Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

4. Sonnntag nach Trinitatis, 17.07.2011

Predigt zu Lukas 6:36-42, verfasst von Michael Wagner Brautsch


Jedem ist schon einmal etwas ins Auge gekommen. Und wenn einem etwas ins Auge gekommen ist, dann muss man es sogleich wieder herausbekommen. In Hans Christian Andersens Erzählung von der „Schneekönigin" fällt dem kleinen Kay ein Splitter ins Herz, und der steigt dann auf und setzt sich im Auge fest, so dass er nicht mehr Gut von Böse unterscheiden kann und alles verkehrt sieht. So erzählt der große Märchendichter das Evangelium von heute.

Das Märchen beginnt so: „Der Teufel hatte einen Spiegel gemacht, der die Eigenschaft besaß, dass alles Gute und Schöne, was sich darin spiegelte, zusammenschrumpfte zu fast nichts. Das aber, was nichts taugte und sich übel ausnahm, trat hervor und wurde noch schlimmer. Die herrlichsten Landschaften sahen in ihm wie gekochter Spinat aus, und die besten Menschen wurden abscheulich oder standen auf dem Kopf ohne Rumpf. Die Gesichter waren so entstellt, dass sie nicht wiederzuerkennen waren, und selbst wenn man nur eine Sommersprosse hatte, konnte man sicher sein, dass sie sich über Nase und Mund ausbreitete. Nun glaubten der Teufel und all seine Geister, dass man erst jetzt wirklich sehen könnte, wie die Welt und die Menschen tatsächlich aussähen."

Ein Balken im Auge beeinträchtigt mich. Ich sehe die Welt in einer verzerrten Weise. Das Seltsame ist ja, dass man selber überhaupt nicht sehen kann, ob man etwas im Auge hat. Es ist einem zu nahe. Meine eigenen Fehler kann ich nicht sehen, obwohl sie mir direkt im Auge sitzen; die Fehler des Nächsten jedoch sind für mich völlig klar, und das sogar dann, wenn die Fehler des Nächsten bloß wie ein Splitter sind im Vergleich zu meinem eigenen Balken. Ich muss den Splitter aus meinem Herzen bekommen, sonst setzt er sich wie ein Balken in meinem Auge fest.

Und wie weit ragt solch ein Balken hervor? Weit über die Nase hinaus. Nicht weiter sehen zu können als bis zur eigenen Nasenspitze, ist ja nicht eine Frage der Kurz- oder Weitsichtigkeit, sondern der Engstirnigkeit. Und engstirnig ist jeder, der nur sich selbst und sein eigenes Leben zu sehen vermag.

Klar, der Splitter muss aus meinem Herzen und der Balken aus meinem Auge; jeder muss vor seiner eigenen Tür kehren, sodass man sich selbst lieben kann. Aber dies alles soll im Namen der Christenheit nur dem einen Zweck dienen: in der Lage zu sein, seinen Nächsten zu sehen. Den Menschen tatsächlich zu sehen, der vor dir steht. Den Arbeitskollegen, den Nachbarn, den Ehepartner, jeden, dem man zufällig auf der Straße begegnet.

Der Balken muss aus meinem Auge fort, sodass ich auch den Splitter im Auge meines Bruders sehen kann. Und nicht nur das: Ich soll meinem Bruder auch beim Herausziehen des Splitters helfen. Nachdem ich vor meiner eigenen Tür gekehrt habe, muss ich auch vor der Tür meines Nächsten kehren. Warum? Um meinem Nächsten seine Last abzunehmen. Bekomme ich etwas zurück? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Doch die Liebe - und sie ist es, die von uns gefordert ist im Umgang mit unseren Mitmenschen - fragt ja nicht, was dabei herausspringt, wenn sie handelt.

„Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles." So schreibt Paulus. Doch all das kann man nicht „sehen". Man kann die Liebe nicht sehen; nur die Früchte der Liebe. Da helfen keine stärkeren Brillengläser, wenn man die Liebe in einer Partnerschaft nicht im Blick hat oder die Freundlichkeit gegen die Nächsten. Man kann den Sinn in der Nächstenliebe nicht „sehen", man kann ihn nur „einsehen".

Oder genauer: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar", wie der Verfasser des „Kleinen Prinzen", Antoine de Saint-Exupéry, es ausdrückte. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar! Und darum ist es auch der Balken im Auge, der den Splitter ins Herz trägt. Wenn aber Splitter und Balken entfernt sind, wird man nicht nur sehen, so dass man den Kranken sieht und den Einsamen und den Verlassenen. Man wird nicht nur sehen können, sondern auch einsehen. Und dann kommt die große Bewährungsprobe für uns alle: Nachdem man gesehen und eingesehen hat, ist man dann auch in der Lage zu handeln?

Einsicht kommt nicht aus dem Vermögen zu sehen, sondern aus dem Willen zu glauben. Der Glaube freilich ist ein Gottesgeschenk, es anzunehmen ist unsere Möglichkeit. Glaube verleiht Einsicht, und Einsicht verleiht Weitblick. Und Weitblick ist möglich, sobald der Balken, der einem im Auge sitzt, entfernt ist. Wenn er weg ist, kann man handeln, d. h. lieben. Und auch die Liebe ist ein Gottesgeschenk.

Es mag sein, dass der Mensch einen freien Willen bekommen hat, man kann vielleicht sogar von einem aufgezwungenen freien Willen sprechen, die Wahl selbst können wir ja nicht abwählen. Wir können die entsprechende Verantwortung zurückweisen und unverantwortlich werden, und wir können das Handeln zurückweisen, das Verwandlung gewährt, und dem Leben in gleichgültiger Apathie seinen Lauf lassen. Aber auch das ist dann eine Wahl, die wir getroffen haben. Von Willen und Wahl kommen wir nicht los.

Doch der freie Wille ist zugleich völlig belanglos, wenn wir mit Jesu Bergpredigt konfrontiert sind (und der heutige Text stammt aus dem Abschnitt bei Lukas, der im Matthäusevangelium der Bergpredigt entspricht). Wie Luther sagt: „Du weißt wohl, dass dein freier Wille für den Feind keine Liebe aufbringen kann." Aus freiem Willen und Humanismus allein kann man seine Feinde nicht lieben. Die Liebe, derer es dazu bedarf, ist so groß, dass sie von anderswoher kommen muss. Und das ist gut zu wissen, wenn man in seiner Verzweiflung zu Gott schreit und zu den Menschen, dass das Leben zu hart ist mit all seinen Anforderungen von Liebe und Gerechtigkeit an mich.

Wir selbst können viel tun, um den Balken im Auge zu entfernen - die Vorurteile, Hass, Neid, Grausamkeiten und Lügen -, denn wenn wir den Weg geebnet haben für die Liebe, haben wir damit auch den Weg geebnet für Gott. Denn Gott ist Liebe, und so bekommt Gott Raum in uns, in der Liebe zu unserem Nächsten. Die große Liebe zum Nächsten, die von uns verlangt wird - Gott schenkt sie uns, wenn wir Gott Raum geben.

Aber wie kann es sein, dass es relativ leicht ist, die Forderung der Nächstenliebe zu verstehen, doch unglaublich schwer, danach zu leben? Das fragte mich einmal jemand. Und es ist ja auch absolut natürlich, so zu fragen. Der Mann ist Mitglied einer großen internationalen Loge in Dänemark, für die gerade das Gebot der Nächstenliebe ganz entscheidend ist.

Es ist nicht so schwer zu verstehen, dass wir auf gegenseitige Hilfe angewiesen sind hier im Leben, ob wir uns nun in einer Loge begegnen oder draußen in der Welt. Es ist nicht schwer zu verstehen, dass wir allein verletzlich und schwach sind, und dass die Liebe das Größte ist. Aber zwischen Einsehen und Handeln können Welten liegen.

Ein alter Witz, den einige wahrscheinlich kennen, erzählt genau das: Ein Kommunist wird gefragt, ob er das eine seiner Pferde der Gemeinschaft überlassen würde, wenn er zwei Pferde besäße. „Ja, selbstverständlich", antwortet er. „Und wenn Sie zwei Fernseher hätten, würden Sie einen davon der Gemeinschaft geben?", wird er weiter gefragt. „Ja, auf jeden Fall", antwortet er. „Und wenn Sie zwei Hemden hätten, würden Sie eines von ihnen der Gemeinschaft abtreten?" will der Fragende wissen. „Nein, das will ich nicht", antwortet der Kommunist. Überrascht fragt der Mann, warum er das nicht wolle, und erhält zur Antwort: „Weil ich zwei Hemden habe!"

Es ist leicht, das Pferd, das man nicht hat, den Armen zu geben, und es ist schwer, das Hemd herzugeben, das man hat. Es ist leicht, die Nothilfe zu kritisieren, wenn man selber nichts tut, und es ist schwer, jemanden ernst zu nehmen, der immerzu davon redet, dass man etwas tun müsse, aber selbst keinen Finger krümmt. „Denn was kann ich schon tun, ich bin ja nur ein kleines Steinchen im großen Spiel."

Wir haben unterschiedliche Gaben in die Wiege gelegt bekommen, und teilen wir von ihnen aus, so bekommen wir hundertfach zurück. Wenn wir über das Elend dieser Welt nicht hinauskommen zu können meinen, so liegt das vielleicht daran, dass wir nicht daran denken, genug von uns, auf uns und voneinander zu halten. Das ist vielleicht so, weil der Balken im Auge uns davon abhält.

Warum nur ist das so schwer? Im Glauben können wir unsere Nachbarn und Arbeitskollegen, unsere Ehepartner und Verwandten als die sehen, die sie in Wirklichkeit sind: unsere Mitgeschöpfe. Menschen, geschaffen von Gott, als Bruder und Schwester.

Sind das große Worte? Sind das zu große Worte? Nicht, mit den Augen des Glaubens gesehen. Sind wir befähigt, den Balken im Auge zu entfernen, sehen wir nicht bloß den Splitter im Auge des Nächsten, wir sehen den Nächsten selbst. Wir vermögen auf Christus zu sehen, und wir vermögen den Balken zu sehen, an den Christus genagelt wurde. Und ein Splitter vom Kreuz gibt uns vielleicht den Stich ins Herz, der bewirkt, dass wir uns hinwenden - nicht nur zu Gott, sondern auch zu unserem Nächsten. Denn unser Nächster ist immer der, für den wir Augen haben, wenn wir in der Liebe plötzlich fähig sind, klar zu sehen.

Amen



Pastor Michael Wagner Brautsch
Darum v/ Esbjerg
E-Mail: mwb@km.dk

(zurück zum Seitenanfang)