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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Trinitatis, 10.07.2011

Predigt zu Lukas 15:1-7, verfasst von Martin Dutzmann

 

Liebe Gemeinde,

„Ich gehöre zu Ihren Schäfchen," erklärte mir neulich ein Mann, mit dem ich bei einem Empfang ins Gespräch kam. Damit wollte er mir signalisieren: Ich gehöre zur Kirche und Sie sind mein Pastor. Das lateinische Wort „Pastor" bedeutet auf deutsch „Hirte".

„Ich gehöre zu ihren Schäfchen." Wenn ein Gemeindeglied sich so vorstellt, zucke ich zurück. Mit einem Schaf verbinde ich blinden Gehorsam, Unselbständigkeit, ja Dummheit. Ich weiß nicht, warum das Schaf diesen Ruf hat; wahrscheinlich wird er dem Tier nicht gerecht. Was ich aber sicher weiß, ist dies: Gemeindeglieder sollen nicht unmündig sein und blind gehorchen. Im Gegenteil: Gerade wir Evangelischen setzen auf mündige Christen, die das Reden und Tun ihres Pastors kritisch hinterfragen und mutig ihre eigene Meinung vertreten. Insofern scheint mir das Bild vom Schaf - erst recht, wenn verniedlichend vom „Schäfchen" gesprochen wird - unpassend, um damit Christenmenschen und Gemeindeglieder zu bezeichnen.

Nun wird aber das Bild vom Schaf in der Bibel sehr häufig verwendet. Denken wir nur an den 23. Psalm: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser." Ungezählte Menschen erkennen sich in diesen Worten wieder und finden darin Trost. Auch Jesus benutzt das Bild vom Schaf und erzählt ein Gleichnis dazu. Mit der kleinen Geschichte zeigt er, wie wir Menschen vor Gott dran sind...

(Predigttext: Lukas 15, 1-7)

Jesus erzählt von einem Schaf, das den Kontakt zu seinem Hirten und zu seiner Herde verloren hat. Ob Robert sich in dieser Geschichte wiedererkennt? Robert ist wie viele seiner Freunde mit vierzehn konfirmiert worden. An den Tag seiner Konfirmation erinnert er sich gern. Da hat er im Mittelpunkt gestanden und schöne Geschenke hat er auch bekommen. Danach ist er weiter zur Schule gegangen, hat Abitur gemacht und studiert. Über Gott hat er sich kaum mehr Gedanken gemacht. Wozu auch? Robert macht in seinem anspruchsvollen Beruf täglich die Erfahrung, dass jeder seines Glückes Schmied ist. Wer viel leistet, kommt voran. Wer dazu nicht bereit ist, muss sich eben mit weniger zufrieden geben. Vor allem aber muss man besser sein als die anderen. Und Konkurrenten muss man hin und wieder auch mit Tricks ausbremsen. Leider ist über Roberts beruflicher Beanspruchung vor einigen Jahren die Ehe mit Birgit zerbrochen, und Freunde hat er unter den vielen Geschäftspartnern auch kaum. Manchmal kommen ihm abends vor dem Einschlafen unangenehme Gedanken: Ist das wirklich ein guter Weg, den ich da gehe? Lebe ich ein erfülltes Leben? Will ich so weiter machen? Aber dann verscheucht er die Gedanken wie man eine lästige Fliege verscheucht...

Das Gleichnis vom verlorenen Schaf. Vielleicht denkt auch Andrea: „Das ist meine Geschichte!" Andrea ist immer zu kurz gekommen. Als ältestes von fünf Kindern hat sie früh Verantwortung übernehmen müssen. Während ihre Freundinnen auf der Straße spielten und später dann in die Disco gingen, musste sie auf die kleineren Geschwister achten. Ihre Mutter hat das als selbstverständlich hingenommen. Bedankt hat sie sich nie und Geschenke gab es schon gar nicht. Andrea hat dann eine Ausbildung zur Friseurin gemacht und ein paar Jahre in dem Beruf gearbeitet. Aber dann hat sie diese chronischen Rückenschmerzen bekommen und musste den Beruf aufgeben. Etwas anderes hat sie nicht gefunden. Heute lebt Andrea von Hartz IV und manchmal frisiert sie noch die eine oder andere alte Kundin. Es reicht zum Leben, aber große Sprünge kann sie nicht machen. Einen Partner hat sie nicht gefunden. Nach einer heftigen Enttäuschung vor ein paar Jahren hat sie nicht mehr den Mut zu einem neuen Anlauf. Manchmal überlegt Andrea, ob sie sich in einem Verein oder in der Kirchengemeinde ehrenamtlich engagieren soll. Aber dann sagt sie sich: Da sind doch lauter etablierte und irgendwie zufriedene Leute. Menschen, die es zu was gebracht haben. Neben denen bin ich doch das hässliche Entlein, die Verliererin...

Jesus erzählt jedoch nicht nur von einem verlorenen Schaf sondern auch von einem guten Hirten. Einen guten Hirten lässt es nicht kalt, wenn auch nur eines seiner Schafe den Anschluss verliert. Er kommt darüber nicht zur Ruhe. Deshalb sperrt er die übrigen Tiere in einen provisorischen Pferch und macht sich auf die Suche. Bei großer Hitze legt er weite Strecken zurück, ruft nach dem verlorenen Tier, späht in Felsspalten, durchkämmt Gestrüpp, fragt andere Hirten. Sorge erfüllt ihn, denn sein Schaf könnte ja verunglückt, gestohlen oder einem Raubtier zum Opfer gefallen sein...

Die Geschichte vom guten Hirten ist die Geschichte von Gott. Sie erzählt, wie Gott uns Menschen nachgeht. Menschen wie Robert und Andrea, Menschen wie dir und mir. Eigentlich erzählt die ganze Bibel von nichts anderem. Bereits das erste Menschenpaar trennt sich von Gott. Gegen sein ausdrückliches Gebot essen die beiden von der verbotenen Frucht. Aber Gott lässt das nicht kalt. Er sucht sie im Garten Eden auf, stellt sie zur Rede und mildert die Folgen des Ungehorsams.

Auch in der Folgezeit zeigt sich Gott den Menschen als guter Hirte. Man lese nur einmal im Buch der Psalmen. Hier erzählen Menschen, wie sie verloren waren - durch widrige Umstände, durch Feinde, durch eigene Schuld und eigenes Versagen - und wie Gott sie zurückholte. Und am Ende stehen Dank und Freude.

Als guter Hirte für die ganze Welt hat Gott sich gezeigt, als er in Christus zur Welt kam. Keiner soll mehr sagen: Ich bin allein auf der Welt und muss ganz und gar für mich selber sorgen. Keine soll mehr sagen: Ich bin unansehnlich und ungeliebt und einsam. In Christus ist Gott an die einsamsten Orte gekommen, die man sich vorstellen kann. Selbst die Todesnot, die uns Menschen von allen anderen Menschen trennt, hat er nicht gemieden. In einem Abendlied aus unserem Gesangbuch heißt es von Christus: „Der lässt keinen einsam sein, weder Nacht noch Tag."

„Der lässt keinen einsam sein, weder Nacht noch Tag." Müssen Robert und Andrea dafür eigentlich etwas tun? Müssen sie ihr Leben ändern, um die Nähe Gottes, des guten Hirten, erfahren zu können? Müssen sie womöglich sich selbst ändern, um eine neue Perspektive für ihr Leben zu gewinnen? Die Geschichte vom verlorenen Schaf scheint das nahe zu legen. Von Buße ist da die Rede: „Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen."

Was bedeutet das? Muss, wer Gott finden will, sein ganzes Leben umkrempeln? Müssen Andrea und Robert in Sack und Asche gehen? Müssen sie reumütig bekennen, dass Gott in ihrem bisherigen Leben kaum eine Rolle spielte und müssen sie geloben, ab sofort fromme Leute zu werden? Müssen sie gar bestimmte Bußleistungen - Gebete, Spenden oder dergleichen - erbringen? Solche Vorstellungen weckt das Wort „Buße" wohl bei vielen. Die Geschichte vom verlorenen Schaf und vom guten Hirten lässt allerdings für solche Vorstellungen von Buße keinen Raum. Was tut nämlich das verlorene Schaf? Genau genommen tut es nichts, um wieder in die Obhut des Hirten und in die Gemeinschaft der Herde zurück zu kommen. Nicht einmal laufen muss das Tier, nachdem es von seinem Hirten gefunden worden ist: „Und wenn er (der Hirte) es gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude." Damit das verlorene Schaf zurückkehren kann, ist nur eines notwendig: Es darf vor dem Hirten nicht davon laufen und ihm nicht von der Schulter springen. Wenn es sich den Dienst und die Mühe des Hirten gefallen lässt, wird es ganz sicher nach Hause kommen. Das ist Buße: Es mir gefallen lassen, dass Gott mich sehnsüchtig liebt. Es mir gefallen lassen, dass es Gott das Herz bricht, wenn ich einsam und verloren bin. Es mir gefallen lassen, dass Gott mir nachgeht und mich sucht. Es mir gefallen lassen, dass er sich unbändig freut, wenn er mich findet und nach Hause bringt.

Wer sich Gottes Liebe gefallen lässt, der löst große Freude aus: bei Gott und bei allen, die zu ihm gehören: „So wird Freude im Himmel sein..." Freude wird im Himmel sein, wenn Robert, Andrea und all die anderen sich Gottes Liebe gefallen lassen. Wenn sie nicht länger meinen, alles selbst im Griff haben zu müssen. Wenn sie nicht länger glauben, etwas aus sich machen zu müssen. Wenn sie darauf vertrauen, dass Gott es wohl mit ihnen machen wird.

Sind wir, liebe Gemeinde, jetzt nicht doch wieder beim unmündigen, willenlosen und letztlich dummen Schaf angekommen? Bei dem Schaf, das nichts tut und sich alles gefallen lässt? Nein, keineswegs! An Robert und Andrea können wir das erkennen: Robert fragt sich manchmal vor dem Einschlafen, ob er wohl den richtigen Weg eingeschlagen hat. Wenn er sich gefallen lässt, dass Gott ihn unendlich liebt und ihn bei sich wissen will, dann kann und wird er anders leben als bisher. Gelassener wird er leben, denn er hat es jetzt nicht mehr nötig, sich in seinem Beruf aufzureiben. Er muss nicht mehr beweisen, wie kompetent und fleißig und wertvoll er ist. Und verantwortlicher wird er leben. Er muss niemanden mehr austricksen, um selbst besser dazustehen. - Andrea überlegt dann und wann, sich in einem Verein oder in ihrer Kirchengemeinde zu engagieren und schreckt dann doch davor zurück. Sie fühlt sich minderwertig und klein. Wenn auch sie es sich nun gefallen lässt, dass Gott sie alles andere als minderwertig findet, wird sie mutiger werden. Wenn sie darauf vertraut, ein kostbares und begabtes Geschöpf Gottes zu sein, wird sie ihre Gaben einsetzen. In unseren Kirchengemeinden gibt es jede Möglichkeiten dazu...

„Ich gehöre zu Ihren Schäfchen", sagen manche Gemeindeglieder zu ihrem Pastor. Ja, warum eigentlich nicht? Wer sich von Gott finden lässt wie ein Schaf von seinem Hirten, der ist nicht willenlos, unmündig und dumm. Das Gegenteil ist der Fall. Wer sich von Gott finden lässt, geht seinen Weg gelassen und mutig und übernimmt Verantwortung für andere. Und solche Leute kritisieren, wenn es sein muss, auch ihre Pastoren und ihre Kirchenleitungen.



Landessuperintendent der Lippischen Landeskirche Dr. Martin Dutzmann
32756 Detmold
E-Mail: dutzmann@web.de

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