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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Karfreitag, 22.04.2011

Predigt zu Lukas 23:33-43, verfasst von Martin Junge


Liebe Gemeinde,

Lukas, der Evangelist, fasst sich kurz in seiner Erzählung von der Kreuzigung Jesu. Offensichtlich konnte er voraussetzen, dass die grausamen Ereignisse vor den Mauern Jerusalems tief im Bewusstsein der ersten christlichen Gemeinden waren und darum keiner ausführlichen Erläuterung bedurften. Von seinem eigenen Umgang mit diesen Gemeinden wusste der Evangelist, wie intensiv die Erinnerung an diese schreckliche Wendung in der Lebensgeschichte ihres Herrn Jesus Christus - und damit auch im Leben der sich um ihn scharenden Jüngerschaft - fortlebte und durch Erzählungen nicht nur am Leben gehalten, sondern auch weitergegeben wurde.
Eine verblüffende Erkenntnis: Statt diese schmerzhaften Erinnerungen auszuradieren und auszublenden, was ja nur zu verständlich und nachvollziehbar wäre, wurde an ihnen festgehalten. Daran wird deutlich, dass die christliche Gemeinde schnell erfasst hat, dass im Kreuzestod Jesu Wesentliches geschehen war. Sie erkannte und bezeugte, dass gerade in dieser unfassbaren Tragödie, ja, in diesem offenkundigen Scheitern am Kreuz doch auch all das fassbar wurde, was Jesus unter den Menschen von Gott gelehrt, gezeigt und gelebt hatte. Darum war die Erinnerung vom Kreuzestod Jesu zum festen Bestandteil ihrer Überlieferungen geworden und hatte sich zu einem zentralen Inhalt des Glaubens konsolidiert. Das gehörte - und gehört noch heute - zum Kernbestand unseres christlichen Glaubens: Wir bezeugen den gekreuzigten Jesus als unseren Herrn! Am Kreuz offenbart sich das Heil für die Welt!

Aber auch über die Grenzen der sich formierenden christlichen Gemeinden bedurfte es keiner ausführlichen Erläuterungen und Ausführungen über die Geschehnisse auf dem Schädelberg. Denn der Tod durch Kreuzigung als grausame Folter- und Hinrichtungsart war eine geläufige Praxis jener Zeit. Sie wurde besonders dann angewandt, wenn bestehende Machtverhältnisse und -strukturen radikal hinterfragt wurden. So war der Tod am Kreuz sowohl entlaufenen Sklaven als auch politischen Aktivisten vorbehalten, die sich gegen die Besatzung durch die Römer auflehnten. Bei der Praxis der Kreuzigung handelte es sich also um eine bewusste Vorgehensweise, um bestehende Machtverhältnisse und Machtansprüche zu unterstreichen. Die Machtlosigkeit der Gekreuzigten, deren Entwürdigung und deren öffentlich zur Schau gestelltes Scheitern sollten dabei als Abschreckung dienen. Und sie sollten zugleich die Architektur der bestehenden Machtverhältnisse in aller Bildhaftigkeit darstellen und festigen.

Der Evangelist Lukas hat ein feines Gespür für diese Dimension des Kreuzesgeschehens. Durchgehend, und wie bei keinem der anderen drei Evangelisten, geht es in unserem Textabschnitt um Macht und Machtlosigkeit. Der Evangelist Lukas arbeitet, wie vermutlich seine eigenen Mitchristen zu jener Zeit, aber sicherlich auch wie wir Christen es in heutiger Zeit tun und immer wieder tun müssen, an dem augenscheinlichen Widerspruch der Machtlosigkeit des als mächtig bezeugten. Wie kann dieses Unheil als Heil gedeutet werden? Wie kann dieses Scheitern als Sieg verstanden werden? Wie ist diese Ohnmacht am Kreuz der Allmacht Gottes zuzuordnen?

Gleich dreimal klingen diese Fragen in unserem Text an, und zwar jedes Mal in Form von höhnenden Zurufen und beißendem Spott. Sollte sich etwa in diesem Hohn und Spott das widerspiegeln, was die ersten Christen sich von ihrem sozialen Umfeld anhören mussten? Oder ist dieser Hohn und Spott etwa auch gegenwärtigen Glaubenserfahrungen gleichzusetzen, die sich ja ebenfalls mit zerschlagenen Hoffnungen, mit Unheil, Verwüstung und Scheitern auseinandersetzen müssen und darin trotzdem an Gottes Handeln festhalten wollen?

In unserem Bibeltext ist es zunächst die Menschenmenge, die Hohn und Spott äußert - und zugleich auch die Frage nach der Macht in jener offenkundigen Ohnmacht Jesu am Kreuz stellt. Sicherlich hatte diese Menschenmenge die vielen Wunder Jesu noch lebhaft in Erinnerung. Darum ruft sie ihm jetzt zu, dass er sich doch so helfen möge, wie er anderen geholfen hat. Die Soldaten unter dem Kreuz setzen dem Ganzen noch eine neue Dimension hinzu, indem sie auf seine angebliche Königsherrschaft hinweisen und ihn damit auch der politischen Lächerlichkeit aussetzen. Und schließlich ruft ihm einer, der mit ihm auf dem Schädelberg gekreuzigt wurde, noch zu: „Hilf dir doch selbst - und hilf auch uns!" Wie ein roter Faden zieht sich durch diese drei höhnenden Zurufe die Frage: Wo ist denn deine Macht? Was ist denn das für eine Macht?

Mich erinnern diese Geschehnisse kurz vor dem Ende der irdischen Wirkungszeit Jesu an jene Situation, die er bereits gleich zu Beginn seiner Wirkungszeit erlebt hat: die dreifache Versuchung in der Wüste. Ein großer Bogen spannt sich somit über die ganze irdische Wirkungsgeschichte Jesu, die davon gekennzeichnet ist, dass die Offenbarung Gottes in Jesus Christus auf Unverständnis, ja auf Widerstand stößt. Wenn es nach den Menschen geht, soll Gott offensichtlich anders sein - vermutlich uns Menschen viel ähnlicher, damit wir gottähnlicher werden.

Die Ausgangslage zwischen diesen beiden Episoden im Leben Jesu - seine Versuchung in der Wüste und seine Versuchung am Kreuz - ist zwar eine ganz andere, auch sind die Voraussetzungen unterschiedlich. Doch ganz ähnlich wie bei den Geschehnissen am Schädelberg sah sich Jesus auch dort, in der Wüste, spöttelnden Aufforderungen ausgesetzt. Ganz ähnlich wie vor den Toren Jerusalems ging es auch dort durchgehend um die Aufforderung, die eigene Macht doch für sich selbst zu verwenden. Ganz ähnlich ging es auch dort darum, sich von seinem innigen Verhältnis zu Gott, seinem Vater, zu lösen, das eigene Heil vorzuziehen und sich aus dem Auftrag, der ganzen Welt den umfassenden Heilswillen Gottes zu offenbaren, doch einfach fortzustehlen. Hier wie dort also ging es darum, sich von der Solidarität mit dem Menschen und der gesamten Schöpfung loszusagen, um als Individuum weiterzuleben.

Hier wie dort hält Jesus der Versuchung stand und geht den Weg weiter, der seinen Ausgang in Gott selbst hat. Es ist der Weg der Menschwerdung, jener radikalen Zuwendung Gottes zu seiner Schöpfung; jener durchgehende Heilswille, der Gott die Nähe mit dem Menschen suchen lässt in seinem Sohn Jesus Christus. Der Ausgangspunkt dieses Weges ist von der Entäußerung gekennzeichnet - Gott entäußert sich seiner selbst. Die Macht, die Gott für sich hätte behalten können, gibt Gott dahin, damit Gottes Welt das Leben findet. Die Macht, die Jesus in der Wüste hätte an sich reißen können, um zu herrschen und satt zu werden, lässt er unangerührt und geht somit den von Gott eingeschlagenen Weg der Entäußerung weiter. Und anstatt jene Macht zu ergreifen, die Jesus am Kreuz noch hätte an sich reißen können, um sein eigenes Leben zu retten, zieht Jesus die Ohnmacht vor, durch die die Rettung für alle geschieht.

Die ersten Christen verdichteten diese paradoxen Glaubenseinsichten in einem Gesang, den der Apostel Paulus im Philiperbrief niedergeschrieben hat (Phil. 2,5-9):

Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war: welcher, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, hielt er's nicht für einen Raub, Gott gleich sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein andrer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden; er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist.

Die innere Dynamik der Entäußerung Gottes, seine Inkarnation in seinem Sohn Jesus Christus und sein permanenter Machtverzicht, damit alle das Leben finden - all das widerspricht grundsätzlich unseren eigenen, menschlichen Vorstellungen von Macht, von Liebe und von Gerechtigkeit. Niemals oder wenn, dann doch eher selten, geht es bei uns um Machtentäußerung. Es geht um Machterhalt. Oder um Machtausbau. Nur selten geht es bei uns um hingebende Liebe um der Anderen willen. Und nur selten geht es bei uns um Gerechtigkeit, die anderen gilt, sondern um eigene Gerechtigkeit, die nicht selten in verheerende Selbstgerechtigkeit umkippt. Gottes innere Dynamik der Hingabe kollidiert mit unserer inneren Dynamik der ungehemmten Selbstsucht und Raffgier. Macht, Liebe, Gerechtigkeit - das Kreuz auf dem Schädelberg wird zum Brennpunkt dieser Kollision; die spottenden Fragen der umstehenden Menschen werden zur peinlichen Offenbarung unseres verkümmerten Verständnisses von Macht, Liebe und Gerechtigkeit; und die Hingabe Gottes durch seinen Sohn Jesus Christus wird zum Eingangstor für neue Dimensionen und Tiefen, in denen wir uns als Menschen versuchen dürfen. Es ist das Eingangstor zum Leben in Fülle, das uns in Christus geschenkt ist (Joh. 10,9).

Weil wir als Christen, trotz unserer Gefangenschaft in unserer eigenen menschlichen Dynamik, die Perspektive für dieses Leben in Fülle in Jesu Kreuzigung erkennen, erzählen wir uns von den Geschehnissen vor den Toren Jerusalems weiter. Ganz so, wie wir unter uns die Erinnerung an viele andere biblische Gestalten wach halten, die in der Gegenwart Jesu Christi die tief gehende Transformation hin zu einer hingebenden Existenz erlebt haben: die unbenannte Frau, die ihr gesamtes wohlriechendes Öl über Jesu Haupt gießt als Zeichen eines großzügigen Dienstes. Oder Zachäus, jener Zöllner, der in der Gegenwart des Herrn seine ungerechte Raffgier erkennt und sich zur solidarischen Wiedergutmachung aufmacht. Oder jener Vater, der seinem Sohn entgegenläuft, dabei jeglichen Anstand und Sitte vergessend - es stand in biblischen Zeiten einem Hausherren nicht an, einfach loszurennen, das war etwas für Kinder! -, bloß um seiner vergebenden Liebe Ausdruck zu verleihen.

Es ließen sich durchaus noch viele andere Beispiele erwähnen - alles Erinnerungen, die von den ersten Christen zusammengetragen wurden und weitererzählt wurden und die ihren Eingang in die schriftliche Niederlegung der Bibel gefunden haben, weil sie so stringent auf diesen essentiellen Zug des Christusgeschehens hinweisen: Nicht im Horten und Sammeln, nicht in der krampfhaften Umklammerung sichert man sich das Leben, sondern in der Öffnung und in der Hingabe, in der selbstlosen Liebe. Dort kann wahres und volles Leben gefunden werden.

Diese Botschaft erklingt heute auch für uns. Sie trifft uns in einem Zeitalter, in dem die zur Faust erstarrten, alles an sich reißenden Hände der Menschheit großen Schaden anrichten. Die ökologischen Probleme, der mangelnde Wille, sich darauf einzustellen und darum endlich umzustellen, sind eine Konsequenz dieser egozentrischen, aber auch anthropozentrischen Lebensausrichtung. Immer mehr bekommen wir eine Ahnung davon, dass wir uns damit vielleicht vieles sichern, jedoch nicht das Leben. Die gegenwärtige Finanzkrise ist lediglich eine weitere Ausformung dieser gleichen Grundausrichtung, die sich inzwischen darauf erpicht, Gelder zu horten und auszugeben, die es im eigentlichen Sinn überhaupt nicht gibt. Die drohende Abkehr von den Prinzipien der Solidarität, wie sie sich etwa im Umgang mit Migranten und Migrantinnen zeigt oder in der Indifferenz gegenüber einer sich ausweitenden Schere zwischen Arm und Reich, kann nur auf einer rasch um sich greifenden Selbstgerechtigkeit fußen, die mittlerweile das Denken und Fühlen von weiten Gesellschaftsteilen erfasst.

Durch Taufe und Abendmahl, aber auch durch das gepredigte Wort empfangen wir Christus in unserem Leben, der durch das Kreuz gegangen ist, damit die Welt das Leben erhält. Damit werden wir hineingenommen in jene eingangs beschriebene Dynamik Gottes, also in seine Zuwendung zum Menschen und zu seiner Schöpfung. Wir werden erfasst von jener Lebensausrichtung, die in so vielem und so oft unserer eigenen Lebensausrichtung widerspricht, uns dabei jedoch ganzes Leben und heiles Leben zuspricht. Möge darum das Kreuz eine lebendige Erinnerung bleiben an Gottes entäußernde Liebe. Möge es damit auch ein Mahnmal für unsere Selbstbezogenheit sein, die immer neue und immer mehr Opfer suchen wird, darunter sogar uns selbst. Möge die Glaubenszuversicht und -einsicht, dass Gott sich nicht selbst hat retten wollen, sondern an unserer aller Rettung bis zum Schluss festgehalten hat, uns so verändern, dass wir uns mit hineinnehmen lassen in Gottes Geschichte mit uns, mit unseren Mitmenschen und mit Gottes gesamter Schöpfung. Das Kreuz auf dem Schädelberg ist der Lebensbaum unserer Hoffnung.

Amen



Generalsekretär Pfarrer Martin Junge
Genf
E-Mail: JUNGE@lutheranworld.org

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