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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Letzter Sonntag nach Epiphanias, 13.02.2011

Predigt zu Exodus (2. Buch Mose) 3:1-14, verfasst von Klaus Endter


Liebe Gemeinde!

Das Frühstück hat es meist in sich. Seit unsere Kinder aus dem Haus sind, sollte es morgens ruhiger zugehen. Aber das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Meine Frau und ich lesen unsere beiden Tageszeitungen und reden darüber. Daneben läuft im Radio unser geliebter Kultursender. Gleichzeitig erzählen wir uns von den Terminen des vor uns liegenden Tages und den Resten von gestern. Nicht selten ruft eine Schülerin meiner Frau zwischendrin an und versucht sich radebrechend an einer Entschuldigung für das Fehlen beim Deutschunterricht, der in zwei Stunden beginnen wird.
Da passiert es schon mal, dass ich abends nach Hause komme und eine wesentliche Nachricht vom bewegten Frühstück überhört habe. Liebevoll, aber doch etwas vorwurfsvoll höre ich: Ich hatte dir doch heute Morgen gesagt... Ja, ja mit dem Aufeinander-Hören, mit der Achtsamkeit ist das so eine Sache.

Unser Predigttext aus dem zweiten Mosebuch spielt natürlich in einer ganz anderen Zeit. Das Hören und die Achtsamkeit thematisiert auch er. Er beschreibt als großartige Ouvertüre etliche Themen des großen Freiheitsbuches in der Bibel:

Das alles beginnt mit der Begegnung am brennenden Dornbusch. Mose ist unterwegs, am Wüstenrand die Schafe seines Schwiegervaters Jethro zu hüten. Da erblickt er ein seltsames Phänomen: einen Dornbusch, der brennt, aber nicht verbrennt. Soll er weglaufen, andere Menschen herbeiholen, stehen bleiben oder neugierig draufzugehen? Die Neugierde siegt, und es kommt zur wohl wichtigsten Begegnung seines Lebens.
Aus dem brennenden Busch heraus hört er Gottes Stimme, die ihn mit Namen anspricht. Im Folgenden offenbart er sich als Gott der Stammesväter Abraham, Isaak und Jakob, der den Freiheitsschrei seines Volkes gehört hat.
Dieser offenbarenden Nähe folgt die Aufforderung zur Distanz: „Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von den Füßen, denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliger Boden."

Hier will ich einen Moment innehalten und mit Ihnen bedenken, was da geschieht.
Mose wird nicht das erste Mal unterwegs sein mit den Schafen des Schwiegervaters. Auch die Wüste ist ihm vertraut. Dennoch bleibt er achtsam gegenüber dem, was bzw. wer ihm begegnet. Er ist neugierig und bewegt sich auf das Fremde, vielleicht sogar Furcht Einflößende zu. Er ist in der Lage zuzuhören und zu antworten. Dadurch wird ihm der brennende Dornbusch zum Heiligen Ort, zur Begegnung mit dem Heiligen.
Kennen Sie, liebe Gemeinde, solche Heiligen Orte? Wo sind sie zu finden? Was geschieht da?

In der Wiesbadener Synagoge hat ein Künstler die Zehn Gebote gestaltet. Darüber hängt ein rotes Licht als Symbol für die ewige Gegenwart Gottes. Ein Heiliger Ort?
In katholischen Kirchen werden im Tabernakel geweihte Hostien aufbewahrt. Ein Platz für Oblaten, die in der Liturgie vom Priester zum Leib Christi gewandelt wurden. Ein Heiliger Ort?
In der griechisch orthodoxen Kirche von Wiesbaden-Biebrich gibt es - wie in jeder orthodoxen Kirche - eine Ikonostase, eine Wand mit Heiligenbildern. Darüber sind Bilder der Heilsgeschichte Jesu, von der Ankündigung seiner Geburt bis zur Himmelfahrt, zu sehen. Ein Heiliger Ort?
Mir sagte eine evangelische Freundin einmal: Ich brauche in meinem strapaziösen Alltag immer wieder Gelegenheiten, in denen ich herausgenommen bin aus dem Alltagstrott. Ich brauche Momente, in denen ich mich meinem Schöpfer nahe fühle und offen bin für seine Gegenwart. Das kann bei einem meiner regelmäßigen Spaziergänge im nahe gelegenen Wald sein, das können die 10 Minuten sein, die ich vor dem Frühstück auf meinem Meditationsbänkchen sitze und mich auf das vor mir Liegende einstelle. Manchmal ist es auch ein Gebet in einem Gottesdienst unserer Kirche, das mich anrührt und in besonderer Weise mit Gott und der Gemeinde verbindet.
Sind all das Heilige Orte, an denen wir Gott begegnen als unserem Schöpfer und Lebensbegleiter? Ich denke, wir brauchen eine spirituelle Achtsamkeit, damit wir Gelegenheiten für solche Begegnungen nicht verstreichen lassen. Sonst drohen Glauben und Leben zu erstarrter Routine zu werden, die ihre Kraft verlieren.

Der jüdische Maler Marc Chagall aus dem weißrussischen Witebsk hat einen Zyklus von Bildern zu den Mosegeschichten geschaffen. Auch unserem Predigttext hat er eine Lithographie gewidmet.
Chagall malt einen Busch, in dem bzw. über dem ein Feuerkranz steht. Darin eingetragen sind die vier Buchstaben des hebräischen Gottesnamens als Symbol für seine Präsenz. Vor dem brennenden Busch kniet der achtsame, hörende Mose. Auf seinem Haupt sind Lichtstrahlen zu sehen. Er ist infiziert mit dem Licht Gottes. Auf allen weiteren Bildern wird Marc Chagall Mose mit diesen Lichtstrahlen darstellen. Sie sehen fast wie kleine Antennen aus. Der Schafhirte ist zum Empfänger und zum Sender des göttlichen Lichtes geworden.
Beides wird er brauchen und vermögen, wenn er dem Pharao entgegentreten, wenn er das Volk in die Wüste führen, wenn er Hunger und Durst, Orientierungslosigkeit und Anfeindungen durchstehen wird.

Der heutige Sonntag ist, wir haben es bei der Begrüßung gehört, der letzte nach dem Epiphaniasfest. Ein letztes Mal beziehen sich die liturgischen Texte und Lieder unseres Gottesdienstes auf das Fest der Erscheinung Gottes in der Geburt Jesu Christi. Es ist das Lichtsymbol, das die Bedeutung seiner Geburt als Licht der Welt mit dem Evangelium des heutigen Sonntags und mit unserem Predigttext verbindet. Von Marc Chagall möchte ich die Frage aufnehmen: Sind wir Christen durch die Begegnung mit Weihnachten und der Epiphanie Gottes ähnlich infiziert wie Mose durch die Begegnung am brennenden Dornenbusch? Wie können wir - dem Mose Marc Chagalls entsprechend - zu Empfängern und Sendern des göttlichen Lichtes werden?

Kommen wir noch einmal zu unserem Predigttext zurück. Als Mose die Beauftragung Gottes in Zweifel zieht und selbstkritisch einwendet, „Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehe und die Israeliten aus Ägypten führe?", sichert Gott ihm zu: „Ich will mit dir sein." Aber Mose ist noch nicht überzeugt: „Was soll ich antworten, wenn die Israeliten mich nach deinem Namen fragen?" „Ich werde sein, der ich sein werde", hört der Schafhirte als kryptisch anmutende Antwort Gottes.
Die Götter der Ägypter hatten konkrete Namen. Sie waren fassbar, vor ihren Statuen konnte man sich niederwerfen und anbeten. Solch einen Namen und eine Gestalt hat der Gott der Israeliten nicht. Er offenbart vielmehr eine unfassbare Weite, eine fast grenzenlose Offenheit. Für ihn gilt: Nomen est omen. Der Name ist Programm. Ich bin, der ich bin. Ich werde sein, der ich - für dich - sein werde. Gott ist ein befreiender Gott für Mose, für Israel, für dich und mich, für uns!
Welche Ermutigung steckt darin! Welcher Trost! Welche Zusage! Gott wird sie einlösen: In der Auseinandersetzung mit Pharao. Am Berg Sinai. Bei der Landnahme in Palästina. Beim Exil in Babylon. Israel wird sich auf diesen Namen immer verlassen können. So wie sich Christen immer auf den Namen Jesus Christus verlassen können, auf den hin sie getauft sind. Sein Name wird immer an ihrer Seite sein.

Was aber ist, wenn der Name nicht zu hören, nicht zu sehen ist? Wenn er abwesend zu sein scheint? Oder kann das gar nicht vorkommen?
Am 27. Januar, dem Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus, ist in Wiesbaden eine bedeutende Gedenkstätte eingeweiht worden. Am 10. November 1938 ging in der berüchtigten Reichspogromnacht die prächtige, 1869 von Philipp Hoffmann erbaute Synagoge am Michelsberg in Flammen auf. Ein Un-Heiliger Ort seitdem.
Vier Jahre später, am 31. August 1942, wurden die letzten 1507 Jüdinnen und Juden Wiesbadens von der Verladerampe am Schlachthof in Richtung Theresienstadt deportiert und anschließend in den Konzentrationslagern Osteuropas ermordet. Über 20 Jahre ist um ihr namentliches Gedenken in unserer Stadt gerungen worden. Seit dem 27. Januar 2011 gibt eine würdige Stelle des namentlichen Gedenkens an der Stelle der alten Synagoge. 1507 jüdische Opfer des Naziterrors in unserer Stadt sind dem Vergessen entrissen. Ihre Namen stehen wieder vor uns. Ein Un-Heiliger Ort noch immer? Ein jetzt Heiliger Ort?

Wie viele Menschen werden in den Novembertagen 1938 und davor oder danach gedacht haben: Wo ist der Name des Allmächtigen und Ewigen geblieben? Ist er bei all dem Leid, bei all der Schuld unsichtbar, unhörbar geworden? Hat er aufgehört zu sein für Israel, für uns Menschen? Hat er aufgehört, auf das Schreien der Bedrängten zu hören? Ist ihr Schicksal nicht eine Widerlegung seines programmatischen Namens?

Niemand wird diese Fragen, diese Klagen und Zweifel beiseite wischen können. Solange von Hoffnung und tröstlicher Zusage die Rede ist, muss auch von ihrer Bestreitung die Rede sein. Solange vom Erbarmen die Rede ist, muss auch von alltäglicher Erbarmungslosigkeit gesprochen werden. Wenn von Gottes Zusagen gesprochen wird, muss auch sein Schweigen thematisiert werden. Unser Glaube wird immer in der Spannung zwischen dem sich offenbarenden und dem verborgenen Gott stehen.
Es ist ein befreiender Gott, der für die Überwindung von aller Knechtschaft steht. Es ist ein Gott des Friedens, der auf die Überwindung aller Kriege aus ist. Es ist ein Gott des Schalom, der in heillosen und ungerechten Zeiten sein Heil, seine Gerechtigkeit verwirklichen will.
Dafür braucht er Menschen, die sich in aller Schwachheit in seinen Dienst stellen. Menschen, die an Heiligen Orten achtsam sind für sein Licht, die zu Empfängern und Sendern des göttlichen Lichtes werden.

Amen



Pfarrer Klaus Endter
Wiesbaden
E-Mail: klaus.endter.fp.wi@ekhn-net.de

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