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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Kantate / Friedenssonntag, 22.05.2011

Predigt zu Matthäus 21:14-17, verfasst von Heinz Behrends

 

Paula, 2 Jahr alt, sitzt mit ihrer Mutter in der kleinen Dorfkirche. Der Pastor hält gerade mit Engagement und Klugheit seine Visitationspredigt. Der Superintendent in der ersten Reihe hört aufmerksam zu. Paula beginnt zu singen. „Der Herbst ist da, der Herbst ist da." Die Leute um sie herum verstehen: „Halleluja." Die ersten drehen sich nach ihr um. Die hinter ihr sitzen, lächeln freundlich herüber. Die Konfirmanden lehnen sich über die Brüstung der Empore und freuen sich. „Der Herbst ist da. Halleluja." Paula fühlt sich in der Kirche zuhause, seit ihren ersten Lebenstagen geht ihre Mutter regelmäßig mit ihr in die Kirche. Der junge sympathische Prediger lässt sich in seiner Predigt nicht unterbrechen, es ist ja Visitation. Paula singt immer lauter. Ihre Mutter wird immer unsicherer. Die Konfirmanden lachen. Sie hält die Spannung nicht aus und geht mit ihr hinaus. „Paula wieder rein", sagt sie, „Paula auch nicht mehr singen." Unsere Gottesdienst-Ordnung verträgt beides gleichzeitig offensichtlich nicht.

Die klare Gedankenführung des Predigers und das unbefangene Singen Paulas.

Das Gotteslob des intellektuellen Predigers und den unmittelbaren Lobgesang des Kindes.

Wir sind Gott sei Dank weiter als zu Jesu Zeiten. Das Volk freut sich an Paula und entrüstet sich nicht, der Prediger unterbricht Paula nicht, der Visitator schmunzelt. Und das singende Kind und die Predigt werden wir auch bald lernen, zum Lobe Gottes zusammenzubringen.

Nun hat natürlich Paulas Gesang auch nicht die rebellische Kraft der Kinder im Tempel Jerusalems. „Hosianna dem Sohne Davids" singen sie. „Rette uns, du neuer König, baue dein Reich für uns, in dem keine Unterdrückung ist."

Die Kinder drücken aus, was viele empfinden und denken.

Das Volk hat die Nase voll. Unschuldige Väter verdächtigt man als Terroristen und holt sie aus den Häusern, sie zu foltern. Zöllner packen unerbittlich zu, ihre Wegesteuern zu erhöhen. Sie finanzieren das Leben des Königs am Palast mit Wachen, Köchen, Mädchen. Bettler überall auf dem Markt. Soldaten auf allen Plätzen und am Tor. Taschenkontrollen, für alles braucht man eine Genehmigung. Es schnürt das ganze Leben zu. Die religiösen Führer sind in ihren Dogmen erstarrt und mit sich selbst beschäftigt. Das Volk hat die Schnauze voll. Es liegt was in der Luft, es muss was passieren. Jemand ganz anders muss kommen. Der für alle sorgt, der Frieden schafft, Gerechtigkeit. Aufmerksamkeit für den kleinen Mann. In der Provinz soll es so einen geben. Man hört, dass er Menschen heilt, dass er Blinde berührt und sie wieder sehen, dass er sich zuwendet, kein festes zuhause sondern, sondern zu den Leuten geht, sich nicht im Palast zurückzieht oder vom Balkon zuwinkt. Ein alter Traum wird wach, als er sich der Stadt nähert. 1000 Jahre alter Traum. Bei David und Salomon damals ist es so gewesen. Treuhänder des Gotteswillens unter den Menschen waren sie. Nach ihnen haben alle Herrscher nur noch für sich gesorgt, für den Genuss ihrer eigenen Macht. Ein uralter Traum eines Königs wird wach, als er sich der Stadt nähert. Der Traum der Mühseligen und Beladenen, der kleinen Leute. Der nicht Opfer von anderen verlangt, sondern sich opfert. Und er scheint mitzumachen, das Spiel der Hoffnung, den Traum zu träumen. Er inszeniert es wie er sich den Esel besorgt. „Gleich werdet ihr eine Eselin dort finden." Sie legen ein Kleid auf den Esel. Ihr König soll nicht schmutzig werden. Die Leute hauen Zweige von den Bäumen und breiten sie vor ihm aus.

Wir haben die Nase voll. „Wir haben es satt", ruft der mexikanische Dichter Javier Sicilia nach 40.000 Toten im Drogenkrieg in Mexiko in 5 Jahren. „Wir haben die Kriminellen satt, die Gewalt, die Straflosigkeit, die Korruption, das Blut, die Entführungen, die Gleichgültigkeit." Es muss jemand kommen, der Frieden bringt. Wir haben die Nase voll von der Borniertheit in Israel und Palästina, dem ewigen Al Quaida-Gequatsche. Taliban und Europa am Hindukusch verteidigen.

Wir haben die Nase voll von den Familienclans in Nordafrika und im Orient, die mit Geheimpolizei herrschen und Milliarden in ihrer Familienkasse verschwinden lassen.

Das Volk hat die Nase voll. Dass die Spekulanten schon wieder obenauf sind. Die größte Deutsche Bank wieder 25 % Rendite anstrebt. Die Zocker zocken in die eigene Tasche und der Bürger bürgt. Auf Weizen und Mais wird schon spekuliert. Preise treiben hoch, wer sich gestern noch selbst ernähren konnte, kann nicht mehr.

Nase voll. Die Taktiererei. Was im März noch total sicher war, gefährdet im April uns alle, die Kernenergie. Die vier Energiekonzerne haben das Land aufgeteilt in Nord und Süd, Ost und West. Lichter würden ohne die AKW'S ausgehen, sagen sie. Nichts ist passiert. Volksverdummung. Taktik statt Tacheles in der Politik. Nase voll.

Wenig Geld für Kindergärten und Schulung perspektivloser Jugendlicher.

Schließlich: Kirche ist mit sich beschäftigt. Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist, hat Bonhoeffer aus dem Gefängnis heraus geschrieben. Nach dem Krieg ist wieder alles fein etabliert. 5 Landeskirchen mit je eigenem Apparat allein in Niedersachsen. Grenzen der Fürstentümer des 19.Jh. Darüber VELKD und EKD und EKU. Wir auf dem Lande verlieren mit weniger Pastoren Gesicht und Präsenz vor Ort. Nase voll.

Wann kommt endlich der andere! Ein Traum ist immer noch nicht gestorben. Dass Menschen aufstehen im Namen Christi und sagen: Dein Reich komme.

Die Kinder spüren das damals. Die Erwachsenen haben schon aufgehört, Hosianna zu rufen. Die Kinder lassen nicht nach. Ihre Wahrnehmung ist unmittelbar. Die erstarrten Fronten, die formalisierten Rituale gesetzesmäßig heruntergespult. Machträume besetzen.

Ich habe vor 14 Tagen unsere Tochter in Israel besucht und den Weg Jesu noch einmal nachempfunden. Von der Stille des fast unbewohnten Nordufers am See Genezareth, Kapernaum, Bethanien, nur von wenigen Bussen unterbrochen, durch die karge Westbank über die Siedlerstraße 90 hinein nach Jerusalem. Ein Moloch, voller Unruhe und Leben, Platzkampf der Religionen, Kampf der Kirchen um die Plätze in der Grabeskirche. Aggressive Siedler besetzen Dächer im arabischen Viertel. Via Dolorossa von 20j Soldaten mit MP bewacht. Taschenkontrollen. Wachleute der Polizei mit Gewehr auf dem Tempelberg. Strenge Kontrolle von Autos mit Kennzeichen aus der Westbank, Verbot der Einfahrt. Jerusalem, ein Ort großer Spannung und Kampf um Platz und Macht. Jesus, der Mann der Liebe muss da untergehen und beseitigt werden.

Jemand, der sich als Prophet und Sohn Gottes, in den Kontext der großen Verheißungen Gottes stellt. Er zitiert der geistlichen Macht gegenüber Psalm 8. Unmündige, Ungelernte loben Gott. Gott selber sorgt dafür, dass sie ihn loben. Kinder, nicht klerikal besetzt, spontan Wahrnehmende. Sie spüren seine verändernde Kraft. Blinde und Lahme werden geheilt. Sie legen ihre Fesseln ab. Der ganz andere König ist gekommen. Ein alter Traumwird wieder wach. Die Beschädigten und die Kinder als Störenfriede begreifen es und loben Gott laut.

Sie trauen Gott zu, dass er durch Christus sein Reich baut, seit Jahrhunderten verheißen und erhofft. „Hosianna". Rette uns.

Jesus entmachtet sie, die Führer der Religion, die Chef-Ausleger der Thora. "Und er ließ sie stehen und ging zur Stadt hinaus über Nacht nach Bethanien", sinnigerweise aufs Dorf zurück.

Und wir? 2000 Jahre später? Ich möchte vieles nicht mehr hinnehmen je älter ich werde. Vor allem nicht, die ganze Last der ungelösten Probleme unseren Kindern aufladen. Ich möchte nicht mehr über Vergangenheit reden, sondern über die Zukunft unserer Kinder, mit ihnen. Ich möchte die Zukunft mit ihren Augen sehen. Zehren von ihrer unmittelbaren Wahrnehmung, der Kraft ihrer sechs Sinne. Sie sehen, was ich übersehe.

Ich gehe am Samstag-Vormittag mit Paula, meiner Enkelin, in Göttingen spazieren. Viele Menschen in der Fußgängerzone, Wochenmarkt, Cafés draußen alle überfüllt. Paula hält plötzlich an. Ein alter Mann, ich schätze so um 75, alte gegerbte Haut, volles weißes Haar, ein Grieche vielleicht, sitzt auf einer Bank und spielt Mundharmonika, immer dieselbe Melodie, zwischendurch setzt er sein kleines Instrument ab und singt „Halleluja. Halleluja", ich gebe Paula 1 Euro-Stück, sie legt ihn in die kleine Plastikdose vor dem alten Mann, er unterbricht seine Musik, spricht sie in einem gebrochenen Deutsch an und lacht, sie freut sich, er spielt weiter. Ich will weitergehen, aber Paula will nicht, bleibt fasziniert stehen. Bald setzt sich ein junger Mann in Jeans und Shirt neben den alten Mann, er hat eine Gitarre dabei, stimmt sich auf die Melodie des „Halleluja" ein und begleitet ihn mit einfachen Griffen auf der Gitarre. In einer kleinen Pause stimmt er ein Jesus-Lied an. Er erzählt von dem Mann, der am Kreuz für mich gestorben und auferstanden ist.

Der alte Mann nimmt die kleine Trommel mit den Schellen neben sich und begleitet ihn. Dann singen sie wieder seine Melodie. „Halleluja". Lobpreiset Gott.

Die Leute gehen alle vorbei. Paula will nicht weitergehen. Sie beginnt zu tanzen. Anziehend ist das Lob der Unmündigen. Und ich tanze mit.



Superintendent Heinz Behrends
Northeim
E-Mail: Heinz.Behrends@evlka.de

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