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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Trinitatis, 10.07.2011

Predigt zu Lukas 15:1-10, verfasst von Christoph Schieder

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. AMEN.

Liebe Gemeinde!

Beherrschen Sie noch den klassischen mathematischen Dreisatz? Den braucht man für Aufgaben wie zum Beispiel: „In 3 Stunden legt ein Fahrzeug bei konstanter Geschwindigkeit 240 km zurück. Wie weit kommt es in 7 Stunden?" In drei kleinen Schritten kann man die Gleichung auflösen und hat dann ganz schnell das Ergebnis: Wenn das Fahrzeug in 3 Stunden 240 km zurücklegt, dann legt es in 1 Stunde 80 km zurück, also legt es in 7 Stunden 560 km zurück.

Aber, liebe Gemeinde, ich will Ihnen jetzt keine Nachhilfestunde in Mathematik erteilen! Und, liebe Schülerinnen und Schüler, schließlich sind ja bald Sommerferien, da will ich Euch auch nicht unnötig stressen.

Ich möchte anhand dieses klassischen Rechenweges nur etwas deutlich machen, was mit unserem heutigen Predigtwort zu tun hat. Behalten Sie den Dreisatz im Gedächtnis, während ich einige Verse aus dem 15. Kapitel des Lukas-Evangeliums lese. Da heißt es:

1 Es nahten sich ihm aber allerlei Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. 2 Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.3 Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: 4 Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet? 5 Und wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude. 6 Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. 7 Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.8 Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet? 9 Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte. 10 So, sage ich euch, wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.

Soweit die beiden Gleichnisse. Vielen von Ihnen werden sie gut vertraut sein und Sie werden sich deshalb fragen, was diese Geschichten mit Mathematik zu tun haben sollen. Schließlich sind das ja keine Textaufgaben, die man in Gleichungen umwandeln kann, sondern Gleichnisse.

Aber gemeinhin gehen wir an diese beiden Gleichnisse so selbstverständlich heran wie an eine Textaufgabe und lösen sie mit einer Art theologischen Dreisatz. Die Lösung lautet dann: „Der gute Hirte ist Gott, das Schaf ist der Mensch. Gott tut alles, um den Menschen zu finden und beide freuen sich, wenn seine Suche Erfolg hat!" Gleichnis gelöst, kann also abgehakt werden!

Aber, liebe Gemeinde, mit den Gleichnissen des Neuen Testamentes können wir nicht so verfahren wie mit einer mathematischen Rechenaufgabe.

Denn in diesen Gleichnissen steckt mehr als nur eine richtige Lösung. Probieren wir deswegen mal ein paar andere Ansätze aus:

Zum ersten muss man die Situation beachten, in die das Gleichnis hineingesprochen wurde. Jesus verteidigt sich gegen die Vorwürfe seiner Gegner. Die sagen: „Wie kann er sich nur mit Menschen abgeben, die gegen die Gebote Gottes verstoßen, die anderen schaden, die am Rand der Gesellschaft stehen!"

Und Jesus antwortet: „Stellt Euch vor, ein Hirte verliert ein Schaf, oder eine Witwe ein Teil ihres Vermögens - und findet es wieder! So groß wie deren Freude ist, so groß ist die Freude im Himmel über einen Menschen, der wieder auf den rechten Weg findet! Deswegen investiere ich meine Lebenszeit, meine Kraft für diese Menschen! Am Rand der Gesellschaft brauchen sie meine Nähe und meine Unterstützung doch viel mehr als die, die einen sicheren Stand haben und fest im Glauben gegründet sind. „Die Gesunden bedürfen keines Arztes, aber die Kranken!"

So gelesen sind der Hirte und die Witwe einfach nur ein Vergleich für dieses himmlische Glücksgefühl, das sich immer dann entfaltet, wenn Leben gelingt.

Für den zweiten Lösungsweg müssen wir die Tradition heranziehen, genauer gesagt: die traditionellen Gottesbilder, die den Zuhörern Jesus geläufig waren und uns bis heute geläufig sind. Der Hirte dient im Glauben als ein Bild für Gott. Viele Verse im Alten und Neuen Testament vergleichen seine Fürsorge mit der Fürsorge eines guten Schafhirten. Auf den Punkt bringt das der bekannte Psalm 23: „Der Herr ist mein Hirte!"

Mit dem Gleichnis vom verlorenen Schaf spitzt Jesus dieses traditionelle Gottesbild noch einmal zu. Er betont: „Gott geht es um jeden Einzelnen! So wie ein Hirte sich nicht mit 99 Schafen begnügt, wenn er das hundertste verloren hat, so lässt es auch Gott keine Ruhe, wenn er einen Menschen verloren weiß. Jeder ist es ihm wert, sich für ihn einzusetzen."

Dieser Gedanke war damals revolutionär, weil er die gesellschaftlichen Verhältnisse im römischen Weltreich mitsamt ihrem Wertesystem auf den Kopf stellte. Wer in Rom schon einmal auf den Spuren der Antike unterwegs war, der wird das bestätigen können.

Auf dem Palatin-Hügel finden sich die Reste des Audienzsaales der römischen Kaiser. Hoch oben thronte er über seine Untertanen. Und jeder, der als Bittsteller in diesen Saal trat, musste sich wie ein Zwerg, wie ein Nichts fühlen zwischen den riesigen Säulen und Statuen, von denen der große Zeh schon die Größe eines erwachsenen Menschen hatte.

Die Botschaft dieser Architektur war klar: Der Einzelne ist nichts im Vergleich zu der Macht des römischen Imperators.

Diese Abwertung des Individuums findet sich durch die Geschichte hindurch immer wieder. Immer wieder versuchen Diktaturen Menschen mit den Mitteln der Architektur oder durch Massenveranstaltungen klein zu halten.

Denken Sie nur an die Aufmärsche bei den Reichsparteitagen in Nürnberg. In einer Masse von 250.000 Menschen geht jegliche Individualität verloren. Der Einzelne zählt nichts, die Masse zählt alles. Jegliches Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein werden ausgeschaltet.

Dieser Ansatz funktioniert auch heute noch: die Aufmärsche in Nordkorea oder die Paraden in China verraten viel über das dortige Menschenbild, in dem der Einzelne von der Masse verschluckt und gleichgeschaltet wird.

Vor diesem Hintergrund erahnen wir den Wert der Botschaft Jesu: in Gottes Augen ist jeder Einzelne es wert, gesucht zu werden. Kein Aufwand ist zu groß, keine Mühe wird gescheut, um jedem Menschen deutlich zu machen: „Du bist wichtig! Gott kennt dich bei deinem Namen. Er will, dass du in seiner Nähe sicher leben kannst!"

In diesem letzten Gedanken klingt bereits der dritte Lösungsweg für die beiden Gleichnisse an: die Begegnung zwischen Gott und Mensch geschieht nicht in einer Einbahnstraße, in der der Mensch wartet, bis er gefunden wird und sich bis dahin keinen Millimeter bewegt. Der Mensch ist nicht passiv dargestellt, sondern muss selbst auch aktiv werden. Beide Gleichnisse reden schließlich am Ende vom Sünder, der umkehrt, vom Mensch, der Buße tut, vom Gläubigen, der sich im Grund selbst auf die Suche macht.

Das bedeutet: Für die Begegnung zwischen Gott und Mensch braucht es eine Bewegung aufeinander zu. Vielleicht können wir uns im Sinne dieses dritten Lösungsweges selbst mit dem Hirten oder der Witwe identifizieren und in ihnen Menschen entdecken, die sich auf die Suche machen - auf die Suche nach Gott, auf die Suche nach Sinn, auf die Suche nach Glück.

So wie die Witwe, die alles tut, um den Groschen wieder zu finden, sucht wohl jeder nach Erfüllung.

Dieser Lösungsweg scheint mir ebenfalls viel versprechend zu sein - vor allem, wenn man beachtet, dass der moderne Mensch ja immer wieder als „Mensch auf der Suche" beschrieben wird, als Glücks-Sucher?

Die Branche der Lebenshilfe- und Glücksliteratur boomt nicht ohne Grund. Ich muss gestehen, dass sich ebenfalls ein solches Exemplar in meinem Besitz befindet. „Glück kommt selten allein..." heißt das Buch von Eckart von Hirschhausen - das mit einigen klugen Gedanken und tiefgründig-heiteren Geschichten aufwartet und in den letzten Jahren zum Bestseller geworden ist.

In diesem Ratgeber bin ich auf einige interessante Tipps gestoßen, welchen Weg man einschlagen muss, um glücklich zu werden. Der Autor schreibt zum Beispiel „Wenn du wirklich was für dich tun willst, dann tu was für andere! Für das eigene Glück ist lieben zu können viel wichtiger, als geliebt zu werden!"

Ist das, liebe Gemeinde, nicht genau der Weg, den Jesus Christus uns zeigt! Erfüllung findest Du nicht, wenn Du immer nur schaust, was Du Dir selbst Gutes tun kannst. Erfüllung findest Du in Gemeinschaft, Erfüllung findest Du, wenn Du Dir überlegst: „Wo kann ich anderen Gutes tun!" Nicht im Sinn der totalen Selbstaufgabe, sondern im Bewusstsein: „Es macht mich stark, wenn ich mich für andere stark mache!"

Der Aufruf „Liebe Deine Nächsten wie Dich selbst!" ist sozusagen das Motto einer urchristlichen „Glücks-Bewegung". Wer diese Liebe entdeckt, der hat allen Grund zu jubeln und sich zu freuen, bei dem ist - um das Gleichnis von der Witwe noch einmal anklingen zu lassen - der Groschen gefallen.

Im Evangelium von Jesus Christus kann unsere Suche nach Sinn und nach Glück an ihr Ziel kommen, wenn wir ihn in Händen - besser noch - im Herzen haben. Wir finden unser Glück, wenn wir zu ihm umkehren und auf seinen Wegen gehen.

Auch diese Verheißung steckt für mich in den beiden Gleichnissen aus dem Lukasevangelium.
Somit haben wir Lösung A: die Gleichnisse erzählen uns von himmlischer Freude. Lösung B: Im Glauben geht es um mich persönlich. Gott interessiert sich für mich als Individuum. Lösung C: Ich kann und soll mein Leben in die Hand nehmen, auch im geistlichen Sinn. Drei Lösungen, die alle etwas Richtiges für sich haben.

Es lohnt sich also, wenn man die Geschichten der Bibel nicht nur nach Schema F liest. Denn anders als bei den Gleichungen der Mathematik, bei denen immer nur eine Lösung richtig ist, gibt es in den Gleichnissen Jesu viele Lösungen.

Wer sie darum genauer anschaut, wird manches finden, was sein Leben reich macht.

AMEN.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. AMEN!



Pfarrer Christoph Schieder
91608 Geslau


E-Mail: pfarramt.geslau@elkb.de

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