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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

1. Sonntag nach Trinitatis, 26.06.2011

Predigt zu Johannes 5:39-47, verfasst von Manfred Gerke

Ben Becker und die Bibel

Liebe Gemeinde, vielleicht kennen Sie Ben Becker, Schauspieler und Sänger. 2007 war er fast am Ende. Nach dem Konsum harter Drogen schwebte er in Lebensgefahr. Doch plötzlich war er wieder da mit einem ganz besonderen Projekt - und erfüllte sich damit einen langjährigen Wunsch: Er hat das Buch der Bücher, die Bibel, in eine atemberaubende Performance oder Aufführung umgesetzt.

Gemeinsam mit seiner Zero Tolerance Band, einem stimmgewaltigen Gospelchor und dem Deutschen Filmorchester Babelsberg feierte er im Oktober 2007 vor 3000 Menschen Bühnenpremiere im Berliner Tempodrom. Die enorme Nachfrage regte zu vier weiteren ausverkauften Terminen in Berlin an. 2008 der Auftritt beim Deutschen Katholikentag vor 18.000 Zuschauern und dann zwei erfolgreiche Tourneen in den großen Hallen Deutschlands und Österreichs.

„So könnte Gott gesprochen haben", schrieb anschließen idea, der evangelikale Pressedienst. Und die BILD-Zeitung: „Ein Abend zum Niederknien." „Jesus mag Gottes Sohn gewesen sein", hieß es bei Vanity Fair, „aber Ben Becker ist seine Stimme."

„Die Bibel ist eine Sammlung von Texten voll poetischer Kraft. So intensiv wie hier durch Ben Becker und die Zero Tolerance Band sind diese Werke wohl noch nicht präsentiert worden." Mit dieser Begründung wurde die CD-Produktion „Die Bibel - eine gesprochene Symphonie" „zum grandiosesten Hörbuch 2008 gekürt."

Eine tolle Sache - und wir werden nachher noch ein Stück hören. Und doch muss ich erst einmal auf die Bremse treten. Bei aller Begeisterung: Ich kann die Bibel auch lesen und studieren und dabei das Wichtigste übersehen, gar nicht zur Kenntnis nehmen. Genau darum geht es in unserem heutigen Predigttext. Ich lese Johannes 5,39-47:

Ihr sucht in der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie ist's, die von mir zeugt; aber ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet. Ich nehme nicht Ehre von Menschen; aber ich kenne euch, dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt. Ich bin gekommen in meines Vaters Namen, und ihr nehmt mich nicht an. Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen. Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, und die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, sucht ihr nicht? Ihr sollt nicht meinen, dass ich euch vor dem Vater verklagen werde; es ist einer, der euch verklagt: Mose, auf den ihr hofft. Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben. Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben?

Es hätte ein schöner Tag werden können

Es hätte ein schöner Tag werden können. Jesus in Jerusalem! Diese Nachricht hatte sich herumgesprochen. Doch sein erster Weg führt ihn nicht in den Tempel, sondern zum Teich Betesda, nicht zur Gottesdienst feiernden Gemeinde, sondern zu Menschen, die am Ende sind und kaum noch Hoffnung haben.

„Dort sind fünf Hallen, in denen lagen Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte." Und sie verband eine große Hoffnung: „Sie warteten darauf, dass sich das Wasser bewegte. Denn der Engel des Herrn fuhr von Zeit zu Zeit herab in den Teich und bewegte das Wasser. Wer nun zuerst hinein stieg..., der wurde gesund..."

Und dann steht Jesus vor jenem Menschen, der 38 Jahre krank da lang, vergeblich hoffte, umsonst wartete, niemand hatte, der ihm half, um ins Wasser zu kommen. „Und Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh. Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging."

Was für eine Begegnung. Wir können uns die Freude dieses Menschen vorstellen. Er kann es gar nicht glauben, läuft mit seiner Decke unter dem Arm noch ein wenig ziellos durch die Straßen, kann sein Glück kaum fassen - bis ihn einige kritische Rückfragen auf den Boden der harten Wirklichkeit zurück holen: „Es ist heute Sabbat. Du darfst dein Bett nicht tragen!"

Immer noch begeistert erzählt er von seiner wunderbaren Heilung, von dem, der ihm gesagt hat: „Nimm dein Bett und geh!" Anstatt sich mit zu freuen, poltern sie: „Wer ist dieser Mensch?" Doch er zuckt mit der Schulter, weiß es nicht, ist ein wenig irritiert, begegnet Jesus schließlich im Tempel - und dann erzählt er es seinen kritischen Fragern.

Sofort stellen sie Jesus zur Rede. Das Gespräch spitzt sich zu. Es geht schon lange nicht mehr um die Heilung, die Heilung ausgerechnet am Sabbat. Es geht erst recht nicht darum, wie schön es ist, dass ein Mensch gesund wurde, sich freut und jubelt. Es geht um die Frage der Vollmacht, mehr noch, um die Frage, wer Jesus wirklich ist. „Mein Vater wirkt bis auf diesen Tag, und ich wirke auch." „Danach trachteten die Juden noch viel mehr danach, ihn zu töten."

Wie gesagt, es hätte ein schöner Tag werden können. Doch mit einem Mal spüren wir Missverstehen, Ärger und Wut. Und es ist schon bitter zu sehen, wie Menschen, die es ernst meinen, nichts begreifen, gar nichts.

„Ihr sucht in der Schrift", sagt Jesus. Und in seinen Worten schwingt Achtung mit, Anerkennung. In der Lesung von Psalm 1 haben wir von denen gehört, die „über seinem Gesetz Tag und Nacht" sinnen. Sie forschen in den Schriften, fragen nach Gott und seinem Willen und lesen am Entscheidenden vorbei.

Ich erinnere mich an meine mündliche Deutschprüfung im Abitur. Ich weiß es noch ganz genau. Ich bekam einen Text von Georg Büchner, hatte Zeit genug, mich vorzubereiten. Doch ich las und las, die Zeilen verschwammen vor meinen Augen. Ich begriff nichts, konnte nichts damit anfangen, fand keinen Schlüssel, um zu verstehen.

Gut, dass ich eine Lehrerin hatte, die mir wohl gesonnen war und mir mit geschickten Fragen auf die Sprünge half. Und genau das möchte Jesus auch: Jenen frommen Menschen damals und uns heute Hilfen geben, die Schriften recht zu verstehen, so zu lesen, dass wir begreifen und das Leben darin finden.

Erste Lesehilfe: Ich lasse die Bibel zu Wort kommen.

Die erste wichtige Anweisung ist eigentlich selbstverständlich: Ich lasse die Bibel zu Wort kommen. Da heißt es in einem Dankesbrief aus Kasachstan: „Ich sitze in meiner Stube und lese die Bibel. Es ist sehr interessant, und immer wieder muss ich lesen, bin niemals satt. Bin sehr stolz auf euer Buch, das ist das größte und beste Geschenk auf der Welt und bin euch sehr dankbar, lese fast alle Tage." In das Lebensmittelpaket aus Deutsch­land ist auch eine Bibel eingepackt worden. Die Lek­türe zeigt Wirkung. Der Empfänger kann nicht ge­nug kriegen. Er ist richtig stolz auf seine Bibel. Sie ist für ihn das nie ausgelesene Buch.

Es geht also nicht nach der Melodie: „Gottlob, wie bin ich reformiert! / sprach mancher Protestante, / stolz mit der Bibel dekoriert, / obwohl er sie nicht kannte." Nein, hier ist einer begeistert von der Bibel, muss immer wieder darin lesen und kann nicht satt werden.

Dabei ist die Einstellung wichtig: Lese ich nur, um mich selbst und meine Meinung nur bestätigt zu finden. Oder bin ich offen und lasse mich in Frage stellen. Der frühere Bundespräsident Johannes Rau erzählte eine hintergründige Anekdote: Ein Pfarrer sagte zu einem Rabbiner: „Ich kann nicht einschlafen, wenn ich vorher nicht noch eine halbe Stunde in der Bibel lese." Darauf reagierte der Rabbiner: „Mir geht es genau umgekehrt. Ich kann nicht schlafen, wenn ich auch nur eine halbe Stunde in der Bibel lese."

Johannes Rau zog daraus die Folgerung: „Wir brauchen mehr Rabbiner." Menschen, die sie genau so lesen und dabei ganz Ohr sind, sie ernst nehmen und dann erfahren, was für eine Kraft in diesen Worten steckt: wie sie trösten und ermutigen, uns auch Ängste und Sorgen nehmen und gut schlafen lassen. Wie sie aber auch wachrütteln und in Frage stellen, uns anstecken und in Bewegung setzen.

Allerdings, jene Schriftgelehrten, die damals Jesus aufgebracht gegenüberstanden, lassen sich nicht wachrütteln. Sie forschen in den Schriften und suchen Bestätigung ihrer Meinung, ihres Denkens. Hier werden Glauben und Religion zur Ideologie, die mich scheinbar überlegen und hochmütig macht, mich auf andere herabschauten und sie verurteilen lässt.

Ein wichtiges Stichwort nennt Jesus immer wieder: Ehre. In der griechischen Sprache schwingt noch viel mehr mit als in unserer Übersetzung: Glanz, Herrlichkeit, Gottes Wesen und Erscheinung selbst. Und das ist der Punkt: Suche ich die Ehre Gottes? Soll seine Herrlichkeit über mein kleines Leben aufleuchten? Oder schiebe ich mich in den Vordergrund? Suche ich meine Ehre - auch im Glauben und im Bibellesen? Will ich mich groß und wichtig machen?

„Ach, lieber Herr Gott", notierte Martin Luther einmal, „die heilige Schrift versteht man nicht so leichtlich, wenn man sie gleich mit Fleiß lieset. Lasst uns die drei Wörter wohl lernen und ewig Schüler dabei bleiben, was da sei, Gott lieben, fürchten und vertrauen." Ich unterstreiche: „und ewig Schüler dabei bleiben". Ein Ausleger spricht hier von der Tugend der Demut. Für mich heißt das: Ich lasse die Bibel zu Wort kommen und bleibe Fragender, Suchender, Lernender.

Zweite Lesehilfe: Ich versuche in diesen Worten Jesus Christus zu entdecken.

Damit bin ich bei der zweiten Lesehilfe: Ich versuche in diesen Worten Jesus Christus zu entdecken. „Ihr sucht in der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie ist es, die von mir zeugt." Die Schrift zeugt von Jesus. „Wenn ihr Mose glaubtet", so heißt es später, „so glaubtet ihr auch mir, denn er hat von mir geschrieben."

Ja, Mose stand bei ihnen hoch im Kurs. Mose war ihnen wichtig. In einer rabbinischen Schrift wird er ihr „Fürsprecher" genannt. Wenn dieser Mose euch so wichtig ist, wenn ihr ihm wirklich glaubt, so argumentiert Jesus, dann müsstet ihr doch auch mir glauben. Denn er schreibt von mir.

Vielleicht denkt mancher unter uns: Ja, wo taucht denn in den fünf Büchern Mose der Name Jesus Christus auf? Nirgends. Richtig. Und doch sehen wir Philippus atemlos vor seinem Freund Nathanael stehen und rufen: „Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth."

Ja, Mose und die Propheten haben davon geschrieben. Nicht namentlich. Nicht offensichtlich. Aber auch mal deutlicher, wie zum Beispiel 5 Mose 18: „Einen Propheten wie mich wird der Herr, dein Gott, erwecken aus dir und deinen Brüdern; dem sollt ihr gehorchen..." Oder Jesaja 53: „Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen."

Viele Texte, in denen die ersten Christen und spätere Generationen Leben und Geschick von Jesus gespiegelt und gedeutet sahen. Darin sind sich auch die Reformatoren einig. „Christus", schreibt Johannes Calvin, „kann nur aus der Schrift richtig erkannt werden. Wenn sich das so verhält, folgt daraus, dass wir die Schrift mit der Absicht lesen müssen, Christus darin zu finden. Wer von diesem Ziel abweicht, wird niemals zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen, wie sehr er sich auch sein Leben lang abmüht."

Darum geht es: die Schrift lesen in der Absicht, Christus darin zu finden. Nicht nur die Texte des Neuen Testaments, sondern auch Mose und die Propheten. Nicht zufällig beginnt Johannes sein Evangelium mit dem eindrücklichen Satz: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort." Doch es geht noch weiter: „Und das Wort ward Fleisch..." Es wurde Mensch. Hinter allem begegnet uns Christus, Gottes Liebe in Person.

Die dritte Lesehilfe: Die Bibel ist ein Liebesbrief

Und damit bin ich bei der dritten Lesehilfe: Ich lese die Bibel wie einen Liebesbrief. Ja, Sie haben richtig gehört: als Liebesbrief Gottes an uns Menschen. Dietrich Bonhoeffer beschreibt das so: „Seit ich gelernt habe, die Bibel zu lesen, wird sie mir täglich wunderbarer. Ich lese jeden Tag darin. Ich weiß, dass ich nicht mehr leben könnte ohne sie." Das ist die Sprache der Liebenden. Die wollen zusammen sein. Die freuen sich über die Nähe des anderen, die Worte, das Lächeln. „Ich weiß", sagt Bonhoeffer, „dass ich nicht mehr ohne sie leben könnte."

Die Bibel - ein Liebesbrief, ein Brief, der aufbaut, ermutigt, uns mit neuer Kraft erfüllt. Ich denke noch einmal an Ben Becker, wie er ganz unten war - und dann zurück kam mit diesem Projekt. „Die Bibel", sagte er selbst, „das ist die Geschichte, die alle kennen - und doch keiner richtig. Die Geschichte, in der jede andere Geschichte verankert ist, die jeden betrifft. Für jeden von uns hing dieser Mann an diesem beschissenen Kreuz." Genau da begegnet uns Gottes Liebe. Eine Liebe, die uns nachgeht und nicht loslässt. Eine Liebe, die uns auch durch Tiefen und schwere Zeiten führt. Eine Liebe, die uns Mut macht zum Leben.

Der Theologe Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher formulierte mal den Spitzensatz: „Ein frommer Mensch braucht nicht die Bibel, er ist die Bibel." Damit wollte er nicht sagen: Wir könnten in unserem Glauben so weit kommen, dass wir die Bibel nicht mehr brauchten und Bibellesen überflüssig wäre. Nein, er will andeuten: Wer die Bibel liest, wird sich verändern. Die Bibel prägt uns, unser Leben, unser Denken, Reden und Tun. Sie nimmt uns Hochmut und Überheblichkeit. Sie steckt uns an mit einer Liebe, die Gott sucht und den Nächsten.

Wer so die Bibel liest, wird gepackt von einer großen Freude - wie ein Liebender. Der strahlt etwas aus, gibt etwas weiter. Der lacht mit den Fröhlichen und weint mit den Traurigen. Der gibt Hungernden Brot und sehnt sich nach Frieden und Gerechtigkeit. Wer so die Bibel liest, spiegelt etwas davon, ist selbst ein Stück Bibel. Das meint Schleiermacher. Und das wünsche ich uns.

Das erste und das letzte Wort

Liebe Gemeinde, es gibt viele Worte, die geredet werden, viele kluge, viele dumme. Es gibt viele Worte, die an unsere Ohren dringen. Doch worauf es für uns wirklich ankommt, das hat Hanns Dieter Hüsch einmal so auf den Punkt gebracht:

Wenn alles ausgeredet ausgerechnet
Kalkuliert und spekuliert
Wenn alles tausendfach erklärt
Bewiesen
Aufgesagt und abgeschrieben
Widerrufen
Neu behauptet
Festgestellt und festgelegt und
Festgesetzt
Und dementiert und falsch betont
Hinausposaunt
Manipuliert und propagiert und wahrgesagt
Hundertprozentig prophezeit
Dokumentiert und illustriert
Korrigiert
Und vorgeworfen nachgeworfen
Zugerufen
Fest versprochen
Ehrenwort und Wortgefecht
Nachgeredet überredet
Eingetrichtert inhaliert und suggeriert
Und wenn dann wirklich alles
Ausgeredet hat
Und sprachlos ist
Dann möge Gott der Herr
Uns immer wieder sagen
Uns immer wieder zeigen
Dass nur sein Wort
Das erste und letzte Wort
Dass unser Tun und Hören
Seinem Wort entsprechen möge
Denn seine Sprache ist unser täglich Brot
Und unser nächtliches Vertrauen
Sein Wort ist Geist
Der uns alle friedlich macht
Und freundlich macht
Lebendig macht
Und auch unsterblich macht.

Und zum Schluss hören wir hinein in die gesprochene Symphonie von Ben Becker (Die Bibel - eine gesprochene Symphonie, CD 2, Nr. 14 Offenbarung).



Pastor Manfred Gerke
Pastor der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Stapelmoor
und Präses des Synodalverbands Rheiderland der Evangelisch-reformierten Kirche
E-Mail: Gerke.Manfred@t-online.de

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