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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Sonntag nach Trinitatis, 26.06.2011

Predigt zu Johannes 5:39-47, verfasst von Eberhard Busch

In diesem Bibelabschnitt redet Jesus mit einer Gruppe seiner jüdischen Zeitgenossen. Wenn wir näher hinhören, so geht uns auf, dass er auch mit uns heute redet. Er redet über unseren rechten Umgang mit der Bibel. Und wir müssen dabei schon genau hinhören, um zu verstehen, wie Jesus uns in diesem Text Schritt um Schritt tiefer hineinführt in diese wichtige Angelegenheit. Er sagt seinen Zeitgenossen zunächst: „Sucht in der Schrift ..." oder genauer übersetzt: „Ihr sucht in der Schrift." Mit der Schrift ist hier das Alte Testament gemeint, und Jesus gibt hier zu unserem Umgang mit dieser Schrift eine bestimmte Leseanleitung. Hoffentlich wird sie auch von allen Gliedern der christlichen Gemeinde befolgt. Das war eine der wichtigsten Entdeckungen in der Reformationszeit, dass die Bibel mit ihren beiden Teilen: Altes und Neues Testament, in die Hände aller Christenmenschen gehört. Im letzten Jahrhundert hat auch die römisch-katholische Kirche im 2. Vatikanischen Konzil erklärt: „Der Zugang zur Heiligen Schrift muss für die an Christus Glaubenden weit offen stehen." Und die Leseanleitung, die Jesus hier zu ihr gibt, ist dabei sehr nötig. Denn was die Bibel sagt, das kann ein jeder zwar nur mit seinen Augen und Ohren, mit seinem Verstand und zu seiner Zeit vernehmen. Doch kann man sie auch falsch lesen, so dass man sie zwar liest und durchforscht, aber dabei gründlich missversteht und missbraucht. Gerade auch das erste Testament, das sogenannte Alte Testament, ist tatsächlich ein nicht nur viel gebrauchtes, sondern auch ein oft missbrauchtes Buch. Darauf weist uns Jesus heute hin.

Seine Absicht dabei ist also nicht die, dass wir diese Schrift beiseitelegen, um sie nicht länger zu missbrauchen. Er will nicht, dass wir uns statt dessen an einem beliebigen anderen Maßstab orientieren. Seine Absicht ist die, dass wir die Schrift recht lesen und recht mit ihr umgehen. Es geht nicht ohne sie. Ohne sie können wir nicht Christen sein. Wir haben auf sie zu hören - gerade auch auf das Alte Testament und auf das Neue Testament nicht ohne dieses, das Alte Testament. Ein berühmtes Bild von Marc Chagall zeigt einen Juden, der vor der Heiligen Schrift sitzt, in eisernem Verhalten, und liest und hört. Das ist vorbildlich für uns. Der Basler Theologe Karl Barth schrieb: „Das jüdische Achtgeben auf Satz, Wort und Buchstaben muss in der Kirche weitergehen, darf sich auf keinen Fall in freie Spekulation verwandeln." Und schon im 18. Jahrhundert bemerkte der schwäbische Theologe Johann Albrecht Bengel zu unserem Bibeltext: Hier werde durchaus „der Juden Forschen und Hoffen gutgeheißen." Wir dürfen uns gewiss das Bild jenes Juden vor Augen halten, so wie es in Psalm 1 geschrieben ist: „der Lust hat zum Gesetz des Herrn und darüber sinnt Tag und Nacht."

Wir mögen das alles verstehen als eine Einladung zum Hören auf die Schrift. Wir haben in aller Regel wohl nur einen kleinen Teil in ihr gelesen und einen noch kleineren Teil verstanden, und vielleicht ist er sehr klein. Wenn wir mit dem Lesen anfangen, so sollten wir daher nicht bei irgendeiner Aussage, die uns vielleicht gefällt, stehen bleiben. Wir haben weiterzulesen, auch wenn wir dann auf Abschnitte stoßen, die uns kaum einleuchten oder gar als anstößig vorkommen. Aber es werden uns dann bald auch neue Lichter aufgehen, in deren Schein wir auch das schon Verstandene in einer noch einmal neuen Sicht ansehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass wir möglichst viel auf einmal lesen, sondern dass wir immer wieder bei dem jetzt Gelesenen stehen bleiben und uns einfangen lassen, darüber nachzudenken. Dietrich Bonhoeffer bemerkte gelegentlich dazu: „Ich werde das Wort (der Bibel) missbrauchen, wenn ich nicht anhalte, es betend zu meditieren. Oft werden wir tagelang an einem Wort hängen bleiben."

*

Doch nun redet unser Bibelwort von einer dunklen Gefahr, die uns mittendrin in diesem rechten Tun überfallen kann. Es ist die Gefahr, die denen droht, die in der Bibel lesen und vielleicht sogar fleißig und eifrig in ihr lesen, ja, in ihr forschen, bis sie vielleicht ganze Stücke auswendig gelernt haben. Nichts ist dagegen zu sagen, im Gegenteil! Aber dabei droht die Gefahr, dass sie gleichsam vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen. Die Bibel redet im Alten wie im Neuen Testament vielfach von dieser Gefahr. Sie besteht darin, dass Menschen zwar Augen haben und doch nicht mit ihnen sehen und Ohren und doch nicht mit ihnen hören. Zum Beispiel nach Matthäus 13,13 klagt Jesus über das ihm begegnende Volk, dessen Ohren schwerhörig geworden sind und dessen Augen wie blind. Und eben, die Menschen dieser Art lesen, ja, sie durchforschen die biblischen Schriften, und sie reden und schreiben Bücher über das, was ihnen dabei in den Sinn gekommen ist. Aber praktisch ist ihnen das darin Geschriebene wie ein zugeschlossenes, versiegeltes Buch. Sie reden und schreiben davon zwar in aller Munterkeit, aber reden und schreiben davon wie der Blinde von der Farbe. Der Apostel Paulus schreibt einmal von solchen, die Mose lesen, aber es hänge dabei gleichsam „eine Decke über ihren Herzen" (2. Kor. 3,15f.)

Die Gefahr droht auch heute noch. Sie droht vielleicht das eine Mal von der frommen Seite her. Gewiss ist es schon recht, wenn man fromm ist. Aber gibt es nicht eine Art von Frömmigkeit, in der die Leute immer nur das Eine aus der Bibel hören will, dass die Menschen „verloren" sind und dass sie nur „gerettet" sind, wenn sie sich bekehren? Wenn man nur dieses Eine hören will, versteht man am Ende auch nur dieses eine Anliegen nicht recht. Oder jene Gefahr droht von der Seite der Wünsche des Volkes her. Verführt das die Prediger nicht leicht dazu, dass sie in ihren Predigten sich nur zu gern an das anpassen, was die Leute gern hören möchten? Dabei wird dann in der Predigt nicht die Heilige Schrift ausgelegt, sondern, passend zu solchen Wünschen, zurechtgelegt und etwas in sie hineingelegt. Oder die Gefahr droht in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Bibel. Sie ist nütze, um jene beiden vorherigen Gefahren abzuwehren. Aber gibt es auch hier nicht die Gefahr, dass wir wohl eine Menge erfahren über den Alten Orient, statt dass es dabei so zugeht wie in der im Neuen Testament erzählten Geschichte? In ihr sahen die Jünger Jesu neben ihm Mose und Elia und in ihr heißt es dann: „Als sie aber ihre Augen erhoben, sahen sie niemand als Jesus allein." (Matth. 17,8)

Solange dergleichen nicht geschieht, so lange liest man die Heilige Schrift im Grunde vergebens. Dann liest man, dann hört man, dann forscht man in ihr, aber man begreift so oder so nicht, dass sie Zeugnis von Jesus Christus ist. Wir glauben ja nicht an die Bibel. Wir glauben nicht ohne sie. Aber wir gehen recht mit ihr um, wenn sie uns dabei Wegweiser ist zu dem, an den wir glauben. Die Bibel ist kein von Menschen künstlich hochgehobener Halbgott, den wir uns eventuell leicht wieder entgöttern können. Die Bibel ist Zeugnis von Gott, von dem Gott, der in Jesus Christus sich unter uns Menschen hat hören und sehen lassen. Gerade der Genfer Reformator Johannes Calvin, der sich so sehr Mühe gegeben hat, die Bibel in all ihren vielen Aussagen genau anzuhören, sagt: „Wenn (die ganze Heilige Schrift) nicht auf Christus als ihr einzigen Ziel bezogen wird, dann wird sie völlig verdreht und verkehrt." (zu 2. Kor. 3,16) Und weiter: „Wir müssen die Schrift mit der Absicht lesen, Christus in ihr zu finden. Wer von diesem Ziel abweicht, der mag zeit seines Lebens sich bemühen und studieren, er wird nie zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen." (zu Joh. 5,39)

*

Aber damit ist noch nicht alles gesagt. Achten wir jetzt auf die Worte Jesu: „Wenn ihr Mose glaubtet, würdet ihr mir glauben"! Das heißt also: Mose und Jesus, Jesus und Mose - sie gehören beide zusammen: Mose der Inbegriff des Alten Testaments und Christus der Bahnbrecher für das Neue Testament - Mose, der dem Volk das Gesetz Gottes übermittelt, und Christus der Vermittler der frohen Botschaft von der Aussöhnung Gottes mit uns Sündern. Beide darf man nicht voneinander trennen und in Gegensatz zueinander stellen. Beide sagen nicht dasselbe. Aber ihr Unterschied ist ein Unterschied in ihrer Zusammengehörigkeit. Jesus redet in unserem Text gegen einen Irrtum unter seinen damaligen jüdischen Hörern. Sie wollen sich nur an Mose halten und stellen sich darum gegen Jesus. Ihnen sagt er: Das geht so nicht. Wenn ihr es wirklich mit Mose halten würdet, dann würdet ihr es auch mit mir halten. „Würdet ihr Mose glauben, so würdet ihr mir glauben." Es gibt heute Juden, die Mose ohne Christus haben wollen. Aber verurteilen wir sie um Himmels willen nicht. Das liegt wohl nicht zuletzt daran, dass sie so zahllos viele Christen kennen gelernt haben, die nun umgekehrt Christus ohne Mose haben wollten. Sie haben gleichsam Christus von Mose getrennt.

Das wollen nur das Neue Testament lesen und hören, ohne das Alte Testament. Es gibt schlichte Christen, aber es gab auch gelehrte Theologen, die so dachten und noch so denken. In der nationalsozialistischen Zeit gab es in Deutschland eine Reihe führender Christen, die das Alte Testament als ein Buch der Juden verschmähten und die es darum aus der Christenbibel ausscheiden wollten. Wie hätten Juden bei solchem Verhalten der Christen lernen können, dass Christus nicht im Gegensatz zu oder ohne Mose zu haben ist! Und auch wenn Juden weiterhin Mose ohne Jesus haben wollen, so müssen Christen heute damit ernst machen, dass diese Beiden zusammengehören und nicht auseinander zu reißen sind. Und das heißt: ohne das Alte Testament und auch ohne das Volk des Alten Testamentes, ohne die Juden, können wir keine Christen sein.

Es gibt jedenfalls eines, in dem beide einig sind und einig sein müssen: nämlich in der Anerkennung des ersten der 10 mosaischen Gebote. Das lautet: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus der ägyptischen Sklaverei herausgeführt hat. Du sollst und du wirst nicht andere Götter haben neben mir." Dieses Gebot ist im Neuen Testament nicht aufgehoben, sondern anerkannt und neu ausgelegt. Dieses Gebot sagt auch uns Christen: Nein zu allen Göttern und Vergötterungen, die sich die Menschen machen! Denn nur der ist Gott, der den Menschen „macht" und der sich seiner annimmt. Schon in den ersten Stunden des Dritten Reiches und in der riesigen Gefahr der evangelischen Kirchen, sich dem anzupassen, hat der evangelische Theologe Karl Barth erklärt: „In der Sache des ersten Gebots ist heute Streit in der Kirche und haben wir heute zu ‚bekennen'". Denn „der Gott des ersten Gebots ist der Gott des Menschen..., weil und indem er der mächtige und gnädige Gott Israels ist". Das ist eine Erkenntnis, die in der Christenheit nicht mehr vergessen werden darf. Und diese Erkenntnis wird uns Christen mehr und mehr mit dem Volk des ersten, des sogenannten Alten Testaments verbinden. Und solche Verbindung wird ein Zeugnis dafür sein, dass Mose und Christus zusammengehören.



Eberhard Busch
Göttingen
E-Mail: eberhard.busch@theologie.uni-goettingen.de

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