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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Septuagesimae, 20.02.2011

Predigt zu Matthäus 20:1-16, verfasst von Anders Kjærsig

 

Die Welt ist ungerecht. Das weiß jedes Kind. Die einen bekommen mehr als die anderen, was schwer zu begreifen sein kann, solange wir leben. Doch so ist das Leben nun einmal. Die Güter werden nicht millimetergenau verteilt nach einem demokratischen Prinzip, wonach jeder das Gleiche bekäme. Der eine hat zu viel, der andere hat zu wenig. So sieht die Wirklichkeit aus. Die Palette reicht vom Unerträglichen und Beklemmenden bis hin zum Grotesken und Kleinkarierten:

Das gilt international im Verhältnis von reichen und armen Ländern; es gilt national im Verhältnis zwischen denen, die gut wegkommen, und denen, die schlecht wegkommen; es gilt vor Ort im Verhältnis von Nachbar zu Nachbar; es gilt in der Familie im Verhältnis zwischen Kindern und Eltern.

Die Welt ist ungerecht. Und weil sie ungerecht ist, bemessen und bewerten wir einander, indem wir das, was wir selbst haben, mit dem vergleichen, was die anderen haben, und indem wir darauf gucken, wie die anderen zu dem, was sie haben, gekommen sind. Schon diese Vergleiche können die schlimmsten Gedanken hervorrufen. Der Weg vom Anspruch auf Gerechtigkeit zwischen zwei Menschen, etwa unter Nachbarn, hin zum Neid ist nicht weit. Neid tarnt sich immer mit der Forderung nach Gerechtigkeit, und oft ist es schwer zu erkennen, was einen Menschen bewegt.

Der Nachbar sagt, es sei ungerecht, dass sein Nachbar ein höheres Gehalt bekommt und einen größeren Wagen fährt. Aber sagt der Nachbar dies nun, weil es offenkundig ungerecht ist, oder sagt er es, weil er im Grunde nur neidisch ist? Ja, davon spricht er selbstverständlich nicht, dass es Missgunst ist, was ihn bewegt. Wir erfassen das nicht mit Sicherheit - vielleicht ist es so, vielleicht auch nicht.

Diese Denkweise ist nicht nur eine moderne. Sie gilt nicht allein für uns. Sie galt auch vor zweitausend Jahren. Einander zu bemessen und zu bewerten, sich mit anderen zu vergleichen, Neid hinter Gerechtigkeitsempfinden zu verbergen, das gehört leider zur Grundausstattung der menschlichen Natur.

Wir begegnen dem im großen Stil in unserem heutigen Predigttext. Da werden die, die zehn Stunden arbeiten, nicht höher entlohnt als die, die nur eine Stunde arbeiten. Und das zu begreifen ist für die, die zehn Stunden arbeiten, sehr schwer. Also fragen sie den Arbeitgeber: Warum sollen die Letzten denselben Lohn haben wie die Ersten? Ist das nicht ungerecht? Wer am meisten und am längsten arbeitet, steht dem nicht auch der höchste Lohn zu?

Die Fragen sind berechtigt. Wir verstehen nur zu gut, warum die ersten Arbeiter sauer sind. Um das zu begreifen, muss man weder Sozialist sein noch Liberaler. Es ist bodenlos, denselben Lohn für dieselbe Art von Arbeit auszubezahlen, wenn der eine zehnmal so lange gearbeitet hat wie der andere. Die Logik liegt für jeden auf der Hand. Damals wie heute.

Aber was die Leute schlicht als eine Frage von Gerechtigkeit wahrnehmen, das stellt der Besitzer des Weinbergs auf den Kopf. Der Weinbergbesitzer ist ein ungerechter Arbeitgeber. Er verteilt Güter und Talente und den Lohn nicht nach dem Normalmaß. Hier gilt nicht, dass der, der zuerst kam, auch am meisten bekommt. Hier bekommt man gleich viel, gleichgültig, wie lange man gearbeitet hat. Der Erste ist nicht der Größte. Absolut nicht. Genau das Gegenteil wird gesagt: Die Letzten werden die Ersten sein und die Ersten die Letzten.

Die menschlichen Maßstäbe erleiden also Schiffbruch an der Haltung des Weinbergbesitzers. Das kommt daher, weil der Weinbergbesitzer die Welt aus einer völlig anderen Perspektive sieht. Er sieht die Welt nicht von unten, sondern von oben. Der Himmel und sein Reich geben den Blickwinkel vor, und hier wird ein ganz und gar anderer Maßstab angelegt. Deshalb bewertet der Weinbergbesitzer die Arbeit nicht im Horizont von Gerecht und Ungerecht, sondern von Gericht und Heil, Ausschluss und Gemeinschaft. Für den Besitzer des Weinberges geht es nicht darum, wie lange jemand gearbeitet hat, sondern darum, dass man überhaupt eine Arbeit hat; dass da jemand ist, der einen braucht; dass man gefragt wird; dass man ein Zuhause hat und einen Ort, an den man gehört; dass man unter dem Segen steht.

Das aber sehen die ersten Arbeiter nicht. Sie begreifen die ungerechte Gerechtigkeit des Weinbergbesitzers nicht, sie begreifen das Gesegnetsein nicht. Und sie begreifen es nicht, weil Neid ihre Augen blind macht, so dass sie den anderen nicht zu sehen vermögen, den zuletzt Hinzugekommenen, der gleichermaßen wichtig ist in des Weinbergbesitzers Personal.

Versetzen Sie sich doch einmal probeweise in die Lage der Letzten! Stellen Sie sich vor, allein auf dem Marktplatz zurückgeblieben zu sein, einsam zu Hause zu sitzen, eingeschlossen in die eigene kleine Welt. Tagaus, tagein. Jahr um Jahr. Es gibt niemanden, der einen einlädt, sei es zum Arbeiten oder zum Feiern. Niemand fragt nach einem. Man ist einsam unter den Menschen. Man ist unbrauchbar. Man ist wertlos.

In dieser Lage stellt man keine Forderungen an seinen Arbeitgeber. Hier verlangt man keine Lohnerhöhung, hier rechtfertigt man sich nicht selber, vielmehr betet man und bittet um Sinn und Bedeutung: „Unser Vater, unser tägliches Brot gib uns heute". Oder: Lieber Weinbergbesitzer, gib mir nur einen Platz an deinem Tisch, lass mich nicht zurückbleiben auf dem Markt, einsam und verfroren. Lass auch mich in deinem Weinberg arbeiten, wenn ich auch der Allerletzte bin, der Schräge, die Randfigur, der Ausgestoßene, der Dicke und der Hässliche, der Alte und der Lahme.

Die zuletzt Gekommenen kennen diese Form des Gebets. Das kommt daher, weil es ihrem Leben an Sinn und Bedeutung fehlt. Doch sie erleben auch das Gesegnetsein. Das kommt daher, weil ihr Gebet erhört werden wird, weil der ungerechte Weinbergbesitzer Sinn und Bedeutung bewirkt. Er sieht nicht darauf, wie gesund und tüchtig jemand ist. Er sieht nicht darauf, wie lange jemand schon im Beruf war. Er bezahlt nicht höheren oder geringeren Lohn.

Nein, der ungerechte Weinbergbesitzer hört auf den einsamen Menschen, der vom Markt her schreit, aus dem Grab und den geschlossenen Räumen; er hört auf das Gebet und segnet es. Er gibt dem Unwürdigen Wert, er gibt dem Bedeutungslosen Bedeutung, dem gibt dem Sinnlosen Sinn.

Das ist Grund zur Freude. Es geht ja um das Nächstliegende - die Erlaubnis, dabei zu sein. Das weiß jeder. Wenn nicht, fragen Sie doch mal die, die als letzte gekommen sind.

Amen



Pastor Anders Kjærsig
Årslev
E-Mail: ankj@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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