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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Pfingstsonntag, 12.06.2011

Predigt zu Apostelgeschichte 4:31, verfasst von Bernhard Felmberg

 

Liebe Gemeinde,

I. Freimut

Es gab eine Zeit, als Menschen sich nicht trauten, unter ihrem eigenen Namen ein Buch zu veröffentlichen, mit ihrem eigenen Namen ein Werk zu unterschreiben. Sie veröffentlichten vorsichtshalber unter einem Pseudonym. Dabei verwendeten sie programmatische Namen, denn Nomen ist bekanntlich Omen. Viele Beispiele dafür bietet die Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Denn in den Zeiten der Restauration nach der Märzrevolution war es gefährlich, freimütig, also wahrhaftig, offenherzig und unverhohlen die eigene Meinung zu sagen. Ein beliebter Nachname war Freimut, gerne kombiniert mit den Vornamen Gottlieb oder Wahrlieb. Das Signal war eindeutig: Der Inhalt des Buches ist politisch nicht korrekt. Es kann nur unter einem Pseudonym veröffentlicht werden, weil der Autor um seine Sicherheit vor der Staatsmacht fürchten müsste, wenn sein wirklicher Name publik würde.

FREI:MUT - unter diesen Begriff haben wir die Predigtreihe gestellt, die heute, mit dem Pfingstfest, ihren Abschluss findet. An den acht Sonntagen seit Ostern haben wir durchweg interessante und hochaktuelle Kanzelreden zum Thema Freiheit gehört. Gedanken von Politikerinnen und Politikern, von Menschen also, deren vordringliche Aufgabe es ist, die Freiheit unseres Volkes zu sichern und zu gestalten. Sie waren daher gerne bereit hier in der Matthäuskirche über ihr Verständnis von Freiheit, über die Verantwortung, die zur Freiheit immer dazugehört, sowie über ihre Hoffnung, die sich mit der Freiheit verbindet, zu sprechen. Als Grundlage dienten ihren Überlegungen jeweils einige Verse aus der Bibel. Unterschiedliche Facetten von Freiheit kamen in den Kanzelreden zur Sprache, beispielsweise: das freie Gewissen; der Glaube, der frei macht; das Ablegen des Joches der Knechtschaft in so vielem. Heute steht ein weiterer Aspekt der Freiheit im Mittelpunkt, nämlich der des Freimutes.

Den Freimut gibt es nicht ohne seine Gegenspielerin, die Angst. Und zwar die Angst davor, dass ich Nachteile erleide durch das, was ich freimütig ausspreche oder aussprechen will. Die Angst, dass mir die Freiheit, die ich mir in meinen Worten nehme, von Anderen - Stärkeren - abgesprochen wird. Freimut ist dann nötig, wenn die Umgebung Druck ausübt, sich einer fremden Meinung anzupassen. Um sich dann dennoch die eigene Freiheit zu bewahren und dem Druck von außen standzuhalten, braucht es eine gehörige Portion Mut.

Wir alle kennen dieses Phänomen. In Jugendzeiten ist es die Peer-group, die das soziale Verhalten bestimmt. Wer nicht mitmacht, ist out. Über die Peer-groups von Erwachsenen spricht man nicht. Sie sind auch nicht so sichtbar. Aber es gibt sie, die Gruppen, zu denen wir gerne dazu gehören wollen. Ja, wir kennen es, das soziale Umfeld, dem wir uns anzupassen versuchen. Wägen wir nicht oftmals ganz genau ab, welche Meinung opportun wäre? Schließen wir uns nicht auch gern eher der Mehrheit an und fragen uns vorher, wen wir mit welcher Reaktion für oder gegen uns aufbringen? Und ist es nicht wirklich so: Wir fallen doch in der Regel lieber durch Wohlverhalten als durch eine profilierte eigene Meinung auf. Diese könnte ja schließlich Konfliktpotential beinhalten und vielleicht eine harsche Reaktion oder gar den Verlust unserer Reputation zur Folge haben. Wohlverhalten dagegen sichert uns mit größerer Wahrscheinlichkeit Anerkennung, sind beide doch oftmals fast synonym.

Der Predigttext für den heutigen Sonntag erzählt von öffentlichem Druck und dem Freimut, trotzdem die eigene Position zu vertreten.

II. Die Bedrohung der Apostel

„Wir können es ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben." (Act 4,20) Das sagen die Apostel Petrus und Johannes in einer für sie sehr brenzligen Situation.

Die beiden Jünger sind verhaftet. Vor dem Hohen Rat in Jerusalem müssen Petrus und Johannes Rede und Antwort stehen. Denn sie erzählen den Menschen von Jesus und predigen ihnen die Auferstehung Jesu von den Toten. Zu alledem haben sie zuletzt auch noch ein Wunder vollbracht. Sie haben einen von Geburt an lahmen Mann geheilt, der täglich im Tempelhof gesessen und um Almosen gebettelt hatte. Dass sie diesem Menschen in seiner Not geholfen haben, brachte das Fass zum Überlaufen. Denn die Heilung eines Mannes, der von Geburt an lahm war, passte einigen Menschen nicht in ihr Weltbild. Die Apostel brachten damit die öffentliche Ordnung durcheinander. Der Lahme hatte schließlich seine Rolle in der Gesellschaft: die Rolle des Bettlers, die Rolle eines Mannes, der auf das Mitleid seiner Mitmenschen angewiesen ist. Dass der nun seinen eigentlich schon auf Lebenszeit gebuchten Platz in der Gesellschaft verlassen konnte, bringt Unruhe ins Volk. Denn es zeigt: Veränderung ist möglich. Es muss keineswegs alles so bleiben, wie es ist. Das Reich Gottes bricht an.

Verärgert wollen die Mitglieder des Hohen Rates den Aposteln verbieten, weiter im Namen Jesu zu sprechen. Mit der Verhaftung wollen sie Druck auf die Anhänger Jesu ausüben. Die Jünger sollen eingeschüchtert werden, damit so die Bewegung der Christen eingedämmt wird. Die Mitglieder des Hohen Rates wollen Petrus und Johannes verbieten, weiterhin im Namen Jesu zu reden, zu lehren oder Wunder zu wirken.

Die beiden Apostel aber lassen sich nicht einschüchtern. Es wäre unrecht, dem Gremium mehr zu gehorchen als Gott, das stellen sie als erstes klar. Außerdem bewege Gott sie dazu, ihren Glauben weiterzusagen, denn: „Wir können`s ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben."

Widerwillig lässt der Hohe Rat daraufhin die beiden Apostel frei. Nicht nur, weil es keine Handhabe gegen die beiden Apostel gibt, sondern auch um des Volkes willen. Hinter der Entscheidung steht politisches Kalkül. Denn die Menschen loben Gott für die Wunderheilung, die die Apostel vollbracht haben. Der Druck der Straße bewirkt die Freilassung der Apostel. Es wäre nicht opportun, die Jünger wegzusperren, wenn das Volk ihre Tat bewundert.

III. Die Reaktion der Gemeinde

Auch in der jungen christlichen Gemeinde erregt das Geschehen Aufsehen. Besonders beeindruckt sind die Gläubigen davon, dass Petrus und Johannes nicht eingeknickt sind. Dass sie den Mut hatten, ihre Position zu vertreten und zu ihrem Glauben und zu ihren Taten zu stehen.

Ihr Beispiel macht Schule. So überzeugt, so selbstbewusst, ja so frei von Angst wollen sie auch vor anderen Menschen zu ihrer Überzeugung stehen können. Aber sie wissen: Das schaffen sie nicht allein. Die Gefahr, die droht, ist zu groß. Es ist ja kein Kinderspiel, wenn die Staatsmacht mit Verhaftung droht.

Nehmen Sie das Beispiel des chinesischen Künstlers Ai Weiwei. Hier hat nicht einmal die Aufmerksamkeit der gesamten Weltöffentlichkeit verhindern können, dass der zornige Arm der Mächtigen zuschlug.

Die Mitglieder der jungen christlichen Gemeinde wünschen sich solchen Freimut. Aus sich heraus aber trauen sie sich das nicht zu. Deswegen wenden sie sich an den, von dem sie erhoffen, dass er ihnen die nötige Stärke verleiht. Sie beten zu Gott. Sie setzen ihr Vertrauen in den, der schon ihren Vorfahren zur Seite gestanden ist. Der Gott, der der Herr der Schöpfung ist und die Gewaltigen vom Thron stürzt. Der Gott, der die Apostel, und damit auch Johannes und Petrus, an Pfingsten mit der Kraft des Heiligen Geistes begabt hat. Lukas hat zwei Kapitel vorher von dem großen Pfingstfest berichtet. Von diesem Gott nun erwarten auch sie sich Stärke und Halt. Daher beten sie: „Gib deinen Knechten, mit allem Freimut zu reden dein Wort." (Act 4,29)

IV. Die Kraft des Gebetes

Dieses Gebet ist erstaunlich. Wäre es nicht naheliegender gewesen, Gott darum zu bitten, dass er die Gegner zum Schweigen bringt? Dass er die Macht der Feinde bannt? Doch mit dem Zeigen auf die Anderen halten sich die Gemeindeglieder nicht auf. Sie wissen, dass es erst einmal in ihnen eine Veränderung geben muss. Sie wollen ihre eigene Angst überwinden. Sie wollen voller Selbstbewusstsein ihre eigene Position vertreten. So wollen sie sich dem Druck von außen entgegenstellen. Die Gemeindeglieder bitten Gott für sich um ein Pfingstfest. Wie Johannes, Petrus und die anderen Apostel wollen auch sie von der Kraft des Heiligen Geistes gestärkt werden für ihren Glauben.

Ihr Gebet klingt an in einem Pfingstlied von Philipp Spitta: „Oh komm der Geist der Wahrheit und kehre bei uns ein" (EG 136). Dort heißt es in der dritten Strophe:

Unglaub und Torheit brüsten sich frecher jetzt als je;

darum musst du uns rüsten mit Waffen aus der Höh.

Du musst uns Kraft verleihen, Geduld und Glaubenstreu

und musst uns ganz befreien von aller Menschenscheu.

Spitta nimmt genau die Erfahrung aus der Erzählung der Apostelgeschichte auf. Die Menschenscheu hemmt davor, die eigene Position offenherzig zu vertreten. Sie gründet in der Angst anzuecken. Frecher Unglaub und Torheit, wie Spitta dichtet, stellen uns dabei vielleicht gar nicht so oft in Frage. Es sind oft Zweifel und Anfragen, auch verborgene Sehnsüchte nach dem Glauben, denen wir offenherzig und freimütig begegnen sollten. Dafür brauchen wir Gottes Kraft, Geduld und Glaubenstreu, die er uns durch seinen Heiligen Geist schenkt. Das sind die Waffen aus der Höh. Die ersten Christen baten darum und auch wir bitten darum, wenn wir später Spittas Lied singen.

Doch ist das Gebet ein geeignetes Mittel, um den Kampf für die eigene Überzeugung aufzunehmen? Gäbe es da nicht bessere Methoden? Subversives Verteilen von Flugschriften etwa. Agitation auf den öffentlichen Plätzen, Überzeugung der Massen. Im Notfall auch der Griff zu den Waffen. Es gibt eine ganze Palette von revolutionären Handlungen. Denen gegenüber erscheint das Gebet als ziemlich dürftig, klein und schmächtig. Und obendrein utopisch.

Und doch kann die besonnene, intensive und demütige Hinwendung zu Gott den Lauf der Geschichte verändern. Gerade wir hier in Deutschland durften das erleben. Da hat sich Woche für Woche eine kleine Schar von Menschen in einer Kirche getroffen, um Friedensgebete zu sprechen. Sie brachten ihre Probleme, ihre Angst und vor allem ihre Sehnsucht nach Freiheit vor Gott. Von außen betrachtet, mag das vielen Menschen als nutzlos vorgekommen sein. Aber im Lauf der Zeit wurde die kleine Schar immer größer, die Kirche platzte aus allen Nähten. Das Gebet drängte hinaus auf die Straße, wurde sichtbar für alle, wuchs noch mehr an. Und schließlich ließen die Menschen, die Gott um seine Hilfe gebeten hatte, die Erde erbeben und stürzten ein Regime, ja sogar ein ganzes System menschenverachtender Diktaturen. Der Freimut, mit dem die Menschen ihr Herzensanliegen vertraten, brachte ihnen die Freiheit.

V. Pfingsten

„Und als sie gebetet hatten, erbebte die Stätte, wo sie versammelt waren; und sie wurden alle vom Heiligen Geist erfüllt und redeten das Wort Gottes mit Freimut." (Act 4,31) So heißt es zum Abschluss der Erzählung. Gott hat ihr Gebet erhört. Die Gemeinde erlebt ihr eigenes Pfingstfest. Die Gläubigen werden erfüllt mit dem Heiligen Geist. Gott verleiht ihnen die Stärke, um die sie ihn gebeten haben.

Und nun drängt das Wort tatsächlich aus ihnen heraus. Was die Apostel Johannes und Petrus vor dem Hohen Rat bezeugten, gilt nun auch für die anderen Mitglieder der jungen christlichen Gemeinde: „Wir können es ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben." Ihre Angst lähmt sie nicht mehr, ihr Mut ist stärker als die Angst. Was sie erst zaudern ließ, wird zum Markenkern des Christentums: Die öffentliche Verkündigung des Wortes Gottes. So wächst die Gemeinde Jesu Christi weiter an. Das Wort Gottes breitet sich aus. Gott sei Dank, denn durch den Freimut der ersten Christen wurde der Grundstein dafür gelegt, dass auch unser Herz, fast 2000 Jahre später, noch von der frohen Botschaft, dem Evangelium Jesu Christi, ergriffen werden kann.

Dabei wurde die Gefahr für die ersten Christen nicht geringer. Sie machten immer wieder die Erfahrung, dass ihr Glaube aneckte, dass sie Fremde waren in der paganen Mehrheitsgesellschaft mit ihrem Götterolymp. Nicht immer kamen die, die aufgrund ihres christlichen Glaubens verfolgt wurden, ungeschoren davon, so wie zunächst Petrus und Johannes in unserer Perikope. Die ersten Christen und viele Christen in späteren Zeiten bis auf den heutigen Tag machten und machen die Erfahrung, dass das Eintreten für den Glauben mit Haft oder gar mit dem Tod bestraft wird. So wurden und werden sie zu Märtyrern im ursprünglichen Sinn des Wortes: Als Menschen, die von anderen Menschen wegen ihres Glaubens umgebracht wurden. Das ist eine ganz andere Art von Einsatz des eigenen Lebens für den Glauben als der, andere Menschen um des Glaubens willen umzubringen, wie es sogenannte Märtyrer schrecklicherweise heute immer wieder tun.

VI. Reformation und Freimut

Der Markenkern des Christentums, die freie Verkündigung des Wortes Gottes, strahlte in der Reformationszeit wieder auf. Diesmal allerdings nicht in einer polytheistischen Umwelt, sondern in die eigene Kirche hinein. Auslöser dafür war Martin Luther. Die Erzählung von Luthers Schlusssatz auf dem Reichstag in Worms malt den Freimut des Reformators bildlich vor Augen. Luther schließt die Verteidigung seiner Schriften vor den Reichsständen mit den Worten ab: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen." Auch wenn diese Sätze wahrscheinlich so nie ganz wörtlich gesagt wurden, bringen sie doch die Haltung Luthers auf den Punkt: Er kann nicht schweigen von dem, was er als richtig erkannt hat, auch wenn seine Vorgesetzten das genau anders herum sehen. Seinen Freimut wollen sie ihm nehmen, indem sie ihn klein machen: „Du kleines Mönchlein aus Wittenberg meinst, du hast Recht gegen die große Wolke der Zeugen und der Tradition? Ausgerechnet du sollst die Weisheit mit Löffeln gefressen haben, auch wenn Jahrhunderte lang Anderes richtig war? Wie kommst du nur darauf, dass du gegen Tausende Andere Recht hast?"

Ja, richtig, wie kommt Luther darauf? - Durch die Lektüre der Heiligen Schrift. Er kann sie lesen, da er das Latein der Vulgata versteht. Die wenigsten Menschen aber können das. Deswegen macht Luther sich 1521 auf der Wartburg daran, das Neue Testament zu übersetzen. Später wird er bekanntlich auch das Alte Testament in deutscher Sprache veröffentlichen.

Damit befreit Martin Luther die Schrift aus der Gefangenschaft, in die die Kirche sie genommen hat. Denn die Kirche hat sich mit ihrem Lehramt über die Schrift selbst gestellt. Sie hat ihr sogar abgesprochen, von sich heraus verständlich zu sein. Die Schrift ist aber so klar, dass sie sich aus sich selbst heraus auslegt. Sie braucht kein kirchliches Lehramt, das die Bibel mit einem Schloss versperrt und den Schlüssel behält. Martin Luther hat dieses Schloss entfernt und das Buch geöffnet. Er hat die Bibel in die Volkssprache übersetzt und sie damit den Menschen zugänglich gemacht.

Wie die Apostel nach dem Pfingstereignis so sprachen, dass Menschen aus aller Herren Länder sie verstehen konnten, so hören nun die Menschen das Wort Gottes in ihrer eigenen Sprache. In den Predigten legen die Pfarrer das Wort Gottes für sie in der Sprache aus, die sie verstehen. Und so kann das Wort Gottes sie in ihrem Herzen treffen. Und erst dann, wenn ihnen der Sinn nicht mehr verschlossen ist, können sie selbst genauso überzeugt und freimütig dafür eintreten, denn sie haben in ihrem Verstand und in ihrem Herzen verstanden, was das Wort Gottes für sie bedeutet.

Ja mehr noch: Durch das verständliche Wort fängt die Gemeinde an, Fragen zu stellen, sie sucht immer mehr den Sinn der Worte zu verstehen und hinterfragt auch ihre Pfarrer. Die Gemeinde, der das Wort Gottes selbst zugänglich ist, bringt nun ihre eigene theologische Kompetenz ein. Wie anders wären Kanzelreden wie die der vergangenen Sonntage möglich? Sie sind möglich und richtig, weil in der evangelischen Kirche alle Christen mündig sind, das Wort Gottes zu verkündigen. Das ist nicht in allen Kirchen selbstverständlich.

VII. Freimut heute

Heute ist es uns selbstverständlich, dass wir die Bibel in unserer Muttersprache lesen können. Viele verschiedene Übersetzungen wollen uns den Sinn auf immer neue Weise erschließen, laden uns ein, die Übersetzungsvorschläge zu vergleichen und das Wort Gottes immer wieder neu zu verstehen.

Wir haben die Grundlage dafür, dass wir freimütig von unserem Glauben erzählen. In Dresden in der vergangenen Woche haben unzählige Menschen das getan. Sie haben in Gottesdiensten, während Bibelarbeiten in Kirchen und unterwegs, in Workshops zu gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen sowie beim spontanen Singen in der Straßenbahn von ihrem Glauben erzählt. Die Freude der Menschen an ihrem Glauben war ermunternd und ansteckend. Doch wie geht es weiter, wenn jetzt alle wieder zurück in ihrem Alltag sind? Verstummt dann der frohe Hinweis auf das Evangelium? Schließich ist es in der Gemeinschaft leichter, den Glauben zu leben, als allein. Wie steht es nun mit unserem Freimut in Sachen Evangelium Jesu Christi?

Halte ich mich in meinem Alltag nicht lieber zurück? Traue ich mir es zu, Leute mit meinem Glauben in Kontakt zu bringen, die damit vielleicht gar nichts anfangen können? Gerade in einer Stadt wie Berlin, in der die Minderheit christlich ist, ist es nicht selbstverständlich, über den eigenen Glauben zu sprechen. Da grenzt es schon fast an ein „Sich outen", wenn sich jemand zu seinem christlichen Glauben bekennt.

Doch die Frage, ob wir unseren Glauben freimütig vertreten, dürfte sich gar nicht stellen. Die Politikerinnen und Politiker haben in den vergangenen Kanzelreden immer wieder die freiheitlichen Grundrechte betont. Unsere Gesellschaft ist so frei wie keine vor ihr. Jeder kann also sagen, was er denkt, und bekennen, was er glaubt.

Und dennoch ist da eine Tendenz, die einen lieber über den eigenen Glauben schweigen lässt als ihn zum Gesprächsthema werden zu lassen. Das hat seinen Grund: die allgemeine Stimmung im Land scheint doch eher Religion aus dem Leben der Gesellschaft verbannen zu wollen. So kommt es mir jedenfalls immer öfter vor. Da werden wir als Christen in die Rolle der Minderheit im Land gedrängt. Und es passiert uns zu häufig, dass wir uns selbst schon als Nischenkirche sehen, dass wir den Marktplatz, den Paulus noch erobert hat, verlassen durch eine innere Immigration in die geistliche Katakombe, weil wir den positionsstarken Dialog, den engagierten Streit und das fröhliche Bekenntnis zu Jesus Christus der Gesellschaft nicht zumuten wollen.

Wir haben zwar gesellschaftspolitisch noch eine Stimme, die gehört wird. Aber der Grund unseres gesellschaftlichen Engagements, das Evangelium, verschwindet zunehmend aus der öffentlichen Wahrnehmung.

Daher wünsche ich uns, dass wir die Menschenscheu ablegen, wenn es darum geht, unseren Glauben zu leben. Gott verleiht uns seinen Heiligen Geist, damit wir stark und freimütig von unserem Glauben erzählen. Nicht, weil uns das ein gutes Gefühl geben würde. Sondern weil wir überzeugt davon sind, dass das Evangelium Jesu Christi die frohe und befreiende Botschaft für alle Menschen ist.

Und vielleicht werden wir ja auch einmal Zeuge dessen, was die Grundlage unseres heutigen Nachdenkens war: „Und als sie gebetet hatten, erbebte die Stätte, wo sie versammelt waren; und sie wurden alle vom Heiligen Geist erfüllt und redeten das Wort Gottes mit Freimut."

Amen.



Prälat Dr. Bernhard Felmberg
St. Matthäus-Kirche Berlin
E-Mail: maike.goldhahn@ekd-berlin.de

Bemerkung:
am Pfingstsonntag, 12. Juni 2011, um 18:00 Uhr
in der St. Matthäus-Kirche im Kulturforum Berlin
im Rahmen der Predigtreihe „FREI:MUT – Kanzelreden zu Reformation und Freiheit“
(Der Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union)


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