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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

7. Sonntag nach Trinitatis, 07.08.2011

Predigt zu Lukas 19:1-10, verfasst von Peter Fischer-Møller


            Zu sehen -
            weiß man im Ernst was das ist
            zu sehen?
            Bäume, Vögel, Gesichter auf der Straße in Straßenbahnen -
            heißt das: zu sehen?
            Alle Welt stellt sich auf.
            Es geht bloß darum, Fotos zu machen.
            Doch um zu sehen
            ist das Motiv auszuforschen
            wenn es sich nicht beobachtet fühlt.
            Ich lieg‘ auf den Knien vor meinem Schlüsselloch
            und siehe da:
            die Frau aus dem Vierten bleibt stehen und keucht -
            wer sonst als ich sah ihr Eingeständnis des Übergewichts?
            Der Postbote kratzt sich am Hintern just vor meiner Tür.
            Ein junger Mann wischt sich nervös die Hände am Ärmel
            wieder und wieder - es hilft nicht.
            Der Lebemann greift sich ans Herz mit starrem Blick,
            der Bettler grient triumphierend über den Abstieg,
            der Smarte sinkt in sich zusammen
            und der Schlaffe richtet sich auf,
            ich sehe, ich sehe
            zum ersten Mal,
            ich knie vor meinem kleinen Altar,
            meinem Schlüsselloch, durch das die Wahrheit
            bläst, kalt durch es hindurch -
            endlich kann ich atmen,
            endlich kann ich wirklich sehen, jetzt
            da niemand den Blick richtet auf mich.

So beschreibt der Dichter Benny Andersen in seinem Gedicht „Voyeur" den Zachäus von heute, den Mann, der gern sehen möchte, die anderen gern beobachten können möchte, einen Mann, der in seinem Versteck saß und hinausschaute - nicht durch ein Schlüsselloch, sondern zwischen den Blättern eines Maulbeerbaums hindurch, den Neugierigen, der die neugierigen Blicke der anderen selbst gern vermeiden möchte.

Mit Lukas' Erzählung von Zachäus, der oben im Baum sitzt und sich versteckt, werden wir an eine der allerersten Geschichten der Bibel erinnert, an den Paradiesmythos von Adam und Eva, die vom Baum der Erkenntnis aßen, dem Baum, von dem zu essen Gott ihnen verboten hatte. Und plötzlich konnten sie sehen, dass sie nackt waren. Sie schämten sich voreinander und machten sich Schurze aus Feigenblättern. Und als Gott durch den Garten ging, verbargen sie sich vor ihm im Gebüsch.

„Adam, wo bist du?", rief Gott. Schrecklich ist es für Adam, bloßgestellt zu werden, zur Rechenschaft gezogen zu werden für seine Taten. Und das erste, was er tut, ist denn auch, dass er versucht, die Verantwortung von sich selbst abzulenken und die Schuld auf Eva zu schieben, die sie ihrerseits auf die Schlange schiebt. Schrecklich ist es für Adam und Eva, aus dem Garten vertrieben zu werden in ein hartes Leben draußen, im Gebiet östlich von Eden. Und mit sich nehmen sie die Scham, gesehen worden zu sein, und das Bedürfnis, sich zu verbergen. Der Mythos von Adam und Eva ist eine der Kerngeschichten über das Menschsein, über das Erwachsenwerden.

Wir essen vom Baum der Erkenntnis, wir leben in einer Welt, in der Gut und Böse von Grund auf miteinander vermengt sind und in der es darum wirklich wichtig ist, Wissen zu erwerben, um unterscheiden zu lernen zwischen Gut und Böse. Wir lernen nicht nur für den Augenblick hier und jetzt, sondern um das Leben ab- und einzuschätzen; wir sind ein Teil von ihm und die Menschen, die uns umgeben. Wir gebrauchen unsere Augen nicht nur, um uns zu orientieren, sondern auch, um zu bewerten.

Und mit zunehmender Übung darin bemerken wir allmählich, dass die Dinge und Menschen nicht ohne weiteres das sind, als was sie sich vordergründig ausgeben. Wir nehmen uns heraus, andere zu beurteilen und zu bewerten, und wir erleben, dass die anderen uns ebenso beurteilen und bewerten. Wir bemerken ihre entblößenden Blicke. Und wir sehen uns selbst mit anderen Augen, wir sehen uns selbst mit den Augen der anderen. Wir erkennen Fehler und Schwächen. Wir fühlen uns nackt und verletzlich. Was denken die anderen von uns? Bestehen wir? Wir verbergen uns voreinander. Wir verbergen uns hinter guter Kleidung und geschönten Geschichten. Wir schämen und verbergen uns.

Vielleicht sagen Sie: So ist das gar nicht! Vielleicht war das in früheren Zeiten so, in einem streng religiösen Milieu, dass man in dieser Weise unterwegs war und Schuld und Scham empfand und Angst hatte vor den Blicken der anderen. Heute spielt doch eine ganz andere Musik. Vom Kindergarten an lernen wir, uns zu behaupten und in Szene zu setzen. Auch hier, in der Heimat des Jante-Gesetzes, ist es inzwischen in Ordnung, alles zur Schau zu stellen, was wir haben und sind und können. Und das ist völlig richtig. Bescheidenheit und Demut stehen nicht sonderlich hoch im Kurs zurzeit.

Aber heißt das auch, dass wir befreit sind von Scham? Ich bezweifle das. Ich glaube, wir haben nur neue Wege gefunden, uns zu verstecken. Wir verstecken uns hinter den schön geschnittenen Ligusterhecken und den Geschichten von gelungenen Urlaubsreisen und der harmonischen Familie und dem anspruchsvollen Job. Wir verbergen den unsicheren, verletzlichen Menschen, der in uns wohnt. Und wir fühlen uns schrecklich vorgeführt und bloßgestellt, wenn unser Leben einen Riss bekommt, wenn wir zusammenbrechen unter dem Stress bei der Arbeit, und das zinslose Darlehen kaum zurückgezahlt werden kann, wenn die Familie auseinanderbricht und sich herausstellt, dass das Lächeln auf den Urlaubsfotos bloß dem Fotografen geschuldet ist.

Wir versuchen das zu verbergen und es zu vergessen, indem wir stattdessen den Blick auf die anderen richten. Wir sitzen zusammen mit Benny Andersen hinterm Schlüsselloch und beobachten die Nachbarin, die zu dick geworden ist, und den Postboten, der sich unschicklich benimmt, den unsicheren jungen Mann mit den schwitzenden Händen und den Direktor mit den Herzproblemen. Wir nehmen uns heraus, zu urteilen und andere zu beurteilen, vielleicht in der Hoffnung zu entdecken, dass wir uns im Vergleich mit ihnen nicht gar so sehr zu schämen brauchen.

In dieser Perspektive komme ich jetzt wieder zur Geschichte von Zachäus.

Ein guter, sicherer Job und jede Menge Geld waren damals wie heute etwas, was jemandem normalerweise Status und Ansehen in der Gesellschaft garantierte. Zachäus hatte beides. Er war Oberzöllner und sehr reich, doch er war auch verachtet. Die Leute in Jericho sahen auf ihn herab, denn er verdiente sein dickes Geld in Zusammenarbeit mit der römischen Besatzungsmacht. Er war eine Art Landesverräter. So wurde er von den anderen in der Stadt angesehen und behandelt, als jemand, der von den Menschen abgeschrieben und von Gott verdammt war.

Vielleicht hatte der kleine Zachäus sich dessen geschämt, dass er so klein und unscheinbar war, vielleicht hatte er gehofft, durch seinen Reichtum Freunde zu gewinnen, um geachtet und respektiert zu werden. Aber das hatte nicht geklappt. Zachäus war zu einem einsamen und unerbittlichen Mann geworden.

So hätte der kleine Oberzöllner auch bis ans Ende seiner Tage leben können. Die Leute hätten bei seinem Tod nicht eine Träne geweint, und wir würden nie von ihm gehört haben. Aber Gott hatte andere Pläne mit Zachäus. Gott hat andere Pläne mit jedem nächst uns, als dass wir uns verlieren in unseren eigenen misslingenden Versuchen, unsere eigene Schmach zu bemänteln und die Fehler und Schwächen der anderen herauszustellen.

Jemand muss Zachäus von Jesus erzählt haben, von dem seltsamen Propheten aus Nazareth, der die verblüffendsten Geschichten über Gott erzählt hat, über Gott als einen Hirten, der seine 99 Schafe verlässt, um sich auf die Suche nach dem einen Schaf zu machen, das sich verlaufen hat, und der nicht aufgibt, bis er es gefunden hat. Von Gott als dem Vater, der seinen verlorenen Sohn mit offenen Armen aufnimmt. Ja, der Prophet aus Nazareth erzählte nicht nur solche Geschichten, er verkehrte auch mit solchen Menschen, die andere für hoffnungslos verloren hielten; die Kranken, die Alten, ja, selbst die Prostituierten der Stadt behandelte er mit Respekt als Mitmenschen, als Menschen Gottes.

Die Geschichten hatten Zachäus‘ Neugier geweckt. Vielleicht hatten sie an seinen Traum von einem Leben gerührt, das anders wäre als das Leben hinter den Geldsäcken. Jedenfalls hatte das Gerücht über den Mann aus Nazareth Zachäus aus seinem Versteck im Zollamt heraus und hinauf auf den Maulbeerbaum getrieben, wo er saß und sich zwischen den Blättern verbarg wie ein zweiter Adam.

Und es stellt sich heraus, dass es wahr ist, was er gehört hatte. Gott hatte wirklich ein Auge für die Verlorenen, nicht nur für das Schaf, dass sich in der Wildnis verirrt hatte, sondern auch für den kleinen Mann, der sich verirrt hatte in der Welt des Geldes und der Macht und sich hinsetzte wie ein Voyeur und die Volksmenge beobachtete und den seltsamen Propheten aus Nazareth, von dort oben, aus seinem Versteck im Maulbeerbaum heraus.

Es stimmte nicht, was die Leute sich in den Ecken Jerichos zugeflüstert und was sie dem kleinen Zachäus mit ihren Blicken zu verstehen gegeben hatten, wenn sie widerwillig ihre Steuern bezahlten: dass er rettungslos verloren war. Dass er nicht nur von den Menschen verachtet, sondern auch von Gott durchschaut und verurteilt war. Das stellte sich heraus, als Jesus am Fuß des großen Maulbeerbaums Halt macht. Und ihm zuruft: „Zachäus, beeil dich und komm herunter!"

Ich bin sicher, dass Zachäus ebenso entsetzt war wie Adam im Paradies, als Gott einst rief: „Adam, wo bist du?" Und die Menge, die sich um Jesus drängte und nun den kleinen Zöllner dort oben in seinem Versteck sah, wird gedacht haben: „Wenn Jesus wirklich ein Prophet ist, wenn er wirklich im Namen Gottes redet und handelt, dann bekommt die kleine Zecke von Zachäus jetzt endlich den Denkzettel, den er lange schon verdient hat!"

Aber dort unter dem Maulbeerbaum in Jericho geschieht eine andere Geschichte. Uns wird eine andere Erzählung über Gott und die Menschen zuteil als die alte vom Schöpfungsmorgen. Sie handelt nicht von Enthüllung und Vertreibung, sondern von Liebe und Gemeinschaft. Nur einen Augenblick währt des Zachäus Entsetzen über die Entdeckung. Dann sagt Jesus absolut Überraschendes zu dem kleinen, von Scham erfüllten Mann: „Heute muss ich Gast in deinem Hause sein."

Ein starker Ausdruck für Akzeptanz und Gemeinschaft allem zum Trotz: sich an einen Tisch zu setzen und zusammen zu essen. Und Zachäus kommt eilends herunter und empfängt ihn mit Freuden. Zum ersten Mal seit unvordenklichen Zeiten ist er als Mensch gesehen worden, als ein Mitmensch.

Jesu liebender Blick verwandelt alles für Zachäus. Er ist mit Freude erfüllt. Und die Freude strahlt auch auf seine Sicht auf die anderen Menschen in Jericho aus. Er entdeckt, dass sie nicht nur Steuerzahler sind und mögliche Quellen weiteren Reichtums für ihn, sondern dass sie vielmehr - obwohl sie ihm den Rücken gekehrt haben - auch Menschen sind, Mitmenschen, Menschen, die geschaffen und geliebt sind von Gott wie er selbst. Und das Geld, das bis zu diesem Moment sein Versteck und Schutzanzug war, von dem teilt er nun großzügig aus.

Ich bin sicher, dass Zachäus sich bis zu seinem Tod erinnert hat an diesen Tag im Maulbeerbaum in Jericho, den Tag, da er von Gott gefunden wurde; den Tag, da Gott sich selbst bei ihm einlud; den Tag, da das Leben nicht bloß etwas war, wovon Zachäus träumte oder was er von ferne betrachtete, sondern etwas, zu dem er mit eingeladen war.

Heute sind wir es, die eingeladen sind, die Rolle des Voyeurs und Beobachters aufzugeben. Heute sind wir es, die herzlich eingeladen sind, dabei zu sein, uns nicht länger zu schämen, den Platz im Versteck hinterm Schlüsselloch zu verlassen, an dem wir uns vor uns selber verstecken und die anderen beurteilen und verurteilen. Heute sind wir es, die eingeladen sind hinaus ins Leben, dorthin, wo wir nicht mehr Gegenmenschen sind für die anderen, sondern einander als Mitmenschen erkennen.

Ich möchte schließen, wie ich begonnen habe, mit Zeilen aus einem Gedicht von Benny Andersen, einem Widerhall des Evangeliums:

            Geist in meinem Herzen und dann zählen bis zehn,
            hören, wie es erwacht vor Freude.
            Zeig uns dein Antlitz, bevor alles aus ist,
            dann sind wir alle bereit.

Amen



Bischof Peter Fischer-Møller
Roskilde
E-Mail: pfm@km.de

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