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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Sonntag nach Epiphanias, 16.01.2011

Predigt zu Exodus (2. Buch Mose) 33:17b-23, verfasst von Günter Goldbach

 

Liebe Christinnen und liebe Christen,

den 2. Sonntag nach dem Epiphaniasfest feiern wir in diesem Gottesdienst. „Epiphanias“, das heißt ja, wie wir alle wissen werden: „Erscheinung“. Und gemeint ist natürlich die Erscheinung der Herrlichkeit Gottes in Jesus Christus – die zum Beispiel die Heiligen Drei Könige nach dem Evangelium des Epiphaniastages in dem Kind Jesus erkennen und anbeten (Mt. 2,11). Johannes fasst dieses Geschehen im Prolog seines Evangeliums in die unvergänglichen Worte: „Wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“ (Joh. 1,14).

In dem uns für den heutigen Sonntag vorgelegten Predigttext aus dem 2. Buch Mose steht von alledem scheinbar nichts. Natürlich nicht, möchte man sagen. Von Jesus aus Nazareth kann da ja gar nicht die Rede sein. Und in Bezug auf die Erscheinung der Herrlichkeit Gottes wird eher das Gegenteil behauptet. „Lass mich deine Herrlichkeit sehen“, bittet Moses Gott, den Herrn, in dem zitierten Gespräch (v 18). Aber diese Bitte wird abgelehnt. „Mein Angesicht kannst du nicht sehen“ (v 20). Vielmehr: Moses soll in eine Felsenhöhle gestellt werden. Gottes Hand soll ihm vor die Augen gehalten werden, damit er nichts sieht. Nur ein Nach-Sehen wird ihm gestattet, „Du darfst hinter mir her sehen“ (v 23).

Aber ja: Das ist unter verschiedenen Aspekten ein schwieriger Text, dem ein komplizierter Sachverhalt zugrunde liegt. Natürlich ist das sowieso kein Gesprächs-Protokoll. Vielmehr ein literarischer Text. Aber die literarkritischen Verhältnisse und die überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhänge sind unter den Fachleuten umstritten.
Wo beginnt der eigentliche Textzusammenhang? Mit der Gnadenzusage Gottes an Moses in v 17: „Du hast Gnade gefunden…“ oder mit der leidenschaftlichen Bitte des Mose: „Lass mich doch schauen deine Herrlichkeit“ in v 18? Und das scheinbar Positive der Gnadenzusage – wird es nicht sofort wieder infrage gestellt durch den Hinweis auf die Unverfügbarkeit, ja die Willkür Gottes: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig…“ (v 19)? Und ist es nicht doch eine menschenunfreundliche, um nicht zu sagen -unwürdige Behandlung, wenn Moses in eine dunkle Höhle gestellt wird?! Um von Gott nur mittelbar, indirekt, etwas von dem Kern seines Wesens erfassen zu können – im Vorüberziehen höchstens, im Nachsehen höchstens?!

Wie gesagt, die Ausleger streiten über dies alles. So sehr, dass einer von ihnen dazu rät, „sich noch mehr als sonst vor der Vielwisserei der Exegeten zu hüten“ (K. G. Steck in: Herr, tue meine Lippen auf, Bd. 5, 2. Aufl. 1961, S. 178). Einig ist man sich eigentlich nur darin: Die zentrale Aussage des Textes ist die von der Unsichtbarkeit Gottes. Und damit doch für uns, wie für Moses, die Unmöglichkeit, Gottes Willen in den dunklen Zeitläufen dieser Welt und in den unbegreifbaren Ereignissen unserer eigenen Lebensschicksale erkennen zu können. Sollen wir es nicht in der Tat auch so sehen müssen: Die ganze sichtbare Welt leidet an der Unsichtbarkeit Gottes?! Dietrich Bonhoeffer hat es gegenüber seinen Studenten (1931) jedenfalls drastisch formuliert: „Die Unsichtbarkeit (Gottes) macht uns kaputt“ (Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 61).

Liebe Christen, ich will es zugeben: Dieser rigorosen Aussage des berühmten Theologen kann ich mich nicht anschließen. Vielmehr will ich eingestehen: Mich hat dieser großartige Text ganz anders angesprochen, um nicht zu sagen „angerührt“: Der gnädige Gott – das höre ich als Grundthema aus diesem Text heraus. Und ich würde Sie gerne einladen wollen zu prüfen, ob Sie dieser Empfindung im Hören auf den Text nicht auch zustimmen können.

Drei Aspekte sind es, auf die ich dazu Ihre Aufmerksamkeit lenken möchte. Und folgende grundsätzliche Fragen an Sie will ich voranstellen:
   Strömt aus der archaischen Bildkraft des Textes nicht eine mächtige Emotion – durch Worte, die das Menschliche stilisieren, verwandeln und durchschreiten?
   Begegnen hier nicht Worte und Visionen, die über ein begreifbares Reden und Sehen hinausgehen, um das Unsagbare auszusagen und das Unsichtbare sichtbar zu machen?
   Worte und Visionen, die versuchen, dem Sinn menschlichen Lebens eine unbestreitbare Größe zu verleihen?

Was Moses sich wünscht, das wünscht sich ja jeder: Gottes Wege zu verstehen – angesichts aller Rätsel des Schicksals. Gottes gnädigen Dabeiseins gewiss zu werden – angesichts aller Unwägbarkeiten der Zukunft. Gottes Herrlichkeit zu schauen – angesichts aller Finsternisse dieser Welt. Vor allem: Gottes Gnadenzusage so persönlich zu hören, seine schützende Hand so direkt zu spüren, seine Herrlichkeit auch nur mittelbar zu schauen!

Aber können wir Hörer dieser wundersamen Geschichte erwarten, was nicht zu erwarten ist? Geschieht, was hier geschieht, nicht an Moses allein und nur durch ihn dem Volk Israel? „Moses ist in diesen Geschichten und Gesichten nicht der geborene Moses von seinem Vater Amram, ein privater Moses, sondern der berufene Prophet des Volkes Israel“, erklärt Martin Luther (EA 37, S. 73) – womit er uns in hilfreicher Weise den tiefen theologischen Sinn dieses Textes aufschließt: Moses ist hier nicht der „private“ Moses, sondern der Typus des Begnadeten und Erwählten: Der von Gott begnadete und erwählte Mensch hört und sieht, was Moses hört und sieht.

Und nur weil Subjekt dieses Redens und dieser Vision nicht ein Stifter der „Menschheitsneurose Religion“ (Freud) ist, sondern Gott, der „Ich-bin-der-ich-bin“, deshalb können und sollen auch wir diese Worte hören und an dieser Vision teilhaben, die der Wind von dreitausend Jahren nicht zerstreut und der Schatten von dreitausend Jahren nicht verdunkelt hat. Weil Worte und Vision nicht in das „Zeitalter der unterworfenen Vernunft“ (Nietzsche) gehören, sondern ohne alles neumodische Make-up die uralte Menschheitsfrage nach Gott beantworten, kann dieser Text unser verzagtes menschliches Herz (wie das des Mose) aufrichten und trösten.

An den schon angesprochenen drei Aspekten möchte ich das für Sie noch ein wenig verdeutlichen. Zunächst:

Nichts als Gnade kennzeichnet Gottes Zusage: „Ich kenne dich mit deinem Namen“ (v 17). Damit ist doch nichts anderes als Gottes persönliche Zusage, ja seine erwählende Liebe gemeint. „Wem Gott gnädig ist, der kann für immer und unter allen Umständen dieser Gnade gewiss sein, und Gott wird sich immer wieder derer erbarmen, denen er einmal und ein für allemal seine Barmherzigkeit zugewendet“, sagt ein Ausleger unseres Textes (W. Stählin, Predigthilfen III, 1959, S. 66). Genau so ist es: Wir haben einen Gott, der ohne jeden Grund gnädig ist und sich deshalb auch jeden Anspruch darauf verbittet. Bei dem man sich durch „Werke“ nichts verdienen kann. Der durch Opfer nicht bestochen zu werden braucht. Der absolut frei ist, gebunden nur durch sich selbst – an die Zusage seiner Gnade. Dessen Treue auch durch unsere Untreue nicht auflösbar ist.

In der Kleinstadt des nördlichen Ruhrgebiets war Jürgen Weber in früheren Jahren Gruppenleiter der Evangelischen Jugend gewesen. Dann hatte er sich mit dem Pfarrer zerstritten und war aus der Kirche ausgetreten. Stattdessen hatte er sich bei den Humanisten engagiert und es schließlich bis zum Vorsitzenden der Humanistischen Union gebracht.
Die evangelische Kirchengemeinde war in den letzten Jahren sehr viel kleiner geworden. Das Gemeindehaus musste zum Verkauf angeboten werden. Dafür war ein Teil der Kirche als Versammlungsort eingerichtet worden. Ausgerechnet die Humanistische Union wollte nun das Gemeindehaus für ihre Zwecke nutzen.
Als Jürgen Weber den größten Raum des Hauses, den früheren Gemeindesaal betrat, sah er als Erstes das noch verbliebene große Kruzifix an der Stirnseite des Saales. Er ordnete gegenüber den Handwerkern sofort an, das Kruzifix zu entfernen. Aber das war leichter gesagt als getan. Der Kruzifixus war mit dicken eisernen Streben in die Wand eingelassen und ließ sich nicht so einfach entfernen. Als der Mann sah, wie sich die Leute vergeblich bemühten, den Gekreuzigten zu beseitigen, winkte er schließlich ab. Er fuhr noch am gleichen Tag in sein Büro, legte sein Amt als Vorsitzender der Humanistischen Union nieder und zerriss seinen Mitgliedsausweis.

Liebe Christen, niemand kann so weit fortlaufen, dass Gott ihn nicht zu erreichen vermöchte, und liefe er fort bis an das Ende der christlichen Welt. Gott kann ihn auch noch von dort zurückbringen. Sein Zorn hebt seine Treue nicht auf. – Das ist das Eine.

Das Zweite ist dies: Nichts als Gnade führt Gottes Hand zum Schutz des Erwählten (v 22f). Ja, dem Mose wird ein „Raum auf dem Fels“ zugeteilt. Und er wird damit „eingeschränkt“. Aber diese Einschränkung möchte ich gerne als einengenden Schutz verstehen. Anspruchsvoller formuliert: Grenzenlosigkeit, absolute Freiheit – würde das den Menschen nicht überfordern und letztlich zugrunde richten? Er würde der Hybris verfallen und dem „Gotteskomplex“ (Horst-Eberhard Richter). Dass dem Menschen Grenzen gesetzt werden, rettet sein Leben. Und obschon er sich immer wieder gegen die ihm gesetzten Begrenzungen auflehnt, bleibt die Hand Gottes über dem sich Auflehnenden, den er einmal und ein für allemal erwählt hat. Und manch einer der Empörer bekennt hernach wie Jakob: „Gewisslich war der Herr an diesem Ort, und ich wusste es nicht“ (1. Mose 28,16).

Der israelische Soldat Samuel Mardochai war während einer Patrouille im Westjordanland mit seinen Kameraden aus einem Hinterhalt beschossen worden. Sie waren mit ihrem gepanzerten Fahrzeug erst ein Stück weitergefahren, hatten dann den Wagen verlassen und sich zurückgeschlichen. Als Samuel Mardochai vorsichtig um die Ecke eines der einfachen Häuser herumlugte, sah er sich urplötzlich einem palästinensischen Jungen gegenüber, der ein Gewehr noch in der Hand hielt. Erschrocken ließ der das Gewehr fallen und schlug mit hastiger, fahriger Bewegung ein Kreuz. Der Verstand hätte ihn tadeln müssen, dass er seine Zeit darauf verschwendete, wo es um Bruchteile von Sekunden ging. Aber der israelische Soldat schoss nicht. Er hatte angesichts des Kreuzeszeichens das bestimmte Gefühl, der palästinensische Junge habe sich mit dieser Geste unter höheren Schutz gestellt. Und dann hob er gleichfalls die Hand, machte das Zeichen des Kreuzes, unbeholfen und linkisch, denn seine Religion praktizierte den Brauch dieser Geste natürlich nicht. Danach zog er sich vorsichtig wieder zurück.

Der Mensch als Herr über Leben und Tod, der Mensch in der Hand des Menschen – eine alte, nur allzu bekannte Geschichte. Doch wer die schützende Hand Gottes über dem Menschen spürt, das möchte ich damit sagen, dessen Freiheitsraum ist eingegrenzt. Er hat die Freiheit nur noch zum Guten. Und er hat Raum zur Umkehr. – Das ist das Zweite.

Und schließlich das Dritte und Letzte ist dies: Nichts als Gnade gewährt dem Mose die Möglichkeit, Gott „nach-zuschauen“ (v 19.23). Gottes Angesicht, Gott selbst zu sehen, dazu hat kein Mensch die Möglichkeit. Gott wird nur im Nachhinein, aposteriorisch, geschaut. Wie für den alttestamentlichen Moses gilt das auch für die neutestamentliche Zeit. „Wir sahen – Vergangenheitsform! – seine Herrlichkeit“ (Joh. 1,14), bekennen diejenigen, die ihn nicht erkannten, als seine Herrlichkeit durch ihr Leben hindurchging. Erst recht kann unser Glaube nur aus der nach-denkenden Betrachtung geboren und bekannt werden. Das Heilsgeschehen am Kreuz vermittelt ja nun wirklich keine unmittelbare, sondern, gegen allen Augenschein, eine nachträgliche – aposteriorische – Schau der Herrlichkeit Gottes.

Er war, wie wir sagen würden, ein einfacher Mann, den ich im Krankenhaus öfter besuchte. Als es ans Sterben ging, bat er mich um ein Kruzifix. Und dann hielt er sich diesen hölzernen Kruzifixus fest umklammert vor Augen, solange wie sein Todeskampf dauerte. Seine letzten Worte waren so etwas wie eine Predigt. „Wende dein Gesicht immer der Sonne zu“, sagte er, „dann fallen die Schatten hinter dich.“

Gott von Angesicht zu Angesicht schauen, das ist uns verwehrt. Aber Gott nach-schauen, unsere Blicke auf die Spuren richten, die er gelassen hat, als er über unsere Erde ging, das können auch wir. Und dann könnte es durchaus geschehen –: Das vom Kreuz Jesu her auf uns fallende Licht lässt die Finsternis verschwinden. Wenn wir uns diesem Licht zuwenden.

Jetzt mögen einige von Ihnen vielleicht denken: Nun ja, ein paar fromme Geschichten. Das stimmt. Aber es sind auch wahre Begebenheiten. Sie handeln von Menschen, die an Schicksalspunkten ihres Lebens eine Erfahrung machen, die über ihre bisherigen Erfahrungen hinausgeht. So können wir alle uns gegenseitig aufmerksam machen auf „Nahtstellen“ des Lebens, die wir so noch nie gesehen haben und an denen vielleicht Gottes Herrlichkeit zu ahnen ist. Und es könnte doch sein, dass durch sie der eine oder die andere von uns so ganz nebenbei – oder auch direkt – auf jene Wahrheit trifft, die unser je eigenes Leben be-trifft.

Die wundersame Geschichte der Gottesbegegnung des Mose vermag uns auf eindrucksvolle Weise dazu anzuleiten, nicht an der Unsichtbarkeit Gottes zu verzweifeln, sondern (wie ich versucht habe, sie auszulegen) sie als Gnadenmittel zu glauben. Wie es im Übrigen wohl auch Dietrich Bonhoeffer ergangen sein mag, der sich – anders als, wie zitiert, in seiner Zeit als Studentenpfarrer in späteren Jahren (1944) – trotz allem, was ihm widerfuhr – „wunderbar geborgen“ zu glauben vermochte (vgl. »Von guten Mächten«, EG 65,7).

Amen.



Dr. Dr. Günter Goldbach
Osnabrück
E-Mail: guenter.goldbach@uni-osnabrueck.de

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