Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Sonntag nach Trinitatis, 10.06.2007

Predigt zu Matthäus 9:35 - 10,7, verfasst von Klaus Bäumlin

„Und Jesus ging ringsum in alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen. Und als er das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie Schafe, die keinen Hirten haben. Da sprach er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist gross, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende.

Und er rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, dass sie die austrieben und heilten alle Krankheiten und alle Gebrechen. Die Namen aber der zwölf Apostel sind diese: zuerst Simon, genannt Petrus, und Andreas, sein Bruder; Jakobus, der Sohn des Zebedäus, und Johannes, sein Bruder; Philippus und Bartholomäus; Thomas und Matthäus, der Zöllner; Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Thaddäus; Simon Kananäus und Judas Iskariot, der ihn verriet.

Diese Zwölf sandte Jesus aus, gebot ihnen und sprach: Geht nicht den Weg zu den Heiden und zieht in keine Stadt der Samariter, sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel. Geht aber, und verkündet und sagt: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen."

Liebe Gemeinde!
Das Himmelreich, das Gottesreich ist nahe! Das ist die Botschaft, die Jesus mit seinen Worten und Taten, mit seinem ganzen Leben, den Menschen verkündet. Eben: nicht bloss mit Worten. Sein ganzes Dasein ist Gegenwart des Himmelreichs; in ihm ist es nahe zu den Menschen gekommen. Die Nähe des Himmelreiches, seine Kraft, erweist sich in der Heilung von Krankheiten und Gebrechen. Nicht Jesus allein heilte Krankheiten und Gebrechen, sondern er hat seine Jünger beauftragt und bevollmächtigt, dasselbe zu tun: unreine Geister auszutreiben, Krankheiten und Gebrechen zu heilen. Wo das Gottesreich nahe kommt, geschieht solches. Man muss dabei nicht gleich an eine spektakuläre, medizinisch nicht erklärbare Heilung einer schweren Krebserkrankung denken. Jesus überschreitet nicht die Grenzen der Geschöpflichkeit; und zu diesen Grenzen gehört auch die Sterblichkeit; und zur Sterblichkeit gehört auch, dass Menschen krank werden. Auch die von Jesus Geheilten sind später einmal gestorben. Aber durch Jesus und seine Jünger erfahren Menschen innerhalb dieser Grenzen Heilung und Befreiung; sie lassen sch aufrichten zum aufrechten Gang, sie werden frei von niederdrückenden Zwängen, von Ängsten und Sorgen um ihr Leben. Mitten in dieser vergänglichen Welt erfahren sie erste Zeichen der kommenden Welt Gottes, in der Leid, Krankheit, Besessenheit und Tod überwunden sein werden.

Das soll, das muss sich ereignen, wo in Vollmacht, das heisst, in der Ermächtigung durch den Geist Jesu, das Kommen des Himmelreiches verkündet wird. Seinen Jüngern, den zwölf Aposteln, gibt Jesus diese Vollmacht. Und durch die kommt sie zur Gemeinde Jesu, zur Kirche, an deren Anfang eben diese Apostel stehen.

Habe ich soeben „Kirche" gesagt? Ich muss es zurücknehmen. Denn in unserem Text steht kein Wort von der Kirche. Irritiert und befremdet lesen wir, dass Jesus das Gottesreich nur in den Synagogen der umliegenden Städte und Dörfer, also in Galiläa, verkündet. Nach dem Matthäusevangelium hat Jesus diese Grenzen nicht überschritten. Er weiss sich gesandt allein zu seinem Volk Israel, zu den verlorenen Schafen dieses von Gott geliebten Volkes. Und seinen Jüngern gebietet er ausdrücklich, sie sollten sich mit ihrer Verkündigung des Gottesreichs nicht an die Heiden, nicht an die Menschen anderer Völker wenden, nicht einmal an die den Juden doch verwandten und benachbarten Samaritaner. Nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel schickt er sie. Kein Wort hier von Heidenmission!

Wir müssen uns von diesem Text daran erinnern lassen, was wir Christen während Jahrhunderten vergessen und verdrängt haben: Nicht nur der Messias Jesus ist ein Kind Israels, ein Jude. Sondern seine Sendung gilt diesem seinem von Gott berufenen und erwählten Volk. Und zunächst nur diesem! Erst ganz am Schluss des Matthäusevangeliums sendet der Auferstandene seine Jünger über die Grenzen Israels hinaus: „Geht hin und macht zu Jüngern alle Völker; tauft sie in den Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes und lehrt sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung der Weltzeit." (Matth. 28,19f.)

Zwischen der Anweisung Jesu an die Jünger, nicht zu den Heiden zu gehen, und dem Befehl des Auferstandenen, hinzugehen und Menschen aus allen Völkern zur Nachfolge des Messias Jesus zu rufen, liegt die Tragik, dass Israel in seiner Mehrheit, irregeleitet durch seine geistlichen und gesellschaftlichen Führer und Eliten, die „Hirten", seinen ihm von Gott gesandten Messias nicht erkannt, seiner Verkündigung des Gottesreiches nicht geglaubt hat. Doch vielleicht sollte man nicht von Tragik reden. Denn erst dadurch wird der Weg frei für die die Verkündigung des Evangeliums an Menschen anderer Völker. Der Apostel Paulus - selber Jude - hat diesem Geheimnis in seinem Brief an die Gemeinde in Rom nachgedacht (Röm. 9-11). Weil Israel Jesus (noch) nicht als seinen Messias erkannt hat, wird das Gottesreich nun den Völkern verkündigt, und Heiden werden aufgenommen in den Bund, den Gott mit Abraham geschlossen hat. Das Erbarmen Jesu gilt nun auch den „verlorenen Schafen, die keinen Hirten haben" ausserhalb Israels. Denn „es kommt nicht auf das Wollen und Streben des Menschen an, sondern auf das Erbarmen Gottes" (Röm 9,16).

Genau an der Stelle, wo sich die Grenze zwischen Israel und den Heiden öffnet, wo die Türe sich öffnet für die Menschen aller Völker und das Erbarmen Gottes sich aufschliesst für alle „verlorenen Schafe" dieser Erde, genau an dieser Stelle stehen die zwölf Apostel. Zunächst von Jesus nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt, werden sie jetzt zu den tragenden Säulen der weltweiten Christenheit, der „einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche". Den Evangelien liegt offenbar viel daran, dass ihre Namen überliefert und in Erinnerung gehalten werden. Nicht etwa deshalb, weil sie besonders mustergültige Männer gewesen wären. Man denke nur an Simon Petrus, den an erster Stelle Genannten, der seinen Meister verleugnet hat. Man denke an ihn und die beiden Brüder Jakobus und Johannes, die es nicht vermochten, auch nur eine Stunde mit Jesus im Garten Getsemane zu wachen. Man denke an sie alle, die, als es darauf angekommen wäre, zu Jesus zu stehen, sich vor lauter Furcht verzogen. Man denke an Thomas, den Zweifler, der an die Auferweckung Jesu nicht glauben konnte, bis er den Auferstandenen mit eigenen Augen sehen und mit seinen Händen berühren konnte. Man denke an Judas Iskariot, der seinen Herrn ausgeliefert hat und der sich als einziger aus dem Kreis der Apostel ausgeschlossen hat. Sie alle: schwache, fehlbare Menschen. Und doch kann Jesus sie brauchen, beauftragt sie, das Evangelium vom Gottesreich zu verkünden, zuerst denen aus dem Haus Israel, später den Heiden. Und er gibt ihnen die Vollmacht, unreine Geister zu vertreiben, Krankheiten und Leiden zu heilen.

Die zwölf Jünger oder Apostel sind Kinder Israels, Juden, ausnahmslos. So verbinden sie mit ihrer Person und mit ihrem Zeugnis Israel, das Volk des ersten Bundes, mit der Christenheit, mit dem erweiterten Gottesbund, zu dem die Menschen aus allen Völkern gerufen sind.

„Die Ernte ist gross, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende." Die Ernte ist ein Bild für das universale Gericht Gottes am Ende dieser Weltzeit. Einmal wird alles an den Tag kommen; die ganze Menschengeschichte, das Leben aller Menschen und aller Völker kommt ins Licht der Wahrheit. Und dann endlich - so die Überzeugung des Paulus - werden die verlorenen Schafe aus dem Hause Israel zusammen mit der Christenheit, mit den Menschen aus allen Völkern der Erde, zu Erben der Verheissung werden (Röm. 11,25ff). Das Erbarmen Gottes, das Jesus bewegt und erfüllt hat, wird das letzte Wort sein über Israel und die Heiden, über alle „verlorenen Schafe" dieser Erde. Und was in dieser Weltzeit durch die Jünger und Jüngerinnen damals und heute erst in Ansätzen, in ersten Zeichen geschieht, wird sich dann wunderbar vollenden: Die unreinen Geister werden keinen Menschen mehr plagen, die Krankheiten, Gebrechen und Leiden werden geheilt, die Tränen getrocknet, die Trauernden getröstet, den Armen wird das Himmelreich gehören und den Sanftmütigen die Erde; und die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, sie werden satt werden. Nur das Erbarmen Gottes wird gelten, weit, weit über alles hinaus, was wir uns vorstellen und ausdenken können.



Pfarrer Klaus Bäumlin
Bern
E-Mail: klaus.baeumlin@bluewin.ch

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