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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Karfreitag, 22.04.2011

Predigt zu Lukas 23:32-49, verfasst von Manfred Gerke


Liebe Gemeinde,

Menschen am Kreuzweg. Menschen, die Jesus begegnet sind auf seinem Weg nach Golgatha. Wir haben sie begleitet, beobachtet, etwas besser kennen gelernt: Barabbas, der plötzlich das Leben neu geschenkt bekam; der Hauptmann, der das Hinrichtungskommando zu leiten hatte; Pilatus, der sich diesen Prozess ganz gewiss nicht ausgesucht und gewünscht hat; Judas, der aus der ganzen Angelegenheit das Beste herausholen will und den Tod findet; Petrus, der so mutig sein möchte und Jesus doch verleugnet; Maria Magdalena, nur eine Frau, und doch ihm ganz nah.

Und heute begegnen wir dem Schächer, der mit ihm stirbt. Und nicht nur ihm. Denn dort vor den Stadttoren Jerusalems haben sich viele versammelt. Aus unterschiedlichen Gründen wollen sie dabei sein bei diesem grausamen Spektakel. Auch wir sind jetzt mitten unter ihnen.

Wir sehen das Kreuz in der Mitte, Jesus. Er stirbt. Er stirbt unter schrecklichen Qualen einen gewaltsamen Tod. Trotzdem zeigt ihn uns Lukas als einen vorbildlich Sterbenden: Jesus kommt mit dem zurecht, was da geschieht. Er verabschiedet sich versöhnlich auch von denen, die ihm das antun, mit der Bitte: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!"

Mitten im Sterben hat er bereits eine höhere Position eingenommen, hat er bereits Abstand von sich und seinem Leiden genommen. Er ist nicht mehr in der Gewalt gefangen, die er erleidet, sondern hat sich aus dem Kreis der Gewalt hinausbegeben und schließt ihn mit seiner Vergebung ab, damit die Gewalt sich nicht fortpflanzen kann.

Er ist bereits auf dem Weg in eine andere Zukunft. Diese andere Zukunft hat aber noch eine Verbindung zu seiner Gegenwart. Er verspricht einem der Mitgekreuzigten Anteil an dieser seiner Zukunft. Auch seine letzten Worte sind versöhnlich und bestätigen die Kraft seines Glaubens an den Gott, von dem er eine Zukunft erwartet.

„Vater ich befehle meinen Geist in deine Hände." Mit diesen Worten aus Psalm 31 stirbt er, wie er gelebt hat, im grundlegenden Vertrauen auf Gott. Und das kann auch durch den Schmerz der Kreuzigung und die Verlassenheit nicht zerstört werden. Dieser Jesus, so wie Lukas ihn uns beschreibt, ist damit zum Vorbild für alle Sterbenden geworden. Er nimmt den Kelch an aus Gottes Hand.

Der Evangelist beschreibt hier vor allem den Menschen Jesus von Nazareth, der einen ungerechten Tod erleidet, ohne sich dagegen zu wehren - und die Reaktion seiner Umwelt bis hin zum Eingreifen Gottes in der großen Finsternis und dem Zerreißen des Vorhangs. Hier wird deutlich, dass da einer stirbt, der mehr ist als nur ein Mensch.

Was mir auffällt: Jesus trägt in dem Bericht des Lukas keine Dornenkrone wie in allen drei anderen Evangelien. Seine letzten Worte haben nichts von dem königlichen „Es ist vollbracht!" des Johannesevangeliums, und der Hauptmann unterm Kreuz spricht nicht wie bei Markus und Matthäus davon, dass dieser wahrlich Gottes Sohn gewesen ist, sondern er sagt: „Das war wirklich ein frommer, ein gerechter Mensch!" Bei Lukas sehen wir einen Menschen, der auf besondere, auf die umstehenden Menschen beeindruckende Weise stirbt.

Wenn es uns eines Tages gelingen sollte, so im Vertrauen auf Gott zu sterben, können wir uns glücklich schätzen. Wenn es uns gelingen sollte, unseren Abschied so ohne Groll zu nehmen, die anderen loszulassen und ihnen dabei alles Gute zu wünschen, dann sterben wir gut. Wenn es uns gelingen sollte, so versöhnlich unser Leben abzuschließen und uns mit unserem Sterben einverstanden zu erklären, dann sterben wir friedlich. Möge Gott uns dazu helfen!

Und wenn wir erleben, dass jemand so stirbt, dann können wir auch sagen wie der Hauptmann hier unter dem Kreuz: „Fürwahr, das ist ein frommer Mensch gewesen!" Jesus stirbt. Aber er stirbt auf höchst würdige Weise, weil er Gott vertraut und weiß, was ihn in seinem Reich erwartet. Von seinem Sterben können wir lernen für unseren eigenen Umgang mit dem Tod.

Es gibt in unserer Geschichte aber nicht nur den sterbenden Jesus. Es gibt auch all die anderen, die sich zu seinem Sterben verhalten. Und da sehen wir die verschiedensten Möglichkeiten, auch mit dem Leiden und Sterben anderer umzugehen.

Da sind zunächst einmal die, die Jesus gekreuzigt haben. Und da gab es zwei Gruppen: die einen, denen es in erster Linie darum ging, ihre Macht zu erhalten, und die dafür bereit waren, über Leichen zu gehen. Überall in der Welt gibt es solche Menschen, Diktatoren, die keine Skrupel kennen und zum Erhalt ihrer Macht und ihrer persönlichen Bereicherung andere ermorden lassen.

Unter denen, die Jesus kreuzigten, gab es aber sicherlich auch solche, die das schweren Herzens taten, aus einer vermeintlichen Verantwortung für ihr Volk heraus, um eine politische und menschliche Katastrophe zu verhindern. Denn sie fürchteten, dass Jesus einen Aufstand gegen die Römer provozierte.

Wenige Jahrzehnte später hat sich gezeigt, wie ein solcher Aufstand zu einem grässlichen Blutbad führt. Auch heute wird immer wieder militärisch eingegriffen, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern: in Afghanistan, Libyen und anderswo. Ob das gelingt und ob das Ziel die Mittel rechtfertigt, ist nicht sicher und stark umstritten. Sicher ist, dass auch heute Menschen sterben, weil andere meinen, damit Schlimmeres zu verhindern.

Ganz kurz erwähnt nur werden von Lukas die, die seine Kleider verteilen und das Los darum werfen. Aber wir alle kennen das: Wenn jemand stirbt, stellt sich gleich auch die Frage nach der Erbschaft. Die Verteilung des Erbes und auch die Erbstreitigkeiten können durchaus bereits am Totenbett beginnen. Das ist heute genauso wie damals.

Ebenso kurz erwähnt werden auch die Spötter und Schaulustigen, die unter Jesu Kreuz stehen. „Er hat anderen geholfen, jetzt soll er sich selbst helfen", sagen sie. Schadenfreude ist die schönste Freude, so sagt man.

Und es gibt immer die, die sich daran weiden, wenn anderen etwas Schlimmes zustößt - oft mit nur schlecht verhohlener Sensationslust. Eine Form davon ist der sog. „Katastrophentourismus". Bei einem schweren Unfall stehen oft so viele Leute um die Opfer herum, dass die Rettungsfahrzeuge nicht mehr durchkommen und die Rettungsdienste behindert werden.

Schadenfreude bzw. Spott zeigt selbst der eine Mitgekreuzigte. Dem ist es wohl ein Trost, dass er nicht der einzige ist, der sterben muss. Und vielleicht klingt in seinem Satz auch eine Spur Hoffnung, dem Tod doch noch entgehen zu können: „Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns!"

Und ist es nicht auch manchmal, wenn es uns selbst schlecht geht, fast schon eine Hilfe, ein Trost zu wissen, dass wir nicht die einzigen sind, die Probleme haben? Erwarten wir nicht manchmal zu Recht Hilfe oder zumindest Rat von Menschen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden wie wir, wenigstens aber Verständnis?

Ganz anders der zweite Mitgekreuzigte. Er sieht sein Leid am klarsten, weil er das gleiche Schicksal erdulden muss. Er muss sterben und er hat Angst, Angst vor dem Tod und noch mehr Angst vor Gott. Menschen haben ihn verurteilt - zu Recht. Was aber wird Gott zu seinem Leben sagen, zu seiner Schuld, zu seinem Versagen?

Deshalb hat er Angst und klammert sich an Jesus. Für ihn ist der Tod nicht das Letzte, nicht aus und vorbei. Er weiß: Es gibt eine Zukunft - mit Gott oder auch ohne Gott. Und deshalb bittet er Jesus: „Gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst." Und Jesus antwortet ihm: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein."

Der einzige Mensch, dem Jesus jemals konkret den Himmel verheißen hat: ein rechtskräftig verurteilter Verbrecher. Ein Räuber oder Terrorist. Wir wissen es nicht so genau. Auf jeden Fall einer, der gemordet, Menschenleben auf dem Gewissen hat.

Eigentlich skandalös: Eine einzige Geste der Zuwendung und Selbsterkenntnis genügt Jesus, um jemanden freizusprechen und eine zerstörte Existenz zu heilen. Wer sein Leben lang anständig geblieben ist, mag das unfair finden - bis er erkennt: Gottes Güte reicht weiter als seine Gerechtigkeit. Seine barmherzige Liebe verzichtet auf menschliche Vorleistungen. Und das ist unser aller Chance! Die einzige Chance.

In der späteren Legende bekommt er sogar einen Namen: Dismas. Und am 25. März steht sein Name in dem katholischen Heiligenkalender. Ein Verbrecher im Heiligenkalender. Auch das ist einmalig.

Doch auch er, gerade er kann uns als Vorbild dienen. In der Stunde unseres Todes können auch wir wie er auf Jesus blicken und uns an ihn klammern, ihm alles Dunkle anvertrauen. Und wir sollen wissen: wir sind nicht allein. Jesus ist uns vorangegangen. Dort, wo wir hingehen, wird er schon sein, uns den Weg bereiten und für uns eintreten.

- - - Lasst uns innehalten und miteinander anstimmen Lied 85,8-10.

„Erscheine mir zum Schilde, zum Trost in meinem Tod, und lass mich sehn dein Bilde in deiner Kreuzesnot." So haben wir gesungen. Und Lukas weist auf Jesus, weist auf den Menschen Jesus, wie er sich im Angesicht des Todes verhält. Zugleich aber zeigen auch die besonderen Umstände seiner Todesstunde, dass es eben nicht nur ein Mensch ist, der dort stirbt.

Das wird nach außen sichtbar: Die Sonne verfinstert sich, und der Vorhang im Tempel zerreißt. Die zusehen, bekommen Angst und erkennen ihre eigene Schuld an dem, was da geschieht.

Sie können nicht länger distanziert und neugierig und vielleicht schadenfroh bleiben. Sie werden in das Geschehen hineingezogen. Sie begreifen, dass das, was sich dort ereignet, ihr Leben betrifft, sie schlagen sich an die Brust und kehren um.

Das kann einem schon passieren, wenn man dabei ist, wie jemand bewusst und in Würde stirbt. Wer das einmal erlebt hat, wird es nie wieder vergessen. Denn unweigerlich muss ich mir dann die Frage beantworten: Was ist mit meinem eigenen Leben?

Lebe ich so, wie ich es für richtig halte, tue ich das, was ich für wichtig halte, oder lasse ich mich von allem möglichen Unwichtigen ablenken? Diese Frage, ernsthaft gestellt, kann zu grundlegenden Veränderungen führen. Wie viel mehr musste es den Menschen so ergehen, die bei Jesu Tod dabei gewesen sind!

Die Freundinnen und Freunde Jesu erlebten ja alles mit, sahen es von ferne. So wie wir durch sie von ferne mit dabei sind, wenn wir die fast 2000 Jahre alte Geschichte hier im Gottesdienst erleben und uns in ihr wieder finden.

Und dadurch wird uns diese Geschichte zum Spiegel. Und wir fragen uns: „Wo komme ich in diesem Abschnitt vor? Wer bin ich?" Ich kann Wesenszüge von mir in vielen Personen wiederfinden. Ob ich damit immer ganz glücklich bin, steht auf einem anderen Blatt. Aber vielleicht kann ich mich ja auch fragen: „Wem möchte ich ähnlich sein?"

Auch da finden sich Möglichkeiten. Ich wäre z. B. gern wie der zweite Übeltäter - möchte auch in einer aussichtslosen Situation noch die Chance nutzen, die sich mir bietet und zu einem so entschlossenen Vertrauen in Jesus und die Zukunft bei Gott finden.

Und natürlich wünsche ich mir für die Stunde meines Todes, dass ich dann so getrost damit umgehen kann, wie der Mensch Jesus es hier vorlebt: noch im Tod fürsorglich, besonnen und ruhig, weil er mit sich selbst und seinem Gott im Reinen war.

Es stand im Neukirchener Kalender: Sie war schon vom Tode gezeichnet, nur noch Haut und Knochen. Ihre Stimme wurde immer schwächer. In den letzten Tagen konnte sie das Psalmwort nur noch flüstern, das sie schon seit vielen Jahren begleitete: „Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen?"

Das war ihr Halt in den Schmerzen. Den letzten Besuch bei ihr wer­de ich nicht vergessen. Als ich eintrat, lächelte sie mich an. „Ich habe geträumt", sagte sie. „War es ein schö­ner Traum?" fragte ich. „Ich träumte, ich bekomme ein Kind. Dabei ist doch gar nichts in Aussicht."

Wenige Tage später hat Gott die über 90-Jährige heimgerufen. Mitten im Sterben war sie von guter Hoffnung erfüllt: Hoffnung auf das neue Leben, Auferstehungshoffnung. Das ist lebendige Hoffnung, die in der Auferstehung Jesu gründet und die Verwandlung unseres Lebens erwartet.

Ich schaue noch einmal auf Jesus. Er betet am Ende: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!" Worte aus Psalm 31, Worte voller Vertrauen. Jesus gibt aber auch seinen göttlichen Auftrag zurück in die Hände seines Vaters im Himmel.

„Geist" ist für Jesus keine Theorie, sondern handfeste Wirklichkeit. Bei der Taufe schreibt Lukas: „... da tat sich der Himmel auf, und der Heilige Geist fuhr hernieder auf ihn in leiblicher Gestalt wie eine Taube, und eine Stimme kam aus dem Himmel: Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen."

Immer wieder ist an zentralen Stellen vom Geist die Rede bei Lukas. Auf Anregung des Geistes geht der 12-jährige Jesus in den Tempel, in der Kraft des Geistes kommt er nach seiner Taufe nach Nazaret.

Das Thema zieht sich durch bis zu seinen letzten Worten am Kreuz. Er gibt seinen Auftrag, seine Begabung an Gott zurück und legt damit das Heft des Handelns aus der Hand. In und nach seinem Tod handelt Gott, er allein. Da hat der Mensch nichts mehr auszurichten.

Und Gott handelt! Er erweckt Jesus auf. Und der kündigt seinen Jüngern an, dass sie mit der Kraft aus der Höhe zugerüstet werden sollen, dass er auf sie herabsendet, was sein Vater verheißen hat.

Damit greift er dem Pfingstgeschehen vor, von dem Lukas in seiner Apostelgeschichte erzählt: Der Heilige Geist, den Jesus in Gottes Hände zurückgelegt hat, kommt nun nach Jesu Tod und Auferstehen über seine Jünger und wirkt fort bis heute hin - überall dort, wo Menschen sich in Seinem Namen versammeln, überall dort, wo wir um ihn und seine Kraft bitten.

Karfreitag: Gott hat den Tod überwunden. Wir können Jesus in dem Vertrauen folgen, dass auch wir durch den Tod hindurch das Paradies finden, das er dem zweiten Übeltäter versprochen hat. Doch bis es soweit ist, leben wir aus seiner Kraft und in seiner Kraft und bezeugen und ehren ihn. Amen.



Pfarrer Manfred Gerke
Stapelmoor, 26826 Weener
E-Mail: Gerke.Manfred@t-online.de

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