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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Gründonnerstag, 21.04.2011

Predigt zu Matthäus 26:17-30, verfasst von Marianne Frank Larsen

Krümel liegen auf dem Tischtuch. Das ist das einzige, was Will bemerkt. Nicht das weiße Tischtuch, nicht den leckeren Kuchen, nicht die zierlichen Kuchengabeln aus Silber, aber die Krümel, die zwischen Kuchenplatten und Tellern liegen. Und die zähflüssigen Ablagerungen, wie Teer oder Asphalt, auf dem Boden der Kaffeetassen. Die Sache ist nämlich die, dass Will verraten wurde. In Lars Saabye Christensens Buch „Visning“ [so der norwegische Originaltitel, erschienen 2009, auf Dänisch im selben Jahr unter dem Titel „Åbent hus”], ist er zum 50. Geburtstag seines Vaters nach Hause gekommen. Heim zu den Eltern, bei denen er sich nicht mehr zu Hause fühlt. Heim in den Kreis von Freunden und Familie, mit dem ihn gefühlsmäßig nichts mehr verbindet. Auf dem Weg dorthin haben er und seine Freundin sich lustig gemacht über die Rede, die er für seinen Vater nicht geschrieben hat. Denn wenn es überhaupt jemanden gibt, für den Will keine Rede halten will, dann ist es der Vater, zu dem er auf Abstand gegangen ist, so gut er nur konnte. Doch plötzlich sagt Cathrin genau dies, an der Kaffeetafel mit all den versammelten Geburtstagsgästen: Will möchte eine Rede halten für seinen Vater. Und da geschieht es dann, dass er nichts mehr sehen kann außer den Krümeln auf dem Tischtuch und dem Bodensatz in den Kaffeetassen. Nicht das Schöne und Feine. Bloß all die hässlichen und abstoßenden Details. Denn Cathrins Worte sind Verrat. Ein Missbrauch des Vertrauens zwischen ihnen. Eine Bloßstellung von Will und seinem Unvermögen. Eine Falle. Es wird ganz still. Alle warten gespannt, was der einzige Sohn des Hauses zu sagen hat. Und der hat jetzt keine andere Wahl als aufzustehen, bedrückt und mit gesenktem Blick, und zu versuchen, Worte für eine Rede zu finden, die nicht zu halten ist.

Das ist eine ganz gewöhnliche Erfahrung. Man sitzt an einem Tisch, zum Essen verabredet, ist Teil der Gemeinschaft. Und plötzlich fällt eine Bemerkung, die einen bloßstellt. Oder einen ausliefert. An den wundesten Punkt rührt, den man hat. Einen herabsetzt. Die etwas enthüllt, was nicht alle zu wissen brauchen. Es kann sein, dass es gar nicht auffällt; vielleicht nimmt das Fest einfach seinen Lauf, als wäre nichts geschehen. Aber man selbst sitzt mit hochrotem Kopf da oder mit Tränen in den Augen, verraten und verkauft. Das ist am schlimmsten, wenn es von Menschen kommt, die einander in- und auswendig kennen und sich eigentlich gegenseitig schützen sollten. Wenn Eheleute einander verraten. Oder Eltern ihre Kinder verraten. Es ist zutiefst unerträglich, das mitzuerleben mitten beim guten Essen. Und es ist zutiefst verletzend, wenn man selbst der Betroffene ist. Das Fest ist gelaufen, man ist nicht mehr Teil der Gemeinschaft; man ist außen vor, und was so behaglich und schön war, solange man dazugehörte, löst sich in abstoßende Details auf. Krümel auf dem Tischtuch und Kaffeesatz in den Tassen. Und man muss sich schon gewaltig zusammenreißen, um so zu tun, als wäre nichts. Wenn man nicht gar gleich vom Tisch aufsteht. Wir haben alle schon erlebt, dass jemand nicht anders konnte.

Beim Abendmahl am Gründonnerstagsabend ist ein Verräter dabei. Es hätte ein besonderer, ein wunderbarer Abend werden sollen, denn es ist Ostern. Die Jünger hatten das Passahmahl vorbereitet mit allem, was dazugehört an guten Speisen und Wein, an schönen Liedern und großen Worten über die Geschichte, von der sie herkommen. Festlichkeit und Gemeinschaft. Die Gemeinschaft, die entsteht, wenn Menschen am selben Tisch sitzen und die Speisen teilen, die Lieder und die Geschichte. Doch mitten beim Essen zerstört Jesus die gute Atmosphäre und erklärt, die Gemeinschaft sei nicht das, was sie scheine. Es gibt einen Verräter unter ihnen. Er nennt ihn nicht beim Namen; das wird Matthäus dann tun; „Judas, der ihn verriet“, sagt er, und damit ist es klar. Oder doch nicht so ganz? Gewiss ist es Judas, der hinausgeht, um Jesus zu verraten, sein Vertrauen missbraucht und ihn ausliefert, als er am stärksten gefährdet ist und allein, im Garten Gethsemane, in der Nacht. Aber es gibt eine ganze Reihe von anderen, die fragen, einer nach dem andern: „Herr, bin ich’s?“ Beim Hören der Matthäuspassion kann man ihre Frage „Bin ich’s?“ schlicht mitzählen: Sie ertönt nicht nur einmal, sondern elfmal. Und es liegt eine tiefe Wahrheit darin. Auf dem Weg hinaus nach Gethsemane am selben Abend beteuert Petrus bekanntlich, er werde seinen Meister niemals verleugnen, „und wenn ich mit dir sterben müsste“. „Dasselbe sagten auch alle Jünger“, berichtet Matthäus. Als aber am nächsten Morgen der Hahn kräht, sind sie über alle Berge. Nicht einer ist noch da. Und darum lautet die Antwort: Ja, auch du bist’s! Es gibt mehr als einen Verräter am Tisch des Gründonnerstagabend.

Will spricht nicht mehr mit Cathrin an jenem Tag, beim Geburtstag seines Vaters. Als sie nach Hause fahren und noch immer kein Wort gewechselt haben, stellt sie fest, er sei wohl wütend, weil sie gesagt hatte, er würde eine Rede auf seinen Vater halten. Und Will reagiert mit ironischer Distanz: Warst du das, die das sagte? Ich würde eine Rede halten? Davon hatte ich wirklich keine Ahnung. Er ist absolut kalt ihr gegenüber, und als die Gelegenheit sich bietet, wird er handgreiflich. Er demütigt sie aufs gröbste und verwundet sie, im Wortsinn. So reagieren wir auf einen Verrat. Mit Schweigen, denn das ist das Ende der Aufgeschlossenheit gegenüber einem Menschen, der einen verraten hat. Mit Ironie, wenn man dazu noch die Kraft hat, denn so kann man ihn herabsetzen. Oder mit Rachegelüsten, die vielleicht, vielleicht auch nicht gestillt werden können, denn für den Augenblick gibt es nichts, was man lieber möchte, als denjenigen zu demütigen und zu verletzen, der das Vertrauen missbrauchte und einen preisgab.

Die Geschichte vom Gründonnerstag ist eine Geschichte über das Gegenteil. Denn so wie wir reagieren, reagiert Jesus nicht. Er reicht seinen Jüngern Brot und Wein und erklärt, das sei sein Leib und sein Blut, und es sei für sie. Es wird für sie gegeben. Und er ist es selbst, der ihnen gegeben wird. Mit Brot und Wein sagt Jesus mehr als mit vielen Worten. Er sagt, so unbegreiflich es auch klingen mag, es liege ein Sinn darin, dass er sterben muss. Er muss sterben, um ihnen das Leben zu geben, wie Brot und Wein müden Menschen neue Lebenskraft spenden. Er erklärt, dass er nicht nur als passives Opfer eines schrecklichen Fehlers oder eines Justizmords getötet wird. Im Gegenteil, aktiv und bewusst gibt er ihnen inmitten des Grauens, das kommt, sein Leben. Mit allem, was das mit sich bringt: Vergebung der Sünden hier und jetzt. Und einst neuen Wein im Reich seines Vaters.

In höchster Not sind wir vielleicht bereit, unser Leben für jemanden opfern, den wir sehr lieben. Jemanden, dessen Leben uns kostbarer ist als unser eigenes. Jesus aber gibt das Brot und den Wein und damit sein Leben für die, die ihn verraten. Für Judas, der ihn ausliefert, und Petrus, der ihn verleugnet, und Thomas, der an ihm zweifelt, und Jakobus und Johannes, die es nicht schaffen, mit ihm wachen, und für all die anderen, die ihn im Stich lassen und nur wenige Stunden später schon fliehen. Er nennt das den neuen Bund. Was es auch ist. Denn im alten Bund und in allen anderen Bündnissen, die wir kennen, müssen wir die jeweiligen Bedingungen erfüllen, damit die andere Partei die Bedingungen ihrerseits erfüllt. Es geht auf Gegenseitigkeit. An Gründonnerstag beim Abendmahl aber sind keine Bedingungen zu erfüllen. Ganz im Gegenteil. Da sitzen Verräter Schulter an Schulter. Und doch streckt er sich nach ihnen aus und hält an ihnen fest, um ihnen sich selbst zu geben und sein Leben. In der Nacht, in der er verraten wird, gibt er sich selbst den Verrätern. Es ist die merkwürdigste Mahlzeit. Aber so ist der neue Bund offenbar. Eine Liebe, die sich nie in Ironie verwandelt, in Kälte, in Rachegelüste, in Schweigen wie bei uns, wenn wir verraten werden. Die Liebe, die sich im Wortsinn unaufhörlich nach uns ausstreckt – in Wort und Brot und Wein.

Das Evangelium zum Gründonnerstag ist bedeutungsschwer. Der Tod liegt zwischen den Zeilen, von dem Moment an, da Jesus das Wort nimmt. Der Verrat der Jünger, der Tod des Vertrauens und, wenn man so will, der Tod der Gemeinschaft, und sein Tod. Es währt nicht mehr lange, und es ist alles vorbei. Aber mit dem Brot und dem Wein und den wunderbaren Worten wandelt er seinen Tod um. Vor den Tod stellt er die Vergebung der Sünden. Verzeihen des Verrats, der das Ende der Gemeinschaft zwischen ihnen hätte bedeuten können. Dazu stellt er nach den Tod den neuen Wein, den sie einst trinken werden, gemeinsam, in seines Vaters Reich. Eine große Hoffnung auf eine Gemeinschaft jenseits des Todes. Im Vertrauen auf diese Worte gibt es nichts mehr, das sie trennen kann: weder ihr Verrat noch sein Tod. Der Tod kommt, aber jetzt gibt es Leben diesseits und jenseits von ihm. Die Vergebung der Sünden hier und jetzt – und den neuen Wein auf der anderen Seite des Todes in seines Vaters Reich. Der Tod ist vom Leben umgeben. Das ist die Liebe des neuen Bundes. Er ruft neues Leben hervor, wo kein Leben ist, in den Augen der Menschen, in ihren Herzen und Worten. Und in ihren Gräbern.

Darum feiern wir immer wieder das Abendmahl. Denn es umgibt den Tod mit Leben. Denn im Abendmahl begegnen wir einer Liebe, die niemals in ihr Gegenteil umschlägt, sondern sich unaufhörlich nach uns ausstreckt, um uns zu vergeben und unsere Hoffnung zu wecken, immer und immer wieder. Mitunter verraten wir einander, mitunter werden wir verraten, wie Will von Cathrin verraten wurde an jener Geburtstagskaffeetafel. Und dann können wir mir nichts, dir nichts in jenen Teufelskreis geraten aus Scham, Rachegelüsten und Kälte, der uns isoliert und jede Lebensfreude erstickt, so dass alles zerfällt in abstoßende Details. Doch hier am Tisch in der Kirche kommt unser Herr zu uns im Wort und im Sakrament, durchbricht die Teufelskreise und macht uns frei. Frei zu seinen, zu seinen weiten Kreisen, die den Tod umgeben mit Leben. Frei für ihn und füreinander und für das Frühjahr, das jetzt vor uns liegt.

Amen



Pastorin Marianne Frank Larsen
Fredericia
E-Mail: mfl@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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