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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Trinitatis, 10.07.2011

Predigt zu Lukas 15:11-32, verfasst von Klaus Bäumlin

„Jesus aber sprach: Ein Mann hatte zwei Söhne. Und zum Vater sprach der jüngere von ihnen: Vater! Gib mir den mir zukommenden Teil des Vermögens. Und er machte ihnen auseinander, was er zum Leben hatte. Wenige Tage danach, als er alles beisammen hatte, reiste der jüngere Sohn in ein fernes Land. Und dort verschleuderte er sein Vermögen in heillosem Lebenswandel. Nachdem er aber alles vergeudet hatte, kam eine schwere Hungersnot über jenes Land, und er begann zu darben. Und er ging und hängte sich an einen der Mitbürger jenes Landes. Und der schickte ihn auf seine Felder zum Schweinehüten. Und er gierte danach, sich den Bauch mit den Schoten zu stopfen, welche die Schweine frassen - aber keiner gab sie ihm. Zu sich selbst gekommen sprach er: Wie viele Taglöhner meines Vaters haben Brot in Hülle und Fülle - ich aber gehe hier vor Hunger zugrunde. Aufstehen will ich, zu meinem Vater gehen und ihm sagen: Vater! Ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heissen. Stell mich einem deiner Taglöhner gleich. Und er stand auf und ging zu seinem Vater.

Als er noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater, und es ward ihm weh ums Herz, und er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Der Sohn sprach zu ihm: Vater! Ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heissen. Der Vater aber sprach zu seinen Knechten: Schnell! Holt das beste Kleid und zieht es ihm an. Steckt ihm einen Ring an die Hand und Schuhe an die Füsse. Und bringt das Mastkalb, schlachtet es. Dann wollen wir essen und fröhlich sein. Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist wieder gefunden. Und so begannen sie fröhlich zu sein.

Sein älterer Sohn aber war überfeld. Und als er kam, dem Haus sich nahte, hörte er Musik und Reigentanz. Und er rief einen von den Burschen herbei und erkundigte sich, was das bedeute. Der sprach zu ihm: Dein Bruder ist da! Und dein Vater hat das Mastkalb geschlachtet, weil er ihn gesund zurückbekommen hat. Und er wurde zornig und wollte nicht hineinkommen. Sein Vater aber kam heraus und redete ihm zu. Er antwortete dem Vater und sprach: Da! So viele Jahre mache ich dir den Knecht, und niemals habe ich eine Weisung von dir übertreten. Und du hast mir nie auch nur ein Böcklein geschenkt, damit ich mit meinen Freunden hätte fröhlich sein können. Aber als der da kam - dein Sohn, der dein Vermögen mit Huren aufgefressen hat - hast du ihm das Mastkalb geschlachtet. Er aber sprach zu ihm: Kind, du bist allezeit bei mir, und all das Meine ist dein. Da gilt es fröhlich zu sein und sich zu freuen; denn dieser dein Bruder war tot und ist lebendig geworden, war verloren und ist gefunden."

Liebe Gemeinde! Die Erzählung vom verlorenen und wiedergefundenen Sohn ist eine Schlüsselgeschichte der Bibel. Sie kommt mir vor wie eine Zusammenfassung des ganzen Evangeliums, der biblischen Botschaft des Alten und des Neuen Testaments. Dennoch, vielleicht gerade deshalb, habe ich in all den Jahren meines Pfarrerseins noch nie über diese Geschichte gepredigt. Zu gross, zu schön schien sie mir; zu gross die Scheu, sie zu zerreden. Zugleich scheint sie so einfach, so eingänglich und verständlich, dass man dazu eigentlich gar nichts mehr zu sagen, sie nicht auszulegen braucht. Heute möchte ich meine Hemmungen überwinden. Auslegen will ich aber die Geschichte nicht. Ich möchte Ihnen nur ein paar Beobachtungen und Hinweise weitergeben, ein paar Zusammenhänge aufblenden, ein paar Randbemerkungen anfügen, die sie zum Leuchten bringen können.

Da ist einmal der Zusammenhang, in den der geniale Lukas die Geschichte vom verlorenen Sohn gestellt hat. Das 15. Kapitel beginnt mit der Situationsbeschreibung: „Alle Zöllner und Sünder suchten seine Nähe, um ihm zuzuhören. Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten: Der nimmt Sünder an und isst mit ihnen." Die Pharisäer und Schriftgelehrten sind also die direkt Angeredeten. Ihnen antwortet Jesus mit drei Geschichten. Zunächst mit dem Gleichnis von dem Menschen, der sein verirrtes Schaf unter Zurücklassung der 99 andern Schafe sucht und zurückholt. „Und wenn er es findet, nimmt er es voller Freude auf seine Schultern und geht nach Hause, ruft die Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: Freut euch mit mir, denn ich habe mein verlorenes Schaf gefunden." Das zweite kleine Gleichnis erzählt von der Frau, die eine ihrer zehn Drachmen verloren hat. Sie kehrt das ganze Haus um, bis sie sie findet. Und dann ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen zusammen und sagt: „Freut euch mit mir, denn ich habe die Drachme gefunden, die ich verloren hatte."

Und dann folgt die Geschichte vom Vater und seinen zwei Söhnen. Sie ist ein Gleichnis für die Geschichte von Gott und den Menschen. Auch sie schliesst mit der Freude: „Jetzt gilt es fröhlich zu sein und sich zu freuen; denn dieser dein Bruder war tot und ist lebendig geworden, war verloren und ist gefunden."

Am Anfang des Lukasevangeliums, in der berühmten Weihnachtsgeschichte, ruft oder singt der Engel den Hirten zu: „Seht, ich verkündige euch grosse Freude, die allem Volk widerfahren wird." Und ganz am Schluss, im zweitletzten Vers (24,52) lesen wir, dass die Jünger, nachdem der auferstandene Jesus sie gesegnet hatte und in den Himmel emporgehoben wurde, „mit grosser Freude" nach Jerusalem zurückgekehrt seien. Freude - wie ein Leitmotiv zieht sie sich durch das Evangelium.

„Die Freude", hat Paul Claudel geschrieben, „ist das erste und das letzte Wort des Evangeliums. Die Freude und die Wahrheit, es ist dasselbe, und dort, wo am meisten Freude ist, da ist auch am meisten Wahrheit. Diese Freude, ich sage euch nicht, was sie ist. Ihr braucht nur euren Mund zu öffnen, nach der Weisung des Psalms: Tu deinen Mund auf, und ich werde ihn füllen."

Was ist der Grund dieser Freude? Eben davon erzählt unsere Geschichte. Vers 20 ist ihre Mitte. Er besteht aus zwei Sätzen. Der erste heisst: „Und er stand auf und ging zu seinem Vater." Der zweite lautet: „Als er noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater, und es ward ihm weh ums Herz, und er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn." Zwei Sätze, in einem Vers zusammengebunden - zwei suchen sich, kommen einander entgegen und finden sich. Das Elend seines verlorenen Sohnes bricht dem Vater das Herz, es geht ihm ans Lebendige, es trifft und verletzt ihn in seinem Innersten. Das muss man hören, wenn man liest, der Vater habe seinen Sohn gesehen, als dieser „noch weit entfernt war". Es ist, wie wenn der Vater die ganze Zeit sehnlich gewartet und Ausschau nach seinem Sohn gehalten hätte - und wie wenn der Sohn in seinem Elend etwas von diesem Warten gespürt hätte. In seinem Elend erinnert er sich an den Vater. Er erinnert sich, wie gut er es bei ihm zu Hause hatte. Die Heimat, das Vaterhaus leuchtet in sein Elend hinein und bringt bei ihm etwas in Bewegung in Richtung Umkehr: „Aufstehen will ich, zu meinem Vater gehen und ihm sagen: Vater! Ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heissen."

Und jetzt, da er den Sohn kommen sieht, vergisst der Vater jede Zurückhaltung und patriarchale Würde. Er rennt dem Sohn entgegen und umarmt ihn in einer leidenschaftlichen Bewegung.

„Und er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn." In dieser Zuwendung von beiden Seiten her, in dieser Umarmung und diesem Kuss - da geschieht es! Das ist das Evangelium. Gott und die Menschen finden einander, umarmen sich und freuen sich an einander. Darüber herrscht Freude im Himmel und bei den Menschen.

Sein Schuldbekenntnis wird der Sohn erst los, nachdem ihn der Vater umarmt hat. Es ist nicht Voraussetzung der väterlichen Zuwendung. Bedingungslos nimmt der Vater ihn auf. Auf sein Schuldbekenntnis geht er gar nicht ein. Es scheint ihn überhaupt nicht zu interessieren, was der Sohn alles getrieben hat. Keine Vorwürfe, keine Moralpredigt. Stattdessen lässt er den verlumpten Schweinehirten einkleiden und ihm einen Ring anstecken; das heisst: er setzt in wieder in die Rechte des Sohnes ein. Und er ordnet ein Willkommens-Fest an, „schnell", sofort, als ob man nichts anderes zu tun hätte. Nur das zählt: dass der Verlorene lebt und wieder da ist. „Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist wieder gefunden. Und so begannen sie fröhlich zu sein."

*

Nun mache ich einen Schritt zurück in unserer Geschichte. Der jüngere Sohn scheint die Enge des Elternhauses nicht zu ertragen. Er will seinen eigenen Weg gehen, den Weg „in ein fernes Land", ins Abenteuer der Freiheit. Er überschreitet die Grenze, er emanzipiert sich. Und dabei verliert er durch seinen „heillosen Lebenswandel" nicht nur den Teil des Vermögens, den ihm der Vater auf die Reise mitgegeben hat. Er verliert sich selber. Die Freiheit und Unabhängigkeit, die er gesucht hat, verspielt er restlos. Er gerät in beschämende und bedrückende Abhängigkeit, er wird zum Schweinehirten - für damalige jüdische Hörer der Gipfel der Unreinheit und Verlorenheit. Und er leidet Hunger. Die Ordnung und der Überfluss des Vaterhauses, dem er entflohen ist, werden ihm zur ersehnten, guten Lebensordnung. Er weiss, dass er das Recht darauf verspielt hat. So kehrt er zurück in der Hoffnung, dass der Vater ihn wenigstens als Taglöhner anstellen wird.

 

*

Der Vater hat den Jüngeren in die Fremde ziehen lassen, hat nicht versucht, ihn zurückzuhalten,

hat ihn nicht vor Gefahren und Versuchungen gewarnt. Er lässt ihn seinen Weg gehen. Er teilt ihm das ihm zustehende Erbe zu, ohne Rücksicht darauf, ob dieser Aderlass dem Betrieb nicht schadet.

Unsere Geschichte ist kein ökonomisches Lehrstück. Sie ist auch kein moralisches Lehrstück. Sie erzählt mit dem Beispiel des Vaters und seiner Söhne die Geschichte des Gottes, der die Menschen ihren eigenen Weg gehen lässt, und ihnen die Treue hält, auch wenn sie ihn verlassen. Dem Vater bleibt nichts als zu warten und das Haus offen zu halten. Und die Überraschung, das Wunder: Die Rechnung des Vaters - die gerade keine Rechnung ist! - geht auf: Der Verlorene kehrt heim, und der Vater eilt ihm entgegen.

*

Aber nun ist da noch der ältere Sohn. Er hat draussen auf dem Feld gearbeitet, seine Pflicht erfüllt, wie er es jeden Tag macht. Auf dem Heimweg hört er die Tanzmusik im Haus des Vaters. Schon da versteift er sich und zeigt, was für ein unfreier Mensch er ist: Er geht nicht selber ins Haus, um zu sehen, was dort vor sich geht, sondern schickt einen Knecht, der es ihm berichten muss. Jetzt grollt er erst recht und will nicht hineinkommen. Und so wie der Vater dem heimkehrenden Jüngeren entgegen gerannt ist, so kommt er nun auch dem verstockten Älteren entgegen und redet ihm zu. Er bittet ihn. „Dem jüngeren Sohn vergibt er, den älteren bittet er. Ein anderes ‚Argument' als das der Liebe kennt der Vater nicht. Einmal vergebend, einmal bittend" (H.-J. Venetz). Denn der Vater will beide Söhne bei sich haben. Das Fest kann nur dann ein wirklich fröhliches Fest sein, wenn beide Brüder dabei sind, wenn alle sich freuen.

Aber der Ältere kann den Jüngeren nicht als seinen Bruder anerkennen. Er vermeidet das Wort "Bruder" und sagt abschätzig: „Aber als der da kam - dein Sohn, der dein Vermögen mit Huren aufgefressen hat, - hast du ihm das Mastkalb geschlachtet." Von Huren war zuvor nicht die Rede; der Ältere setzt noch eins drauf. Ihm, dem Daheimgebliebenen, habe der Vater nie auch nur ein Böcklein geschenkt, damit er mit Freunden hätte feiern können. Ihm kam es wohl gar nie in den Sinn, ein Fest zu feiern. Hätte er es gewollt, er hätte mehr als bloss ein Böcklein dazu brauchen können.

Die Antwort des Vaters: „Kind, du bist allezeit bei mir, und all das Meine ist dein. Da gilt es fröhlich zu sein und sich zu freuen; denn dieser dein Bruder war tot und ist lebendig geworden, war verloren und ist gefunden." "Der da" hat der Ältere gesagt. Der Vater erinnert ihn daran, dass "der da" "dein Bruder" ist.

Wir haben keinen Grund, über den älteren Bruder abschätzig zu urteilen. Ihm gehört meine Sympathie. Im Unterschied zum liederlichen Jüngeren ist er der Anständige, Ordentliche, der Bewährte, der Pflicht- und Verantwortungsbewusste. Er ist der Gute; er hätte Anerkennung und ein Fest wirklich schon längst verdient. Und nun wird ihm sein Gut-Sein, seine Rechtschaffenheit zur Falle. Jetzt, wo bedingungslose Liebe und Gnade den Ton angeben, fühlt er sich benachteiligt,

versteift er sich in Aufrechnen und Vergleichen und bleibt dem Fest fern .....

... Aber genau das steht in der Geschichte nicht! Sie hat nämlich einen offenen Schluss; sie lässt es offen, ob der ältere Bruder in seinem Ärger verharrt oder ob das Entgegenkommen des Vaters auch bei ihm eine Umkehr bewirkt, so dass er ins Haus kommt, den Bruder als Bruder grüsst, ihn umarmt und küsst und sich mitfreut. Aber auch das gehört zur Kunst des Erzählers, dass die Geschichte nicht mit einem runden Happyend schliesst, sondern es den Leserinnen und Hörern überlässt, wie sie sich den Ausgang vorstellen. Jesus setzt die Hörer und Leserinnen sozusagen an die Stelle des älteren Bruders, der jetzt wählen muss, ob er abseits bleiben oder sich dem Bruder zuwenden und sich mitfreuen soll.

Auf eine Aktualisierung der Geschichte verzichte ich, liebe Gemeinde. Ich überlasse es Ihnen, ob Sie sich eher im älteren oder im jüngeren Sohn wiedererkennen. Vielleicht ist ja von beiden etwas in uns drin. So oder so: Die Liebe ist stärker als der Verlorene, und sie ist stärker als der Daheimgebliebene.

In der Bibel, in der Vielfalt ihres Zeugnisses, scheint Gott oft mit sich im Streit zu sein, ob er seiner Liebe Grenzen setzen oder ihr das letzte, allumfassende, versöhnende Wort geben will. Mit seiner Geschichte - und mit seinem ganzen Leben - gibt Jesus darauf eine eindeutige Antwort. Deshalb wohl hat der Engel bei seiner Geburt gerufen: „Seht, ich verkündige euch grosse Freude, die allem Volk widerfahren wird." Amen.

Vater im Himmel! In grenzenlosem Erbarmen kommst du uns entgegen: uns, die wir uns von Dir abgewandt und uns verirrt haben; uns, die wir unsere eigenen Wege gehen wollen und dabei so oft ins Ausweglose geraten; uns, die wir von unserer Rechtschaffenheit überzeugt sind, uns, die wir so gut rechnen und vergleichen können. Lass uns alle umkehren zu Dir, heimkehren ins offene Haus Deiner Liebe.

Steck uns an mit Deiner Grosszügigkeit, mit dem Charme Deiner Gnade. Lass sie unser Leben bestimmen. Lass uns unseren Mitmenschen, den Nahen und denen, die uns fremd sind, begegnen im Licht Deiner Gnade.

So denken wir denn vor Dir an unsere Brüder und Schwestern: an unsere Angehörigen, an Menschen, um die wir uns Sorgen machen, an Menschen, die uns nicht und die wir nicht verstehen. Wir denken an die Kranken und Behinderten, an die Einsamen, an Schwermütige ohne Mut und Lebensfreude; an Junge, die das Selbstvertrauen verlieren, weil sie keine Lebensperspektive sehen; an alte Menschen, denen das Leben zur Last wird, an die Sterbenden. Gib ihnen Mitmenschen als Boten Deiner Liebe. Bei Dir, Gott, ist das Leben und die Freude. Wecke auch uns auf zur Freude, zur Freude auch in allem Leide.

Alles, was uns jetzt bewegt, wir fassen es zusammen mit den Worten, die Jesus, Dein Sohn, uns gelehrt hat, und beten gemeinsam zu Dir: Unser Vater im Himmel ...



Pfr. Klaus Bäumlin
Liebeggweg 19
CH-3006 Bern

E-Mail: klaus.baeumlin@bluewin.ch

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