Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Trinitatis, 10.07.2011

Predigt zu Lukas 14:1-10, verfasst von Marianne Frank Larsen

Am Sonntag, dem 10. Juni, findet auf Katthult ein großes Fest statt. Es kommen viele Gäste aus Lönneberga und anderen Orten, die Sonne scheint, Flieder und Apfelbäume blühen, und die Luft ist erfüllt vom Gesang der Vögel. Michels Vater ist in Astrid Lindgrens Kinderbuch gerade dabei, die Flagge zu hissen, als Alfred angelaufen kommt und sagt, die Kuh sei am Kalben. Da muss Anton Svensson die Flagge Flagge sein lassen und sofort in den Stall. Bekanntlich geschieht es genau in diesem Augenblick, dass Michel die Gelegenheit nutzt, die kleine Ida an der Fahnenstange hochzuziehen. Die kleine Schwester möchte doch so gern Mariannelund sehen. Dafür muss dann Michel den Nachmittag hinter Schloss und Riegel in der Werkstatt zubringen und über seine Narrenstreiche nachdenken.

Mehrere Stunden später, als die Gäste nach dem Kaffee wieder zu sich kommen, denkt Michels Mutter endlich an den armen Jungen, und Michels Vater läuft zur Werkstatt, um ihn zu befreien. Aber da ist kein Michel. Bald sind alle Gäste auf den Beinen, und sie suchen in der Werkstatt und in der Speisekammer, im Holzschuppen und im Bügelzimmer, aber auch da ist kein Michel. Im Schafstall und im Hühnerstall und in der Räucherei, und sie sehen auch im Brunnen nach ihm, aber auch da ist kein Michel, und das ist ja nur gut, aber jetzt weinen alle. „Er ist sicher in den Bach gefallen", sagt Line. „Er darf gar nicht an den Bach gehen, das weißt du doch", antwortet Michels Mutter. „Ja, eben deshalb", sagt Line und wirft den Kopf in den Nacken. Und dann laufen alle an den Bach. Aber, Gott sei Dank, auch hier finden sie keinen Michel. Und doch weinen sie noch schlimmer als vorher.

Am Ende kann Michels Mutter nichts anderes tun als das Essen auf den Tisch stellen. Alle haben von den vielen Tränen und der Sucherei Hunger bekommen. Michels Mutters Tränen fallen in den Heringssalat, aber auf den Tisch kommt er genau wie die anderen guten Sachen. Nur die Wurst fehlt. Michels Mutters wunderbare Wurst, die gewiss gut schmecken würde in all dem Jammer. Line wird nach der Wurst in die Speisekammer geschickt, kommt aber ohne Wurst zurück und sagt: „Kommt alle mit, ich will euch was zeigen!" Und sie gluckst in sich hinein, während sie mit triumphierendem Gesicht die Gesellschaft in die Speisekammer führt. Hier führt sie sie zu dem großen Schrank und reißt mit einem Knall die Tür auf und zeigt auf das Regal, wo Michels Mutter immer ihre gute Wurst aufbewahrt. Da ist jetzt nur keine Wurst. Sondern da ist Michel. Er liegt inmitten der Wurstpelle und schläft. Wie viele von euch wissen werden, hat Michel den Abstand zwischen Werkstatt und Speisekammer mit Hilfe eines Bretts zwischen den beiden Fenstern verkürzt und sich im Übrigen jetzt so richtig satt gegessen. Welch eine Freude! Michels Mutter ist so glücklich, wie wenn sie in ihrem Schrank einen Klumpen Gold gefunden hätte, steht da in dem Buch. Was macht es schon, dass Michel die ganze Wurst verzehrt hat! Es ist doch unendlich viel besser, Michel auf dem Regal zu finden als ein paar Kilo Wurst... Und jetzt wird das Fest endlich lustig und gut. Die Gäste essen und feiern, bis sich eine schöne Morgendämmerung über Katthult und Lönneberga und ganz Småland ausbreitet...

„Dass ein kleiner Junge, der mit dem Magen voller Wurst gefunden wird, so viele Menschen glücklich machen kann", schreibt Astrid Lindgren, aber sie tut es mit einem ironischen Lächeln, denn jeder Vater und jede Mutter, die die Angst wegen eines verschwundenen Kindes kennen, kennen auch die ausgelassene Freude über das wiedergefundene Kind - sei es der Zweijährige, der in den Menschenmassen verschwindet oder eine Gelegenheit nutzt, sich von zuhause fortzustehlen, oder der Sechzehnjährige, der des Nachts nicht nach Hause kommt. Alles wird beiseitegeschoben. Auf nichts kann man sich mehr konzentrieren. Alle schlimmen Möglichkeiten streifen einen in Gedanken, und man ist ihnen wehrlos ausgeliefert. Nichts sonst zählt, bis man den Kleinen wieder in seinen Armen hält - oder allergnädigst die Erlaubnis bekommt, dem Großen die Wange zu streicheln. Kein Wunder, dass der kleine Junge, der mit dem Magen voller Wurst gefunden wird, so viele Menschen so glücklich machen kann. Wir wissen ja, warum.

Die Freude über das Wiederfinden des Verschwundenen ist dieselbe in Astrid Lindgrens Klassiker wie in unserem Leben und wie im heutigen Evangelium. Und doch besteht da ein Unterschied. Es leuchtet ja doch ein, warum das Finden eines Kindes die Eltern mit Freude erfüllt. Aber es leuchtet nicht ein, warum der Fund eines Schafes und eines Geldstückes den Hirten und die Frau mit denselben Gefühlen erfüllt. Warum sie so überaus glücklich sind, dass sie einfach Freunde und Freundinnen und Nachbarn und Nachbarsfrauen zu einem Freudenfest einladen - aus Freude über ein einziges, dummes Schaf, das sich verirrt hat, und über ein einziges Geldstück, das sich unter einer Kommode verkrochen hat. Es leuchtet auch ein, warum die Gesellschaft auf Katthult den Braten Braten sein lassen und sich im Schaf- und Hühnerstall und Brunnen und Bach auf die Suche nach Michel machen muss. Denn ein Kind ist so kostbar, niemand kann es ersetzen. Aber es leuchtet nicht ein, warum der Hirte Schafe Schafe sein lässt und in die Einöde hinausgeht, um das verirrte Schaf zu finden, wo er doch 99 andere vernünftige Schafe zu hüten hat. Oder warum die Frau den geschlagenen Vormittag darauf verwendet, das Licht anzumachen und zu kehren und zu kehren und nach Kleingeld zu suchen, wo sie doch 9 andere Drachmen zur Verfügung hat. Das leuchtet nicht ein. Es verblüfft einen eigentlich.

Aber so verblüffend ist Gott offensichtlich. Denn die Frau und der Hirte sind Bilder für ihn. Gott ist nicht nur wie ein König oder ein Richter oder ein Vater. Er ist auch wie ein Schafhirte oder eine gewöhnliche Hausfrau und Mutter, sagt sein Sohn - und jetzt lächelt er ironisch. Und wir sind wie das Schaf und der Groschen alles andere als einzig, denn wir sind Menschen aus Fleisch und Blut, mit Haut und Haar und Herzklopfen, mit Schmerzen und Freuden, wir haben jemanden, den wir lieben, und jemanden, den wir verlieren. Wir sind sozusagen nichts Besonderes. Genauso wenig wie ein Schaf unter 99 Schafen oder ein Groschen unter 10 Groschen etwas Besonderes ist. Und doch gibt sich der gute Gott dieselbe unmäßige Mühe und unternimmt dieselben Anstrengungen, um uns zu finden, wie die Frau und der Hirte im Gleichnis - und wie wir es auch tun, wenn es ein Kind ist, das verschwunden ist. Jesus spricht sozusagen von sich selbst. Er ist es ja, den Gott in die Einöde gesandt hat, um nach uns zu suchen. Bis zu dem Punkt, an dem es den guten Hirten das Leben kostet, uns zu folgen. Und er gibt nicht auf, sondern lässt fortgesetzt das Licht für uns scheinen mit Wasser und Brot und Wein, und sucht fortgesetzt nach uns mit den Worten, die wir hier in der Kirche hören und singen, bis er uns findet. Obgleich wir genauso viele sind wie Schafe in einer Herde oder Groschen in einem Geldbeutel, so haben wir offenbar einen genauso hohen Wert für Gott, wie Michel ihn für seinen Vater und seine Mutter hatte, und wie unsere Kinder ihn für uns haben.

Und darum brauchen wir nicht nach Gott oder nach dem Sinn des Lebens oder nach unserem eigenen Wert zu suchen, und darum brauchen wir auch nicht mehr Menschen auf der Suche zu sein. Denn die frohe Botschaft ist, dass wir gefunden sind. Dass der Gott, der uns genauso wertschätzt wie wir unsere Kinder, uns, jeden einzelnen von uns, gefunden hat, als wir getauft wurden. Und wo immer wir in unserem Leben sind, und in welchen Schmerz oder in welches Grauen oder Leid wir uns verirren, so tut er, was er kann, um uns mit seinen Worten und seinen Zeichen daran zu erinnern - um uns zu erheben und neues Licht auf das Leben zu werfen, das wir leben. Du bist gefunden, sagt er jedes Mal, wenn wir hier hereinkommen. Und er sagt es mit leuchtenden Augen. Da bist du ja! Wie wenn er sein eigenes Kind gefunden hat. Denk dir, dass ein einziger kleiner Mensch, der mit einem Herzen voller Freude oder Leid gefunden wird, den guten Gott so froh machen kann. Denk dir, dass wir es sind, die er gefunden hat!

Amen



Pastorin Marianne Frank Larsen
Taulov, DK-7000 Fredericia


E-Mail: mfl@km.dk

Bemerkung:
Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier



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