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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Epiphanias, 23.01.2011

Predigt zu Matthäus 8:1-13, verfasst von Henriette Pedersen

 


Liebe Gemeinde,

demnächst wird hier bei uns eine große, landesweite „Entstigmatisierungskampagne" eingeläutet werden. Die fünf Regionen des Landes und eine Reihe von Patienten- und Angehörigenorganisationen haben beschlossen, die vielfältigen psychischen Leiden in den Mittelpunkt zu rücken. Der Mangel an Wissen über Geisteskrankheiten allerseits hat zu einem oft negativen Bild von Menschen mit seelischen Erkrankungen geführt. Darum wird sich die Kampagne bemühen, Tabus aufzudecken, die unter uns allen weit verbreitet sind - bei den sogenannten Gesunden, den chronisch Kranken, den ehemaligen Kranken, Ehepartnern, Lebenspartnern, am Arbeitsplatz, unter Freunden, Bekannten, in Familien und im Gesundheitswesen.

Das Wort Stigma kommt aus dem Griechischen und bedeutet Brandmal. In einer kürzlich erschienenen Untersuchung (Stigma und psychische Leiden - wie sie erlebt und verstanden werden von Menschen mit psychischen Leiden und von den Bürgern in Dänemark, Oktober 2010) wird „Stigma" mit „diskriminierendes Kennzeichen" übersetzt. Das Wort bezeichnet also die Gruppe der Menschen, die in der einen oder anderen Weise von der Norm oder vom Idealbild des funktionstüchtigen Menschen abweichen.

Als ich den Bericht durcharbeitete, wurde mir mit einem Mal völlig klar, dass man Jesu Weg auf Erden gewissermaßen als eine umfassende Entstigmatisierungskampagne beschreiben könnte. Der Bericht enthält Aussagen sowohl von kranken wie auch von gesunden Menschen, und was mir an ihnen besonders auffiel, war die Scham darüber, mit einem psychischen Leiden zu leben. Die allermeisten möchten am liebsten im Verborgenen bleiben mit ihrem Leiden. Jeder Fünfte zum Beispiel möchte seine Krankheit vor seinem Partner, vor nahen Freunden und vor der eigenen Familie geheim halten. Jeder Vierte möchte seinen Kollegen nichts davon erzählen. Man kann sich denken, wie viel Kraft jemand, dem es sowieso schon schlecht geht, noch zusätzlich aufwenden muss, wenn er die Fassade von Gesundheit aufrecht erhalten will... bis sie Risse bekommt.

Aber das Christentum verlangt nicht, dass wir unsere schwachen Nerven verbergen müssen, und schon gar nicht, dass wir uns ihrer schämen. Nichts braucht das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen; Jesus hatte Teil an allen Arten von Problemen. Und seine Lösungen richteten sich immer auf die Gemeinschaft aus. Nehmen Sie zum Beispiel den Aussätzigen im heutigen Text!

Als Aussätziger galt man zur Zeit Jesu als unrein. Die Krankheit war ansteckend, und damit alle anderen sich nicht infizierten, wurde der Kranke aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Das Interessante am Evangelium von heute nun ist, dass der Kranke selber sich um sein eigenes Leiden kümmert und sich Hilfe sucht. Im Gesetz des Mose, im Alten Testament, gibt es einen Abschnitt über den Aussatz. Dort können wir lesen, dass der Priester des Ortes sozusagen die Rolle eines Medizinmannes innehatte. Er hatte zunächst die Diagnose zu stellen, was alles in allem zweimal sieben Tage in Anspruch nahm. Dann musste er entscheiden, ob der Kranke in der Gemeinschaft bleiben oder als unrein abgestempelt und daher fortgeschickt werden sollte.

Jesus also heilte den Mann und schickte ihn dann wieder zurück zum Priester, damit dieser den Befund feststellen und entsprechend entscheiden konnte, ob der Mann gesund geworden wäre und damit rein. Und am Ende konnten die beiden dann gemeinsam Gott danken. Der Mann konnte wieder in die Gemeinschaft aufgenommen werden. Das alles geschah nach dem Handbuch für die Behandlung von Aussätzigen.

Der Bericht über den römischen Offizier dagegen bewegt sich außerhalb jeder Norm. Hier wird uns davon erzählt, dass die Gemeinschaft nicht nur eine nationale Größe ist, an ein bestimmtes Volk mit einer bestimmten Geschichte geknüpft. Für Jesus war sie bei weitem größer. Sie schloss auch den Fremden ein, hier also einen römischen Offizier. Und genau wie der Aussätzige die Verantwortung übernahm und um Hilfe bat, so tat es auch der Römer für seinen Knecht, der gelähmt zu Hause lag.

Am erstaunlichsten dabei ist, dass jener, ohne zu zögern, Jesus „Herr" nannte. Ein Feind des Landes erkennt unseren Herrn als HERRN an, und Jesus vergilt ihm diese Anerkennung. Wie es ja geschrieben steht, und wie wir es vorhin in der Lesung aus dem Alten Testament (5. Mose 10,19) gehört haben: Darum sollt ihr die Fremdlinge lieben, denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland.

Es leuchtet schon ein, dass Jesus verwundert war über diesen Römer. Wir müssen bedenken, dass Jesus gerade vom Berg herabgekommen ist, auf dem er seine, mag sein, wichtigste Rede gehalten hatte vor seinen Jüngern - in Anlehnung an Kennedy sinngemäß auf den Generalnenner gebracht: „Frage nicht danach, was dein Nächster verkehrt macht, sondern frage, was du für deinen Nächsten tun kannst!"

Die Bergpredigt macht es uns gewiss nicht leichter, Mensch zu sein. Jesus benannte und erhob neue Forderungen - und er hielt einem jeden Zuhörer den Spiegel vor! Beispielsweise, wenn er sagte: ... zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst (Mt. 7,5).

Er sprach von der Feindesliebe - und davon, auch die andere Backe hinzuhalten! Anderen gegenüber so zu sein, wie wir wollen, dass sie uns gegenüber sind! Er belehrte die Jünger darüber, dass sie ihr Licht leuchten lassen sollten, so dass andere Freude daran haben! Und dass sie sich nicht um das Morgen sorgen sollten.

Dass aber die Rede von diesen Forderungen auch zu den Römern, dem Feind, gelangt sein sollte, muss etwas über die Vollmacht aussagen, die in Jesu Worten liegt. (Vielleicht war es das, worüber Jesus sich wunderte; ob vielleicht selbst der Menschensohn über seine eigene Wirkung staunte?) Ansonsten jedoch unterstreicht das Handeln des Römers, dass Jesu Wort sich an uns alle richtet: Freund wie Feind, Rein wie Unrein, Hoch wie Niedrig, Krank wie Gesund und so weiter und so weiter!

Beide - der Aussätzige und der Römer - verbargen in keiner Weise ihre Wunden. Sie waren und blieben vom „diskriminierenden Kennzeichen" gezeichnet, aber sie nahmen es geradewegs mit in die Gemeinschaft. Der Römer - der Feind, die Besatzungsmacht - hätte sich sicherlich ebenso gut auf seinen eigenen Kult besinnen können, doch aus unerfindlichen Gründen sprengte er diesen Rahmen und bat Jesus um Hilfe für seinen Untergebenen. Ein mutiger Mann, dem offensichtlich völlig gleichgültig war, was andere denken mochten! Mut brauchte auch der Aussätzige, um seine Isolation zu durchbrechen - eine Isolation wohlgemerkt, die die etablierte Priesterschaft aufrecht erhielt.

Entstigmatisierung gehört mithin in die Gemeinschaft, nicht in die eignen vier Wände, ins Verborgene, ins Dunkel. Heilung unserer Wundmale geschieht in der Gemeinschaft, auf die unser HERR wieder und wieder verwies. Die negativen Bilder verändern sich allmählich, sie rücken in ein anderes Licht, vielleicht sogar ein völlig neues Licht. Langsam werden wir vielleicht sogar klüger und verstehen uns selbst und einander besser. Und so wächst hoffentlich schließlich in uns der Mut, wir selbst zu sein - im Guten wie im Schlechten, aber immer als wunderbare Rätsel!

Ich habe am Anfang behauptet, Jesu Leben sei eine umfassende Entstigmatisierungskampagne gewesen! Ja, das ist wahr. Denn er nahm buchstäblich unsere Wundmale auf sich, setzte sein Leben voll und ganz dafür ein, dass kein Mensch isoliert leben muss oder der Finsternis anheim fallen. Darum können und sollen wir Lob, Dank und Ehre sagen Gott, dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, der da war, ist und bleibt der dreieinige Gott, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Amen



Gemeinde- und Klinikpfarrerin Henriette Pedersen
Aalborg
E-Mail: hp@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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