat. Aber in der folgenden Zeit, so schreibt sie, hat sie verstanden, dass ihr Vater meinte, "Glaube und Trost ist etwas, was man vielleicht bekommt, wenn die Katastrophe eintrifft. Glaube und Trost erarbeitet man sich nicht, indem man die Katastrophe in Augenschein nimmt," wie man es ja in diesem Lied tut. Es malt ja das Entsetzen aus in dem Vers vom "Kind, das auf seinem Bett liegt, so still und tot". Und solches Entsetzen soll man nicht bei allen möglichen Gelegenheiten kosten, und solchem Entsetzen soll man nicht immer wieder "den Trost der Religion" entgegenhalten. Vielmehr muss man sich damit abfinden, dass "Angst der Liebe auf dem Fuße folgt", sagt Sophie Seidelin, denn in der Angst liegt eine Wahrheit über das Leben verborgen, und man muss ihr seine Aufmerksamkeit schenken, wenn man liebt.

Hinter dem Ausbruch ihres Vaters lauert die Angst, die alle Eltern kennen: die Angst, sein Kind zu verlieren. Sie folgt tatsächlich der Liebe auf dem Fuße; denn sie macht sich, neben der tiefen Freude, fast augenblicklich bemerkbar, die Angst nämlich, dass es schief gehen kann, dass das kleine, junge Leben, das man in seinen Armen hält, verletzt werden oder verloren gehen kann. Instinktiv weiß man, dass es geschehen kann, dass Dinge geschehen können, die man nicht verhindern kann, wieviel Mühe man sich auch gibt. Dann kann man sein Kind nicht vor allem Bösen beschützen, wie sehr man es auch möchte. Und man kann es auch nicht bei sich festhalten, wie sehr man es auch möchte. Man kann es wieder verlieren. Und man kann vieles ertragen, aber instinktiv weiß man auch, dass man dies nicht würde ertragen können. Verliert man sein Kind, verliert man einen Teil seiner selbst. Und der Verlust wird wie ein Schatten über alle seinen Tagen liegen. Ganz froh wird man nie wieder sein, wenn man sein Kind verloren hat.

Es ist genau diese Angst, die in Marias Ausruf zum Ausdruck kommt, als sie den Knaben, wie es das Evangelium von heute erzählt, im Tempel findet. Natürlich ist es die Mutter, die sich nicht beherrschen kann, sie platzt mit allem heraus, was sich ihr aufdrängt. Denn da steht er ja, der Knabe, nach dem sie tagelang gesucht haben. Sie waren außer sich vor Sorgen gewesen, ihre Verzweiflung war immer größer geworden, während sie die Bilder von dem Kind, das "auf seinem Bett liegt, so still und tot", immer klarer vor sich sahen. Aber sie finden ihn nicht, wie er sich in einem abseits gelegenen Stadtteil verirrt hat, oder unter Menschen, die ihm nicht wohlgesonnen sind; er steht froh und unbefangen mitten im Tempel, er steht auf eigenen Beinen, er ist unverletzt und gesund. Gott sei Dank. Aber wenn sie ihn ausgerechnet dort finden, dann ist er ja nicht verschwunden. Er ist fortgelaufen. Also hat er sich für einen anderen Weg entschieden als Josef und Maria. Kein Wunder, dass Maria sagt: "Mein Sohn", wie man ein unartiges Kind anspricht, scharf und zurechtweisend: "Mein Sohn, warum hast du uns das angetan? Dein Vater und ich haben dich gesucht und waren sehr besorgt." In diesen Worten hören wir zugleich Zorn und Vorwurf und Kränkung und Betrübnis, denn wie kann der Junge nur darauf kommen, ihre Fürsorge mit einem solchen Mangel an Umsicht zu vergelten? Aber in dem Ausbruch der Maria liegt mehr. Es liegt auch eine Selbstbeschuldigung darin, die alle Eltern kennen. Hätte man richtiger handeln können? Hätte man besser aufpassen müssen, hätte man seinem Kind mehr Aufmerksamkeit widmen müssen? Ja, das hätte man wohl, man denke nur daran, was einen die Selbstbezogenheit kostet. Im Grunde hat Maria genau die Angst, die der Liebe auf dem Fuße folgt.

Bis hierher haben wir mit einer Geschichte zu tun, die alle, die Kinder haben, und alle, die Eltern haben, aus eigener Erfahrung wiedererkennen. Eine Geschichte von der Angst der Eltern auf der einen Seite, und von der Selbstbefreiung des Kindes auf der anderen. Denn mag es noch so schmerzlich sein, so ist es doch ganz normal, dass ein Kind früher oder später seinen eigenen Weg wählen und nicht mehr so ohne weiteres den Spuren der Eltern folgt. Eine ganz gewöhnliche Geschichte, mit einem Verlauf wie viele richtig gute Geschichten, denn sie beginnt gut damit, dass die Familie beisammen ist, und dann verlieren sie einander, und die Zusammengehörigkeit geht verloren, bis die Geschichte so endet, wie sie begann, dass sie nämlich wieder beisammen und alles wieder gut ist. Wenn wir Glück haben, endet auch die Geschichte von der Selbstbefreiung unserer Kinder so. Und die Geschichte unserer eigenen Befreiung. Dass Kinder und Eltern einander wieder in die Augen sehen können. Das ist uns nur allzu geläufig.

Was nicht so bekannt ist, ist indessen die Antwort, die der Knabe seiner Mutter gibt. Denn wenn sie schon einen scharfen Ton anlegt, dann ist er noch schärfer: "Warum habt ihr nach mir gesucht?", fragt er, als wäre das nicht selbstverständlich. Oder als wenn er und sie gar nicht zusammengehörten. Als wären sie nicht seine Eltern. "Wusstet ihr nicht," fährt er fort, als verstünde es sich von selbst, als müssten sie es von selbst wissen, als müsste das Kind jetzt seine schwerfälligen Erwachsenen belehren: "Wusstet ihr nicht, dass ich bei meinem Vater sein muss?" Ja, genau das hatte Maria doch gemeint, als sie sagte, sein Vater und sie selbst hätten nach ihm gesucht und seien besorgt gewesen. Aber es ist offenbar nicht der Vater, von dem der Knabe spricht. Es ist ein anderer Vater. Der Vater, von dem man weiß, dass man mit ihm zusammen ist, wenn man in seinem Haus ist. Es ist das erste Mal, das Jesus das Wort ergreift. Bis jetzt haben wir gehört, wie Zacharias und die Engel und die Hirten und Simeon und Anna und die Weisen formuliert haben, was das für ein Kind ist, das Maria geboren hat. Im Evangelium von heute ist der Knabe alt genug geworden, um zum ersten Mal selbst zu sagen, wer er ist.

In der Antwort des Knaben steht die wohl bekannte Geschichte von der Angst der Eltern und der Selbstbefreiung ihres Kindes einer überraschenden, neuen Geschichte von einem Kind gegenüber, das zwei Väter hat. Denn der Knabe ist Sohn des Vaters, der verzweifelt in den Straßen Jerusalems nach ihm gesucht hat. Aber mit seiner Antwort enthüllt er zum ersten Mal, dass er auch Sohn des Vaters ist, der in Jerusalems Tempel wohnt. Der Knabe ist bei seinem Vater und seiner Mutter in Nazareth zu Hause in der Wirklichkeit, die wir kennen. Aber er ist auch zu Hause bei einem anderen Vater in einer anderen Wirklichkeit. Aus der Sicht des Knaben betrachtet ist er nicht von zu Hause fortgelaufen. Er ist nach Hause gekommen, denn er gehört in die himmlische Wirklichkeit, die Maria und Josef und wir anderen erst allmählich in den Worten zu ahnen beginnen, die er sagt - und die sich andeutungsweise in den sonderbaren Antworten zeigt, die er gibt. Denn er begnügt sich ja nicht damit, Fragen zu stellen und zuzuhören wie der wissbegierige Schüler gegenüber seinem klugen Lehrer. Er antwortet auch seinerseits, und die Antworten, die der Zwölfjährige gibt, erfüllen seine Zuhörer mit Verwunderung. Mit diesen Antworten nimmt er die Zukunft vorweg, in der er es ist, der reden wird, und die anderen zuhören sollen, und in der er seine verwunderlichen, funkelnden neuen Antworten auf die Frage gibt, wer Gott ist.

Maria und Josef begreifen nichts, und das ist nicht weiter erstaunlich. Denn wer kann begreifen, dass ihr Sohn nicht einfach nur ihr Sohn ist? Ja, das Feine ist dabei, dass wir, die wir die Geschichte hören, es begreifen können. Denn dies ist es ja, was die Engel und die Hirten und Zacharias und Simeon und Anna und die Weisen uns in den vergangenen Wochen gesagt haben. Wir begreifen es, wir begreifen mehr als die Eltern. Lukas weiß sicher, was er tut. Indem er die Schwerfälligkeit der Eltern sichtbar macht, weist er uns die angenehme Rolle der gut informierten Zuhörer zu, die mehr verstehen als die Hauptpersonen der Geschichte - sofern es überhaupt verstehbar ist, dass der aufgeweckte Zwölfjährige, der eines Tages nach Ostern vor 2000 Jahren im Tempel von Jerusalem steht, Sohn des Schöpfers des Himmels und der Erde ist. Dass Marias Sohn zugleich Gott und Mensch ist. Das ist es, was wir begreifen, noch bevor es seine Eltern begreifen: Dass wir hier Gott begegnen, in diesem jungen Menschen, der mit beiden Beinen fest auf der Erde steht, auf der wir uns bewegen. Wenn wir wissen wollen, wer Gott ist und was er mit uns will, dann ist es hier, wo er uns seine Antwort gibt. In diesem bestimmten Menschen, der nicht einfach nur bei seinem Vater im Tempel von Jerusalem ist. Er ist überall bei seinem Vater, wo er auftritt, in allem, was er tut, in allem, was er sagt. "Mein Vater," sagt er im Evangelium von heute. Später lehrt er uns, "unser Vater" zu sagen. Später gibt er sein Leben hin, um uns zu finden und uns wieder mit dem Vater zu vereinen, von dem wir uns entfernt hatten.

Das Evangelium von heute ist die Geschichte vom Konflikt zwischen zwei Loyalitäten in Jesu Leben. Von der Loyalität mit seinen irdischen Eltern und der Loyalität mit seinem himmlischen Vater. In der Geschichte steckt eine eigenartige Schärfe, denn seine Eltern finden den Knaben dort, wo er selbst hingegangen ist - und er antwortet ihnen wie ein Fremder. Wie einer, der sein Zuhause ganz woanders hat als in ihren guten Stuben. Auf diese Weise kann das Paradox genau so scharf und unbegreiflich stehen bleiben wie es tatsächlich ist. Aber Lukas mildert der Schärfe mit dem freundlichen Schluß, wenn er erzählt, dass der Knabe mit seinen Eltern nach Hause zurückkehrt und ihnen gehorsam ist - und dass seine Mutter alle diese Worte in ihrem Herzen behielt, in ihrem Herzen, in dem sie auch die Worte der Hirten in der Weihnacht behielt. Dort liegen sie als Resonanzboden für all die anderen verwunderlichen Worte, die sie aus seinem Munde hören wird, bis zu dem Tage viele Jahre später, als sie ihn draußen in der Morgensonne wiederfinden wird. Nicht in dem Grab, in dem sie ihn zu finden glaubte. Sie glaubte, sie hätte ihn für immer verloren. Aber sie irrte sich. Jetzt geht ihr endlich ein Licht auf. Erst jetzt versteht sie, wer es ist, den sie unter ihrem Herzen getragen hat.

Amen



Pastorin Marianne Frank Larsen

E-Mail: MFL@KM.DK

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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