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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Ostermontag, 25.04.2011

Predigt zu Lukas 24:13-35, verfasst von Niels Henrik Arendt

 

Es muss für die beiden Jünger eine riesige Überraschung gewesen sein, dass sie plötzlich wieder unter demselben Dach, am selben Tisch saßen wie Jesus. Sie sahen es nur flüchtig, und dann war er nicht mehr zu sehen, aber die Wirkung, mit ihm ein Stück ihres Weges gegangen zu sein, ließ nicht nach. Unsere Herzen brannten in uns sagten sie zueinander. Ihre Herzen brannten offenbar weiterhin, denn sie waren genötigt, eiligst zurückzukehren zu den übrigen Jüngern, um etwas von ihrer Überhitzung loszuwerden.

Was war mit ihnen geschehen? Sie hörten nicht nur von der Barmherzigkeit Gottes, nein, sie fühlten sie als eine Wirklichkeit in den Worten des Fremden. Und deshalb wollten sie ihn ja auch nicht einfach so gehen lassen, er sollte bei ihnen bleiben, weil er ihre Herzen zum Glühen brachte. Was will das heißen? Ja, es bedeutet, dass sie bewegt waren; sie fühlten diese Wärme in ihrer Brust, wie wenn man sich irgendwo zwischen Freudentränen und unüberwindlicher Munterkeit befindet. Sie fühlten eine Bewegung des Herzens.

Und was sagt diese Bewegtheit der beiden Jünger nun uns über die Barmherzigkeit Gottes - sie sagt uns, dass Barmherzigkeit nicht bloß eine Charaktereigenschaft Gottes ist, dass sie keine Idee oder Fähigkeit und kein Gefühl bei ihm ist, sondern das sie Tat ist. Etwas ereignet sich; Menschen werden ganz buchstäblich mit einer umgreifenden Fürsorge und einer wärmenden Anerkennung angenommen. Wenn irgendetwas unsere Herzen beschwert hat, dann ist es, wie wenn es losgerissen wird. Wir sind imstande, unseren Kopf von der Erde zu erheben und anderen Menschen in die Augen zu sehen und vielleicht sogar in einem kurzen Augenblick ihn zu sehen, der uns bewegte. Vielleicht auch nicht, aber die Wirkung ist jedenfalls spürbar.

Vor ein paar Jahren besuchten meine Frau und ich eine kleine Gemeinschaft oder ein Kollektiv in einem Dorf auf Madagaskar. Die Leute dort wurden "Hirten" genannt und hielten sich kürzere oder längere Zeit dort auf, um sich psychisch Kranker und geistig Behinderter anzunehmen, für die sonst niemand in diesem Land sorgte. In dieser Gemeinschaft hatte man eine bestimmte Auffassung von Fremdenbesuchen. Es könnte ja Jesus sein - das hatten die beiden Emmausjünger erlebt -, und deshalb wurde jeder fremde Gast empfangen, wie man Jesus selbst empfangen würde. Wir wurden in eine Werkstatt geführt, wo man uns Schuhe und Strümpfe auszog, unsere Füße wusch und trocknete, während im Hintergrund jemand ganz leise sang.

Danach wurden wir in ein Haus geführt, dass sich allmählich mit all den in Weiß gekleideten Hirten füllte. Wir ließen uns auf Kissen nieder, und vor uns setzten sich zwei weißgekleidete Hirten nieder. Und dann wurde das Essen hereingetragen, ein großer Teller für jeden mit Reis und Gemüse, und ein Hirte richtete für uns an, sorgte dafür, dass unsere Trinkgläser immer gefüllt waren, reichte uns die Serviette, wenn wir Finger oder Mund abwischen wollten, hielt Augenkontakt mit uns, um zu sehen, ob uns irgendetwas fehlte. Das alles geschah ganz natürlich und zugleich unfassbar und tief bewegend. Wir wurden von dem, was man für uns tat, in unseren Herzen bewegt.

Das Christentum ist sowohl etwas sehr Einfaches - als auch zugleich ein ganz unbegreifliches Mysterium. Christentum ist Barmherzigkeit. Aber nicht Barmherzigkeit als irgendein Prinzip oder eine Theorie oder Idee, sondern als eine barmherzige Tat. Barmherzigkeit ist etwas ganz einfach Menschliches; haben wir nicht alle die Bewegung erlebt, die daher kommt, dass uns ein anderer Mensch einen Blick der Anerkennung zuwirft, uns berührt, uns Gutes tut?

Aber warum konnte Gott nicht einfach einen Bescheid geben, dass er so ist, nachsichtig? Warum konnte er nicht einfach einen Propheten mitteilen lassen, dass Gott gnädig und barmherzig ist? Weil Barmherzigkeit eine Kraft ist, die nur in der barmherzigen Tat ist. Wir idealisieren oft die Toleranz - aber das ist eben eine Idee oder zur Not eine Eigenschaft, und sie bewegt kein Stäubchen, geschweige denn ein Menschenherz.

Aber die Wärme von Gottes Herz für uns Menschen sollte man daran merken, dass wirklich arme Menschen einem anderen wirklichen Menschen begegnen, der sie vorbehaltlos in Empfang nahm und sie zu seinen Brüdern machte. Gott musste also ganz einfach selbst kommen und barmherzig sein, die Herzen zum brennen bringen in den Menschen, gegenüber dem, was ihnen widerfuhr. Und dann kam er - und das ist ein völlig unbegreifliches Mysterium. Aber es ist wirklich, denn es war ja wie ein Brand in den Herzen derer, denen er begegnet war.

Ostern ist einen große Verkündigung, dass Gott uns umgreift. Kein Mythos, der ein barmherziges Gemüt veranschaulichen soll, kein Traktat über Gottes grundsätzliches Interesse an uns, sondern ein Bericht über eine Barmherzigkeit, die man fühlte. Nur ein paar kurze Hinweise aus den Texten oder Osterwoche: sie beginnen mit der Frau, die Jesu Füße in ihren verzweifelten Tränen wäscht, der sich Jesus aber zuwendet. Vielleicht ist es für sie das erste Mal, dass jemand sie sieht, wie sie wirklich ist. Als Petrus Jesus dreimal verleugnet hat, wendet Jesus sich und wirft einen Blick auf Petrus; es ist offenbar kein vernichtender Blick, sondern ein Blick, der sagt: wir beide sind noch nicht fertig miteinander, und es schneidet ihm ins Herz, und er muss hinausgehen und weinen. Als Jesus am Kreuz hängt, betet er für die, die ihn peinigen und hinrichten. Dort am Kreuz sind seine Arme ganz ausgestreckt, als wollte er die ganze Welt umgreifen. Und das will er; es gibt einfach niemanden, der außerhalb der Barmherzigkeit stehen soll, und das ist wohl der Grund, dass er allein ist. Das kostet ihn das Leben, denn, so denken die Meisten, irgendwelche müssen doch fremd sein und bleiben - vor Gott. Sie meinen, Jesu Arme seien zu weit ausgebreitet, er wolle allzu viele Menschen umgreifen.

Und die Jünger auf dem Wege nach Emmaus, ja, diese Erzählung will ja gerade noch einmal sagen, dass Gott zwar alle umgreifen will, dass die Barmherzigkeit aber eben keine universale Theorie ist, sondern dass Jesus für die beiden trauernden Jünger da ist, zu denen er darum zurückgehen muss - damit auch sie fühlen, dass sie von ihm gesehen und von der Barmherzigkeit umschlossen sind. Sie sahen ihn zwar nicht, aber alles handelt doch davon, dass ER sie sieht, dass sie sich gesehen fühlen in ihrer Trauer, und dass deshalb die Herzen in ihnen zu glühen beginnen.

Jesus ist von den Toten auferstanden; er ist auferstanden, damit es fortgesetzt nicht bloße Worte auf Papier sind, dass Gott barmherzig ist, sondern damit er Menschen nahekommt, z.B. durch die Fürsorge für Fremde.

Ostermontag sollen wir nicht an einem leeren Grab stehen und staunen, nein, an diesem Tag sollen wir empfinden, was Auferstehung bedeutet: dass Jesus an unserer Seite steht, dass wir von ihm gesehen sind. Die Auferstehung beinhaltet, dass Gott uns allezeit auf Barmherzigkeit stoßen lässt als bewegende, verwandelnde Wirklichkeit, dass wir allezeit fühlen sollen, dass unsere Herzen warm werden oder dass wir einen Kloß im Hals haben oder voller Übermut und unerschütterlichen Mutes sind. Gottes Barmherzigkeit nicht nur für uns alle, sondern für einen jeden von uns.

Die beiden Jünger dachten, Gott habe sie aus den Augen verloren. Aber nur bis zu dem Augenblick, als Jesus kam und mit ihnen ging. Denken oder meinen wir, dass Gott uns aus den Augen verloren hat, dann gilt auch für uns, dass dann Jesus, der Auferstandene, zu uns zurückkommt. Denn niemand, kein einziger Mensch soll unumgriffen sein von seinem mitfühlenden Blick. Wir sind nicht miteinander fertig, lässt er uns in dieser Erzählung wissen.

Gottes Barmherzigkeit ist in der Gestalt barmherzigen Handelns da. Gottes Barmherzigkeit ist auch, wenn uns vielleicht einfallen sollte, Barmherzigkeit zu zeigen, wenn wir darauf verfallen sollten, einen Unbekannten zu empfangen, als wäre es Christus selbst, der uns besuchte, oder wenn wir uns beeilen, uns den Mund übergehen zu lassen mit dem, wessen unser Herz voll ist.

Gottes Barmherzigkeit ist etwas, was uns geschieht, uns allen. Sie ist da für einen jeden von uns auf seinem Lebensweg. Im Grunde widerfährt uns im Gottesdienst etwas genauso Überraschendes, wie es den beiden Jüngern widerfuhr, denn auch wir sind in ihm unter demselben Dach, zu Tisch geladen mit Jesus selbst. Auch, ohne dass wir ihn sehen, lebt er doch in uns; das empfinden wir gut. Wenn wir Herz und Augen erheben und den Anderen in die Augen sehen können, weil wir wissen, dass er uns schon gesehen hat. Ja, überraschend ist es - und wir haben wahrlich auch etwas, was wir zu berichten und weiterzugeben haben.

Amen



Bischof Niels Henrik Arendt
Haderslev

E-Mail: nha@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier


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