Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Epiphanias, 30.01.2011

Predigt zu Matthäus 14:22-33, verfasst von Bernd Giehl


Liebe Gemeinde!

Es gibt Geschichten in der Bibel, die uns auf die Probe stellen. Geschichten, die polarisieren. Vielleicht lag das nicht einmal in der Absicht ihrer Verfasser. Aber wenn wir uns jetzt in einen Kreis setzen und anfangen würden, über diese Geschichte zu sprechen, würden Sie sehen, wie kontrovers die Meinungen wahrscheinlich sein würden.

Würden Sie es wagen, mit mir in ein Gespräch über diese Geschichte einzutreten? Oder ist es Ihnen lieber, erst einmal zuzuhören? [Wer es wagt, kann an dieser Stelle ja versuchen, in ein Gespräch mit seinen Zuhörern einzutreten. Sonst geht es folgendermaßen weiter.] 

Das ist gar nicht so einfach, ein Gespräch in der Kirche zu beginnen. Noch dazu in einem Gottesdienst, wo Sie, die Gemeinde, sonst nur vorformulierte Sätze sagen dürfen. Also versetze ich mich einmal probeweise in Sie hinein. Ich tue jetzt so, als könnte ich meine Kanzel verlassen und mich unter Sie mischen. Stellen Sie sich vor, ich sei ein Gemeindeglied, dessen Gedanken Sie jetzt hören können.

*

Ob er das wohl auch vermöchte? Ich fürchte, es fehlt ihm noch ein bisschen. Fromm ist er ja schon, unser Herr Pfarrer. So einen wie Pfarrer Maier habe ich mir immer gewünscht. Der wenigstens sagt, was in der Bibel steht. Der sucht nicht lang und breit nach Erklärungen. Wenn es da steht, dass Jesus auf dem Wasser laufen konnte, dann ist das auch so. Schließlich ist Jesus ja Gottes Sohn. Und der schafft mit Leichtigkeit, was anderen nicht gelingt. Noch Fragen? Dann ist es ja gut.

Und doch, ein bisschen schade finde ich es ja schon. Ich meine, wenn Jesus doch dem Petrus erlaubt hat, ebenfalls übers Wasser zu gehen, und der das dann auch konnte, warum gibt er uns dann nicht auch diese Fähigkeit? Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will ja gar nichts für den eigenen Ruhm. Auch unser Pfarrer würde es nicht für sich wollen. So demütig wie der ist. Zieht immer zuerst den Hut, wenn man ihm begegnet. Aber wenn der Wunder tun könnte, so wie Jesus, dann wäre unsere Kirche endlich einmal voll. Von überall her würden sie kommen. Und alle Zeitungen würden darüber schreiben.

Nichts gegen die christliche Demut, aber bitte, Herr, könntest du nicht ein Einsehen haben mit deiner armen Gemeinde und dem einen oder anderen unter uns die Kraft verleihen, Menschen zu heilen oder übers Wasser zu gehen? Es muss ja nicht gleich eine Totenauferweckung sein. Stell dir vor, Herr, was dann passierte. Dann würden sie endlich wieder zur Kirche kommen und den gottlosen Pfarrern würde das Maul gestopft.

*

In Ordnung, das war womöglich schon hart an der Grenze. Ironie in der Predigt - ob das ein Pfarrer darf? Muss wohl mal bei der Kirchenleitung anfragen. Aber jetzt bin ich brav und sage: Dieses Verständnis der Geschichte vom Seewandel ist den meisten vermutlich fremd. Normalerweise tun wir uns schwer mit solch krassen Wundergeschichten. Dass Jesus Kranke heilt und dafür übernatürliche Fähigkeiten einsetzt, das verstehen wir ja womöglich noch. Und wer nicht glaubt, dass Jesus übernatürliche Kräfte zur Verfügung standen, kann sich immer noch darauf hinausreden, dass der Glaube oft Wunder bewirkt; anders wären Heilungen durch Homöopathie oder in der Grotte von Lourdes wohl nicht zu verstehen. Es gibt ein Zusammenwirken von Körper und Seele, das wir mit den Mitteln der Naturwissenschaft nicht erklären können. Wenn eine kranke Seele den Leib krank machen kann, dann kann eine geheilte Seele auch den Körper heilen. Aber eine Geschichte, wo einer übers Wasser läuft, einfach nur so; was - bitte - sollen wir mit der anfangen?

Da hilft wohl nur eins: Noch einmal die Perspektive wechseln! Wie das geht? Ganz einfach, indem ich der Geschichte eine neue Überschrift gebe. „Der Seewandel" habe ich sie vorhin genannt. Versuchen wir es doch einmal mit einer anderen Überschrift. Heißen könnte sie: „Jesus kommt spät."

*

Interessant, nicht wahr? Plötzlich verschiebt sich der Fokus. Weg von dem Jesus, der scheinbar alles kann, und hin zu den normalen Menschen. Zu denen, die weder einen tobenden Sturm beruhigen noch auf dem Wasser laufen können. Hin zu denen, die in einem schwankenden kleinen Boot sitzen, gegen Sturm und Wellen ankämpfen und nicht wissen, ob sie in fünf Minuten kentern und zwei Minuten später im Jenseits sind.

Das allein könnte schon genügen. Von solchen Geschichten können wir unser eigenes Lied singen. Jedenfalls dann, wenn wir gelernt haben, die Geschichten der Bibel so zu nehmen, wie sie gemeint sind: als Spiegel, in dem uns unser eigenes Leben deutlich wird. Dazu muss man sie nur genau lesen; genauer vielleicht, als wir es gewohnt sind. Muss sich Zeit nehmen, auch für die scheinbaren Nebensächlichkeiten.

„Am Abend", so erzählt unsere Geschichte, stieg Jesus allein auf den Berg und schickte seine Jünger zurück ans andere Ufer. Die Begegnung mit dem auf dem See wandelnden Jesus passiert später, in der „vierten Nachtwache". Die vierte Nachtwache, das ist die Zeit von drei Uhr nachts bis sechs Uhr morgens. Anders gesagt: Sie sind schon viele Stunden unterwegs und vermutlich tobt der Orkan auch schon eine ganze Weile.

Nun sind sie ja keine blutigen Laien, sondern erfahrene Fischer, die sicher schon den einen oder anderen schweren Sturm überstanden haben. Aber diesmal geht es ums nackte Leben. Da muss die Frage schon erlaubt sein, wo Jesus bleibt. Ob er den Sturm nicht vorausgesehen hat? Vermutlich hätten sie weniger Angst, wenn er jetzt bei ihnen wäre. Er könnte ein Gebet sprechen, er könnte ihnen Mut machen, womöglich könnte er den Wind beruhigen; alles möglich, aber er ist nicht da.

Er musste allein sein; er musste sich Kraft im Gebet holen, alles gewiss wichtig, aber wenn es um Leben und Tod geht, zählt das alles nicht mehr. Möglich, dass er neue Nachfolger findet, wenn sie untergehen; möglich, dass sie für Gott gar nicht so wichtig sind oder dass der ihre Zeit für gekommen hält, aber es gibt Gedanken, die sind nicht tröstlich, die helfen nicht und Hilfe ist das, was sie jetzt am allermeisten brauchen.

Jesus kommt spät. Aber immerhin, er kommt.

*

Haben Sie es bemerkt? Man muss dieser Geschichte nur eine andere Überschrift geben, und schon sind wir mittendrin. Schon sind wir beteiligt; schon erzählt sie von uns. Und doch ist es nur ein kleiner Schritt, den wir da getan haben. Wir haben die Perspektive gewechselt, und schon fühlt sich die Geschichte ganz anders an.

Und jetzt lassen Sie uns versuchen, noch einen weiteren Schritt zu machen. Die Geschichte hat uns getragen, ohne dass wir es richtig gemerkt haben. Sie hat von uns erzählt, von den Bedingungen, unter denen wir leben. Vom Schrecken, der uns überfallen kann von einer Sekunde auf die andere, vom Boden, der unter uns wegbricht, vom tiefen Wasser, in das wir manchmal geraten, ohne recht zu wissen, wie uns geschieht. Vermutlich würde jede und jeder von uns die eine oder andere Geschichte aus seinem oder ihren Leben erzählen können, in der der Sturm losbrach, ohne dass man wusste, wie einem geschah. Aber ich möchte jetzt noch ein wenig weitergehen und sagen: Da kommt jetzt einer übers Wasser zu uns und redet uns an.

Na klar, werden die Skeptiker jetzt sagen; ist ja ganz einfach, übers Wasser zu gehen; steht ja schon in der Bibel. Aber wenn wir noch einmal einen Augenblick überlegen, dann könnte es sein, dass uns Situationen einfallen, in denen es so passiert ist. Es muss sich nicht einmal um ein übernatürliches Geschehen handeln. Da war jemand, der unsere Angst ausgehalten hat. Jemand, der nicht gleich sagte: Wird schon werden. Alles nicht so schlimm. Auf Regen folgt auch wieder Sonnenschein, oder was dergleichen Sprüche mehr sind. Da war jemand, der einfach nur zuhörte, als wir vom Schrecken erzählten. Der nicht abwehrte. Der bei uns blieb.

Und dann? Dann hebt sich plötzlich der eigene Blick. Da kommt jemand auf uns zu, einer vom weit entfernten Ufer, einer der sich nicht vor dem Wasser fürchtet, auch nicht vor dem Schrecken, der uns fast weggerissen hat, und mit einem Mal ist der Schrecken nicht mehr gar so Furcht erregend. Wenn der Andere übers Wasser laufen kann, dann können wir das auch.

*

Womit wir also bei Petrus wären. Es ist kein Zufall, dass es ausgerechnet Petrus ist, der das eigentlich Unmögliche wagt. Im Neuen Testament ist es immer wieder Petrus, der herausragt aus der Menge, der das sagt und das wagt, was sonst keiner wagt. Petrus ist mutig. Wenn Jesus auf dem Wasser laufen kann, dann kann er es auch. Womöglich geht es ja doch nicht so schnell, wie ich es vorhin suggeriert habe.

Es braucht schon einen gewissen Mut, die letzten Sicherungen hinter sich zu lassen und sich dem Ungewissen anzuvertrauen. Man könnte es für ein Spiel halten, aber ich glaube, es ist kein Spiel. Jedenfalls dann, wenn meine Auslegung stimmt und es nicht so sehr um Jesus geht, sondern um uns, ist es kein Spiel, sondern schlichte Notwendigkeit: Es gilt, den Blick zu heben, nicht auf die Gefahr zu sehen, sondern auf das Rettende.

Es gibt ein Sprichwort, das uns allen auf den Leib geschrieben wurde, von früher Kindheit an. Dieses Sprichwort heißt: „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um." Ängstliche Naturen würden das jetzt womöglich dem aus dem Boot steigenden Jünger zurufen - aber es gibt Sprichworte, die sind nicht wahr, die dienen allein den Interessen der Mächtigen, und dieses Sprichwort gehört dazu. Wolf Biermann hat es in einem seiner Lieder umgedichtet. „Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um."

Es gibt Situationen, in denen muss man sich der Gefahr stellen, und genau das begreift Petrus. Manchmal muss man darauf vertrauen, dass das Wasser trägt. Anders bleibt man ein Leben lang gefangen in seiner Angst. Man wird ihr nicht entkommen; nicht auf Dauer jedenfalls. Aber wenn man nicht für immer in ihr stecken bleiben will, muss man sich aufs Wasser wagen. Vielleicht nicht jedes Mal, vielleicht nur ein- oder zweimal im Leben, aber es gibt Augenblicke, in denen hat man eigentlich keine andere Wahl. Ich denke, man wird es spüren, wenn es soweit ist.

Aber auch das gehört zur Wahrheit: Das alles ist nicht ohne Risiko. Manchmal überschätzt man seine Kräfte. Petrus hat das gewagt, was außer ihm keiner gewagt hat. Er schafft es auch ein paar Schritte weit, aber dann beginnt er zu sinken. So passiert das eben, wenn man sich selbst überschätzt, sagen die Vorsichtigen, und die Neunmalklugen fügen hinzu: Er hätte eben nicht auf die Wellen, sondern auf Jesus schauen müssen.

Ihr habt Recht, antworte ich ihnen, aber es ist eines, die Geschichte aus der sicheren Distanz zwischen Kanzel und Kirchenbank zu hören und etwas ganz anderes, sich in sie hinein zu begeben. Er hätte nach oben schauen müssen und nicht nach unten. Aber das Recht, ihn einen „Kleingläubigen" zu nennen, kommt allenfalls Jesus zu. Wobei ich dann lieber nicht mehr frage, mit welchem Wort er uns wohl bezeichnen würde.

*

Allmählich möchte ich nun zum Ende kommen. Für mich war es spannend, dieser Geschichte noch einmal nachzudenken. Mich in sie hinein zu begeben und zu sehen, wohin mich das führt. Womöglich bleiben da ja immer noch ein paar Fragen offen. Man könnte ja zum Beispiel fragen, warum Gott den Sturm ausgerechnet dann schickt, als sich die Jünger Jesu mitten auf dem See befinden.

Gewiss ist das schon wieder so eine Frage, die ein aufgeklärter Mensch besser nicht stellt, weil ihm ein anderer aufgeklärter Mensch erwidern wird, Gott sei,  wenn überhaupt für irgendetwas, dann jedenfalls nicht für das Wetter verantwortlich. Ob ich es ihm erklären sollte? Das könnte ich ja immerhin versuchen, indem ich ihm sagte, das sei natürlich nur ein Bild, eine Metapher für das manchmal chaotische Leben.

Aber das will ich jetzt nicht tun. Stattdessen sage ich: Es ist gut, dass diese Geschichte erzählt wird. Es ist gut, weil es einem hin und wieder nützen kann,  sich mit einer Geschichte abzuplagen, die nicht auf den ersten Blick verständlich ist. Und aus ihr die Erkenntnis mitzunehmen, dass wir zwar einerseits der Angst nicht entkommen, dass aber andererseits, um zum Schluss dieser Predigt Hölderlin zu zitieren, wo Gefahr droht, das Rettende wächst. Oder - um es etwas frommer zu sagen, Gott nicht Zuschauer bleibt, sondern zum Helfer und Retter wird.

Amen. 

 



Pfarrer Bernd Giehl
Trbur
E-Mail: giehl-bernd@t-online.de

(zurück zum Seitenanfang)