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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

2. Sonntag nach Trinitatis, 03.07.2011

Predigt zu Matthäus 22:1-14, verfasst von Dörte Gebhard

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus, Amen.

Liebe Gemeinde,

wovon träumen Sie?

Wovon träumten sie?

Damals, am östlichen Rand des Mittelmeers, waren sie im Morgengrauen und bis spät am Abend damit beschäftigt, dem kargen, trockenen Boden etwas Nahrhaftes zu entlocken.

Und sie träumten!

Sie träumten das Reich Gottes als Paradies, als einen blühenden Garten mit vollkommener Artenvielfalt. Vier Wasserströme hat dieser Garten, die im Gegensatz zum Jordan, der oft nur ein Rinnsal ist und in heissen Zeiten viel schwächlicher als die Suhre, beständig und reichlich fliessen. So steht es in der Schöpfungsgeschichte im zweiten Kapitel der Bibel.

Wovon träumen Sie?

Ein Telefonseelsorger träumt am Tag! Er lauscht Nacht für Nacht in die Abgründe des Menschlichen hinab. Keinen dieser Menschen hat er je gesehen, aber er muss hören und hören und hören und dann reden auch.

Er träumt von der vollkommenen Stille. Einmal wieder 14 Tage in der Stille sein und schweigen.

Sein Traum ging in Erfüllung.

Wovon träumten sie?

Für Jerusalem, für diese jahrtausendelang schon geplagte Stadt träumten sie vom Reich Gottes so: Es gibt 12 Tore. Sie sind golden, selbstverständlich, vor allem aber offen, weil es keine Gefahren und keine Nacht mehr gibt. Keine weint mehr, niemand hat mehr Schmerzen, das Leid ist vorüber. So steht es im vorletzten Kapitel der Bibel.

Wovon träumen Sie?

Viele träumen schon, dass die Menschheit sinnvoll mit ihren gewaltigen Energiereserven umgeht. Viele träumen schon seit Jahrhunderten, dass die arabische Welt Frieden findet. Viele träumen seit Jahrtausenden von bewohnbaren Städten, von großer Ruhe und Musik statt Geschrei und Lärm.

Wovon träumten damals schon die Ärmsten der Armen, die nichts zu verlieren, nichts zu beißen, nichts zu hoffen, nichts zu haben, nichts zu sein hatten?

Sie hatten etwas zu träumen: das Reich Gottes. Ein einziges, riesiges Festmahl mit einem Gastgeber, der alle einlädt. Ein Essen, das jeder gern teilt, weil von allem genug da ist.

 

Hören Sie einen Traum aus dem 22. Kapitel des Matthäusevangeliums:

Und Jesus fing an und redete abermals in Gleichnissen zu ihnen und sprach:

Das Himmelreich gleicht einem König, der seinem Sohn die Hochzeit ausrichtete.

Und er sandte seine Knechte aus, die Gäste zur Hochzeit zu laden; doch sie wollten nicht kommen.

Abermals sandte er andere Knechte aus und sprach: Sagt den Gästen: Siehe, meine Mahlzeit habe ich bereitet, meine Ochsen und mein Mastvieh sind geschlachtet, und alles ist bereit; kommt zur Hochzeit!

Aber sie verachteten das und gingen weg, einer auf seinen Acker, der andere an sein Geschäft.

Einige aber ergriffen seine Knechte, verhöhnten und töten sie.

Da wurde der König zornig und schickte seine Heere aus und brachte diese Mörder um und zündete ihre Stadt an.

Dann sprach er zu seinen Knechten: Die Hochzeit ist zwar bereit, aber die Gäste waren's nicht wert.

Darum geht hinaus auf die Straßen und ladet zur Hochzeit ein, wen ihr findet.

Und die Knechte gingen auf die Straßen hinaus und brachten zusammen, wen sie fanden, Böse und Gute; und die Tische wurden voll.

Da ging der König hinein, sich die Gäste anzusehen, und sah da einen Menschen, der hatte kein hochzeitliches Gewand an,

und sprach zu ihm: Freund, wie bist du hier hereingekommen und hast doch kein hochzeitliches Gewand an? Er aber verstummte.

Da sprach der König zu seinen Dienern: Bindet ihm die Hände und Füße und werft ihn in die Finsternis hinaus! Da wird Heulen und Zähneklappern sein.

Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.



Liebe Gemeinde,

wovon träumte Matthäus? Von einer großartigen Hochzeit. Aber wie kann man sowas so erzählen? Mord und Totschlag, ein einziger Albtraum.

Matthäus hat das Leben seine Träume ‚durchkreuzt‘. Er schrieb sein Evangelium nach dem Kreuzestod Jesu. So ist in diese Geschichte vor allem das böse Erwachen eingegangen. Matthäus wollte seine Leser nicht mit seinen Albträumen erschrecken. Er musste den Realitäten seiner Zeit ins Auge schauen. Der Horror war kein Traum, sondern sein Alltag.

Heulen und Zähneklappern waren die Straßenmusik seiner Zeit. Heulen und Zähneklappern sind fast noch eine Beschönigung der Verhältnisse: Matthäus hatte die Vernichtung Jerusalems im Jahr 70 nach Christus erlebt: die Mörder und die brennende Stadt. Zum Vergleich eine andere Beschreibung der Katastrophe, diejenige von Cassius Dio, einem römischen Geschichtsschreiber:

„Da stürzten sich die einen freiwillig in die Schwerter der Römer, die andern erschlugen sich gegenseitig, andere brachten sich selbst um, wieder andere sprangen in die Flammen. Und es schien für alle nicht so sehr Verderben, sondern eher Sieg und Heil und Gnade zu bedeuten, mit dem Tempel zusammen unterzugehen." (Cassius Dio 65, 6, 3)

Und schon damals ahnten die Zeitgenossen sehr genau, dass es eine dieser Katastrophen ist, die Weltgeschichte machen würde und von Menschen nicht wieder gutzumachen sein würde.

Müssen wir Fukushima in diese Reihe stellen ...? Eine Katastrophe, die auch in 2000 Jahren unvergessen sein wird ...?

Im Juli 70 wurde Jerusalem belagert und im August 70 irreparabel zerstört. Jetzt haben wir Juli 2011 und bald August - und der Jerusalemer Tempel ist nicht wieder aufgebaut. Nur der untere Teil der Stützmauer steht noch, er wird bezeichnenderweise Klagemauer genannt. Und wirklicher Frieden war Jerusalem in den Jahrhunderten seither auch nicht beschieden. Um welche andere Stadt der Welt wurde so viel gekämpft und gelitten und gestorben?

Matthäus schreibt sein Evangelium für die Überlebenden des Weltuntergangs. Es war wohl dieser Moment, in dem das Grauen vorbei ist und sich einige Traumatisierte am Leben finden und schreien und schreiben: Oh Gott, ich lebe ja noch! Oh Gott! Wenige sind auserwählt ... Das gellt in unseren Ohren, aber es war die Lebenserfahrung des Matthäus und der Seinen - wer sind wir, dass wir ihm diese bestreiten könnten?!

Ich hoffe von ganzem Herzen, dass sich niemand dieses Grauen nach dem überlebten Weltuntergang vorstellen kann! Mag uns deshalb Matthäus‘ Parabel im Letzten immer unverständlich bleiben! Mit Gottes Hilfe soll es weiterhin so sein, dass die Bilder und Metaphern uns letztlich fremd bleiben ... Was könnte besser sein, als wenn uns das Verständnis für so brachiale Wut und solchen Horror fehlt? Ist es nicht ein Grund zur Freude, dass Luther diese Passage ein „schreckliches Evangelium" nannte und bis heute niemand, aber wirklich niemand darüber gern predigen mag?

Das wäre ein Grund zum Feiern, dass wir uns das, was Matthäus nicht geträumt, sondern erlebt hat, nicht (mehr) vorstellen können. Denn es gab und gibt nur zwei große Unterbrechungen des Alltags, zwei Ausnahmezustände: das Fest und den Krieg. Und Matthäus hat gezeigt, wie entsetzlich nahe die beiden sind. Einer plant ein Fest und es wird Mord und Totschlag. Das Fleisch ist auf dem Grill, aber es wird mitten am Nachmittag noch eine Stadt ausgelöscht.

Aber schon vor diesem Schrecken ist es nicht gut: Einer lädt ein und kein Mensch hat die Kraft, sich Zeit zu nehmen. Alles ist bereit; kommt zur Hochzeit! Ruft der Gastgeber. Ruft er. Aber völlig vergeblich.

Aber sie verachteten das und gingen weg, einer auf seinen Acker, der andere an sein Geschäft.

Nicht, dass man nicht gern feiern würde, aber Acker und Geschäft, da sind sich alle einig, gehen vor. Wo kämen wir auch hin, wenn alle nur noch und keiner mehr ...

Man macht nicht nur einen fleissigen Eindruck, man ist auch fleissig! „Heute gehört der 18-Stunden-Tag zum Selbstverständnis der Wissenschaft und Forschung." (Maya Widmer im Zofinger Tagblatt, 27. 5. 2011) Es ist nicht böser Wille, aber man ist dann zu müde, um diesen Alltag und diese Nienacht noch zu unterbrechen. 18 Stunden Arbeit am Tag - die Menschheit hat im Laufe der Zeit genug Wissen schon aufgehäuft als dass solche Arbeitszeiten nötig wären. So dumm sind wir alle zusammen nicht! 18 Stunden Arbeit am Tag - so klug sind wir nun auch wieder nicht!

Mich beschleicht das Gefühl, als ob der Text passagenweise doch besser zu verstehen ist, als es mir lieb ist. Der Traum vom ach! so fernen Text wird auch durchkreuzt.

Liebe Gemeinde,

wovon träumt Matthäus? Kann er noch träumen nach allem?

Das ist das Wunder: Er träumt vom Guten, und wie! Matthäus träumt Gott, der nicht aufgibt: Darum geht hinaus auf die Straßen und ladet zur Hochzeit ein, wen ihr findet.

Und die Knechte gingen auf die Straßen hinaus und brachten zusammen, wen sie fanden, Böse und Gute; und die Tische wurden voll.

Nach allem und trotz allem - mitten in der blutigen Weltgeschichte und mit allen Seelennarben - das Fest findet statt. Und die Tische wurden voll. Warum? Es dürfen wieder -als sei Gott einfach nicht zu enttäuschen - alle kommen. Hätten nur die Guten kommen dürfen - wäre es wohl halbvoll geworden?

Vielleicht.

Eher nicht.

Wovon träumte Jesus?

Sie brachten zusammen, wen sie faden, Böse und Gute; und die Tische wurden voll.

Das ist der alte Herzenstraum dieses Textes, den Jesus vorträumte und mit dem er unvergesslich den Alltag seiner Zeitgenossen unterbrach: Alle, Gute und Böse, könnten miteinander auskommen. Wenn Gute und Böse kommen, wird es voll, aber es gibt reichlich, für alle.

Jesu Träume wurden durchkreuzt. Aber er ist mit seinen Träumen lebendig bis heute.

Wovon träumen Sie?

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Unsere Träume wurden durchkreuzt, oft schon. Viele haben wir davon: jeder in seinem Herzen, jede in ihrer Seele.

Vorläufig haben wir Matthäus, diesen realistischen Träumer noch sehr nötig.

Ich glaube aber, dass unsere durchkreuzten Träume aufgehoben sind bei Gott. Dank unserem lebendigen Gott bleiben auch unsere Träume lebendig.

In Jerusalem gibt es seit August 70 nur noch die Klagemauer. Aber die Hoffnung auf Frieden für diese Stadt ist lebendig in allen Religionen. Bis heute.

Wir haben zwei Kinder getauft in der Hoffnung, dass sie auf der Welt die Orte finden, wo alle miteinander teilen, weil es reichlich gibt für alle und nicht gefragt werden muss, ob sie gut oder böse waren. Solange sie leben.

Wir alle sind heute Morgen hier, weil wir nichts „Besseres" vorhatten, nicht Acker, nicht Geschäft, nicht ... und siehe wir leben jenseits unseres Alltags!

Gott behüte unsere Träume - und werden sie durchkreuzt, so sei er nahe.

Und der Friede Gottes, von dem wir träumen, stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, Amen.



PD Dr. Dörte Gebhard
CH-5742 Kölliken

E-Mail: doerte.gebhard@web.de

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