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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Karfreitag, 22.04.2011

Predigt zu Lukas 23:32-34, verfasst von Rolf Wischnath


                                                               Wer ist der Mann am Balken?

Kanzelgruß                                                                            

Aus den beiden Lesungen, die wir als Evangelium (Lukas 23,32-49) und Epistel (2. Korinther 5,17-21) zu diesem Karfreitag gehört haben, lese ich noch einmal zwei kurze Stücke, die wir aufeinander beziehen und miteinander bedenken wollen.

In seinem Kreuzigungsbericht schreibt der Evangelist Lukas:
      Zusammen mit Jesus wurden auch zwei Verbrecher zur Hinrichtung geführt.
      Und sie kamen zur Schädelhöhe; dort kreuzigten sie ihn und die Verbrecher,
      den einen rechts von ihm, den anderen links. Jesus aber sprach:
      Vater, vergib ihnen!

Und über dieses Geschehen urteilt der Apostel Paulus im zweiten Brief an die Korinther so:
      Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat.

I

(Anrede), „Wer ist der Mann am Balken da?" So können schon mal junge Leute in unserer Zeit fragen, wenn sie ein Kruzifix sehen. Beispielsweise das hier hinter meinem Rücken. Es hat ursprünglich in der Taufkapelle der Apostelkirche gehangen. Jetzt hängt es hinter und über dem Prediger. Und wir alle sind unter dem großen, lebensgroßen Auferstehungskreuz, das seit dem Wiederaufbau der Apostelkirche nach der Kriegszerstörung als Zeichen des Gedenkens, der Buße und der Hoffnung aufgerichtet wurde. Über uns alle streckt hier in der Apostelkirche der Gekreuzigte die Arme aus. So dürfen auch jede und jeder von uns sich drauf fest verlassen: Der Gekreuzigte hat seine Arme auch über mich ausgestreckt. Wir sind alle jetzt miteinander unter dem Kreuz.

„Wer ist der Mann am Balken da?" Die saloppe Frage von Jugendlichen, die möglicherweise noch nie etwas vom gekreuzigten Jesus von Nazareth gehört haben, nötigt uns Christen, das uns oft allzu Selbstverständliche neu zu bedenken und auskunftsfähig zu werden in einer Grundfrage des christlichen Glaubens.

II

Wie „der Mann da" an den „Balken" gekommen ist, darüber berichtet der Evangelist Lukas dies: „Zusammen mit Jesus wurden auch zwei Verbrecher zur Hinrichtung geführt. Und sie kamen zur Schädelhöhe; dort kreuzigten sie ihn und die Verbrecher, den einen rechts von ihm, den anderen links." Das sind dürre Worte, in denen der Kreuzigungs- und Hinrichtungsvorgang kaum beschrieben wird. Die ersten Hörer der Evangelien aber wussten Bescheid - besser als wir, denn Kreuzigungen waren ihnen als Mittel der Todesstrafe so bekannt wie den Deutschen früher der Galgen, den Franzosen das Fallbeil und den Amerikanern heute der elektrische Stuhl oder die Giftspritze. So kannten Römer und Juden damals „das Kreuz" als ein Zeichen dafür, dass „der Mann am Balken" zu den Verbrechern gezählt wurde, zu den Gesetzlosen, die eine so schlimme Tat verbrochen hatten, dass ihr Leben als verwirkt galt.

Die Kreuzigung war eine Folter und Hinrichtungsart, die die römischen Besatzer in das Land Jesu mitgebracht hatten. Sie galt als grausamste und schändlichste Todesart - vorbehalten für die schändlichsten und grausamsten Verbrecher: für Straßenräuber und Mörder, für Menschenschänder und Terroristen, aber auch für politische Rebellen und widerspenstige Sklaven, denen man es mit diesem Tod noch einmal richtig heimzahlen wollte.

Der Kreuzestod ist mit das Qualvollste, was Menschen sich in ihrer Geschichte ersonnen haben: Der Verurteilte wurde mit ausgestreckten Armen am Querholz angebunden oder an Unterarmen, Händen und Füßen festgenagelt. Nur durch ein Abstützen auf einem kleinen Stützpflock ließ sich das Aufreißen der Nägelwunden zeitweise etwas abschwächen. Dazu aber war eine große Muskelanspannung erforderlich. Bei Erlahmen der Muskeln wurden die Zerrungsschmerzen wieder stärker. Die erhobenen, unbeweglichen Arme führten zu schmerzhaften Zirkulationsstauungen, zu Muskelkrämpfen und zu einer Überanstrengung des Herzens. Blutstauung in den Lungen hatte Erstickungsangst zur Folge. Hinzu kamen die Schmerzen infolge der Geißelung, kam der quälende Durst, kam die Belästigung durch Tausende von Fliegen. Die Gekreuzigten wurden nackt in ihrer Blöße aufgehängt. Der letzte Besitz, der ihre Scham bedeckte, wurde ihnen genommen und nach uraltem Henkerrecht den Henkern übergeben. Ein Gekreuzigter wurde also in jeder Dimension bloßgestellt und geschändet, gefoltert und hingerichtet.

So ist es auch diesem „Mann am Balken da" widerfahren. So haben sie es mit Jesus von Nazareth gemacht - mit ihm und zwei Verbrechern auf einem etwa zwölf Meter hohen, schädelförmigen Gesteinsbuckel in einem aufgelassenen Steinbruch, der unmittelbar vor den Toren Jerusalems lag und bis heute den Namen „Golgatha" (Schädelstätte) trägt. Wahrscheinlich haben die Römer diesen Ort speziell für Jesu Kreuzigung ausgewählt. Die Hinrichtung war hier weithin sichtbar und konnte so am besten abschreckend wirken.

Das ist die eine Hälfte der Antwort auf die Frage: „Wer ist der Mann am Balken da?" Sie erklärt, was der Balken ist und wofür er steht und was Menschen tun, wenn sie einen solchen Balken mit einem Menschen daran aufrichten. Diese Hälfte der Antwort ist grausam, so grausam, wie die Geschichte der Menschen und ihrer Feindschaften gegeneinander oft eben nur schrecklich und grausam ist. Wäre das alles, was auf die Frage zu antworten ist, so bliebe alles im Grausamen. Denn es lässt sich ja leider nicht sagen, dass Jesus der letzte Mensch gewesen ist, an dem Menschen so gehandelt haben. Nein, menschliche Gemeinheit hat noch widerwärtigere, noch schlimmere Formen gefunden, um sich an anderen Menschen auszutoben. Dafür bieten gerade die Kriege und Folterungen unserer Tage oft ein furchtbares Beispiel und einen todtraurigen Tiefpunkt in der Menschheitsgeschichte.

III

Aber das alles ist eben nur die halbe Antwort auf die Frage „Wer ist der Mann am Balken?" Die ganze Antwort erschließt sich nur, wenn wir in dem gekreuzigten Jesus nicht nur eines der vielen Opfer menschlicher Grausamkeit sehen. Die Besonderheit des Todes Jesu liegt woanders; sie liegt in der unfasslichen Besonderheit der Person dessen, die hier gekreuzigt wurde. Von ihr spricht Paulus im Angesicht des Kreuzes in der denkbar knappsten Form: „Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat."

„Wer ist der Mann am Balken?", wird heute gefragt. Und Paulus antwortet so, dass er hier von dem gekreuzigten Jesus wie von Gott spricht. Er sieht in dem furchtbaren Geschehen auf dem Hügel Golgatha ein Ereignis, in dem nicht nur Menschen, sondern vor allem Gott selber handelt und leidet. Gott selber hat sich so sehr mit „dem Mann am Balken" identifiziert, dass - im Blick auf ihn - es heißen muss: Gott war es.

Wie kommt es zu dieser Aussage? Wie lässt sie sich erkennen und begründen? Paulus kommt zu dieser Erkenntnis nicht unter dem Kreuzesbalken. Er erkennt Gott erst im Gekreuzigten, als der Gekreuzigte ihm im himmlischen Licht des Auferstandenen vor Damaskus überwältigend begegnet: Ihn, den gesetzestreuen Juden, ihn, den Verfolger der Christen, wirft der vom Tod Auferweckte und Erstandene zu Boden. Erst von Ostern her, dem Ereignis, in dem Gott der Schöpfer an dem Gekreuzigten neu handelt und ihn aus dem Tod ins ewige Leben ruft, fällt auch Licht auf das Rätselhafte und Widerwärtige des Kreuzes auf dem Hügel Golgatha. Und von hier aus, wo Paulus selber im göttlichen Licht völlig verwandelt und zum Auferstandenen bekehrt worden ist, versteht er das Kreuz: Es ist die „Versöhnung der Welt mit Gott".

Durch die Jahrhunderte hindurch haben die christlichen Theologen sich mit dem Wort von der „Versöhnung" abgemüht, um durch diesen Begriff das Kreuzesgeschehen zu deuten und zu erklären. Dabei gibt es ein Erklärungsmuster, das bis in unsere Tage hinein wirkt und viel Schaden angerichtet hat: Es besteht in der Opfertheorie, nach der ein beleidigter und zorniger Gott wieder zufrieden gestellt werden muss und sich dann durch das unschuldige Opfer seines eigenen Sohnes besänftigen lässt, so wie im Märchen der Drache die Jungfrau frisst und dafür die Stadt verschont. Durch diese Opfertheorie, die nichts mit der biblischen Rede vom Opfer und der Versöhnung zu tun hat, ist nicht selten ein sadistisches Gottesbild transportiert worden, mit dem viele Menschen nicht fertig geworden sind. Wie soll man auch ohne psychischen Schaden an einen Gott glauben können, der zu seiner eigenen Besänftigung und Sühneleistung das Blut seines eigenen Sohnes fließen sehen will und ihn in den gottverlassenen Tod stürzt?

Aber diese sadistische Theorie ist nun wirklich ein menschliches Spiegelbild des eigenen unmenschlichen Sadismus. Die vier Evangelisten, die im Neuen Testament die Leidensgeschichten Jesu erzählen und deuten, lehren es so nicht. Und auch Paulus spricht so vom Kreuz nicht. Umgekehrt, sagt Paulus, ist es, umgekehrt:

Gott war im (gekreuzigten) Christus, und in ihm versöhnt er eine aus den Fugen geratene, dem Sadismus und dem Tod verfallene Welt, und so stellt er die zerbrochene Beziehung von ihr zu ihm, dem Gott und Vater der Welt, wieder her. Wir mussten versöhnt werden, wir: die Menschen, die - wie es in der Passionsgeschichte deutlich wird - alle abgefallen waren von dem, in dem Gott selber war.

Wie das gemeint ist, kann man gut begreifen, wenn man sich verdeutlicht, dass das Wort „Versöhnung" im Griechischen (als der Ursprache des Neuen Testaments) eigentlich zu übersetzen ist mit: Austausch - gänzlicher Austausch, Veränderung, totale Veränderung. Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst, - das würde dann bedeuten: Gott war in dem Mann „am Balken da" und tauschte so den Platz mit den von ihm abgefallenen Menschen; und so veränderte er die Welt von Grund auf.

Tausch und Veränderung werden an nichts so deutlich wie am Bild des gekreuzigten Jesus in der Mitte der Verbrecher: Indem Gott sich mit ihm vollends identifiziert, nimmt er die Gottlosigkeit und Gottverlassenheit der Menschen selber an, auf sich und in sich hinein. Gerade mitten in ihrem bösen Ausbruch von Gottlosigkeit lässt er sie nicht los, ist er gerade da für sie, für die Gottlosen. Das zeigt das Bild des Gekreuzigten in der Mitte der beiden Verbrecher, die hier wiederum für alle Gottlosen und alle Verbrecher stehen. Gott verharmlost damit nicht die Verbrechen und die Gottlosigkeit der Menschen. Aber er durchkreuzt sie mit dem Erweis, dass er auch die Gottlosesten nicht loslässt und auch die Gottverlassensten nicht verlässt.

Und so lautet das erste Wort, das der in der Mitte der Verbrecher gekreuzigte Jesus über seine Henker und Richter, über die geflohenen und von ihm abgefallenen Jünger und Frauen und vor allem auch über die beiden mit ihm und neben ihm aufgehängten Verbrecher spricht: „Vater, vergib ihnen." Von diesem Wort her erschließt sich die Versöhnung der Welt: Am Kreuz betet der gekreuzigte Jesus mit Hingabe für seine Feinde, für die Welt, die nicht weiß, wer der Mann am Balken ist, die nicht mehr weiß, wer Gott ist und wem die Welt gehört. So wird der Gekreuzigte zum Versöhner der Welt, indem er ihr Anwalt wird, indem er für sie Fürbitte leistet, indem er an ihrer Stelle das Urteil des totalen Gerichts stellvertretend übernimmt.

„Vater, vergib ihnen (allen)." So betet er voller Hingabe. Also, nicht bloß in einer überaus großen seelischen Intensität, sondern in der Aktion seiner Hingabe, in der er, eingekeilt von zwei Verbrechern, fürbittend stirbt für Heiden und Juden, für Freunde und Bekannte, für Frauen und Männer, für die offenen und die heimlichen Verbrecher. So versöhnt er die Welt mit Gott, indem er fürbittend für sie stirbt.

IV

(Anrede), noch einmal schauen wir hinauf zum Kreuz hier in der Apostelkirche. An diesem Kreuz hängt kein „Mann" mehr. Das Kreuz ist leer. Es ist ein Auferstehungskreuz, ein Zeichen dafür, dass Jesus Christus in seiner Auferstehung das Kreuz überwunden und das Werk der Versöhnung der Welt mit Gott und der Fürbitte vollbracht hat.

So dürfen wir in der Tat damit rechnen, dass alle die, die zum Kreuz schauen, erfahren und wissen sollen, dass der gekreuzigte und auferweckte Jesus sie ansieht und dass er in der Vollendung seiner Fürbitte („Vater, vergib ihnen") vor Gott dem Vater für jede und jeden von uns eintritt. So breitet er noch immer seine Arme über uns aus. Und seine Arme sind wie der Arm und die Hand Gottes, die er über uns hält. Darunter findet jede und jeder von uns Zuflucht. Darum gibt es keine aussichtslosen Situationen. Und darum gibt es auch keine mit Gott unversöhnten und zur menschlichen Versöhnung untauglichen Menschen. Und deswegen antworten wir auf die Frage: „Wer ist der Mann am Balken da?" mit dem alten Vers: „Fragst du, wer der ist, er heißt Jesus Christ, der Herr Zebaoth und ist kein anderer Gott. Das Feld muss er behalten."

Amen



Prof. Dr. Rolf Wischnath
Gütersloh
E-Mail: rolf.wischnath@t-online.de

Bemerkung:
Predigt an Karfreitag in der Apostelkirche zu Gütersloh


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