Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

8. Sonntag nach Trinitatis, 14.08.2011

Predigt zu Matthäus 7:15-21, verfasst von Anders Kjærsig


Auf dem Areopag hielt der gelehrte Philosoph Nikolaj eine Rede über die Natur des Menschen. Er begann damit, dass er den berühmten Satz des Protagoras zitierte: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge." Dann führte er lang und breit aus, wie eine Gesellschaft zu organisieren sei, in der es möglichst vielen gut geht.

Rom, das römische Imperium, solle eine Republik sein, und die Macht solle vom Volk ausgehen. Bildungschancen sollten für alle bestehen mit Philosophie als Hauptfach. Das Kultur- und Geistesleben würde eine nie dagewesene Blütezeit erleben zum Wohle der Menschheit. Religion solle Privatsache sein ohne Anspruch auf öffentliche und politische Einmischung und nur legal im Rahmen der Pax Romana.

Letzteres begründete Nikolaj damit, dass der, der den Menschen am meisten liebt, notwendigerweise der Mensch selber sein müsse und nicht Gott, und wenn Rom für den Menschen das Beste sei, dürften keine religiösen Überzeugungen einen Schatten darauf werfen.

Während Nikolaj noch sprach, erhob sich plötzlich ein alter, abgerissener Mann, unterbrach ihn und sagte: Mein Name ist Leonard, und ich weiß, Gott ist voller Liebe. Er liebt mich und beschützt mich und ist mit mir, wohin ich auch gehe. Er hat mir seinen Sohn gegeben, einen Menschen wie ich, einen Ausgestoßenen, der die Ausgestoßenen annimmt. Ihm folge ich und nicht der Pax Romana. „Mit ihm leide ich, um auch mit ihm verherrlicht zu werden" (Röm. 8,17).

Die Römer und die Juden verspotteten ihn, marterten ihn und peitschten ihn aus, sie schlugen Nägel durch seine Hände und Füße, dass das Blut floss; denn er liebte Gott und die Menschen nicht so, wie sie es taten. Bevor er starb, sagte er zu dem Verbrecher am Kreuz neben ihm: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein." Der Verbrecher könnte ich sein.

Dann gab er seinen Geist auf, und im selben Augenblick erbebte die Erde und der Vorhang zum Allerheiligsten zerriss in zwei Stücke. Alles rannte davon, Entsetzen, Panik. Die wenigsten verstanden, dass mit diesem Mann das Reich Gottes angebrochen war in einer Welt der Gewalt und Ausbeutung, der Angst und der Furcht. Lahme gingen und Blinde sahen, und die Tauben hörten und die Aussätzigen wurden rein; die Dämonen heulten erschrocken auf, stürmten hinunter in den See und ertränkten sich, die feigen Schweine.

Leonard machte eine kleine Pause, und Nikolaj ergriff wieder das Wort, ein wenig schockiert von der Bestimmtheit, mit der er gesprochen hatte, aber immer noch interessiert an einem Dialog:

Lieber Leonard, ich bin ja froh darüber, dass du etwas gefunden hast, das deinem Leben Sinn gibt. Aber es geht doch auf dein Konto, wen du als Herrn anrufst. In Rom sind nicht alle Christen. Es gibt Stoiker, Epikureer, Kyniker, Juden und Mysterienkulte: Attis, Isis und Mithras. Christus ist nicht die einzige Wahrheit. Er ist nur einer unter vielen und steht im Hinblick auf die Pax Romana unter ihrem Vorbehalt.

Da ergriff Leonard erneut das Wort: Keine Weltenordnung und keines Menschen Vision ist stärker als Christus. Keine Prophezeiung und kein Prophet kann die Toten auferwecken und den Menschen den Mut geben, in einer Welt zu leben, die kein Ende hat. Keine Philosophie oder politische Idee erfasst auch nur einen Bruchteil dieser Wahrheit. „Der, der Herr ist über Himmel und Erde, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind" (Acta 17,24). Er umschließt alles, auf jede noch so kleine Zelle im menschlichen Körper hat er Acht. Er ist des Menschen Gott, denn er als Gott wurde Mensch.

Zu ihm bete ich, Unserem Vater, Unserem Herrn, Unserem König, Unserem Erlöser. Und nicht ins All oder zum Universum, zum Kosmos, zum Urfeuer, dem Ersten, dem Größten, dem Einen und Ganzen. Das alles sind Abstraktionen, Hirngespinste, fernab vom realen Leid, körper- und seelenlos. Sie sind wie Steintafeln und schriftlich fixierte Formeln aus toten Buchstaben, weltfremd, ohne Hoffnung und Träume.

Nikolaj fällt ihm sofort ins Wort, ein wenig aggressiv: Die Bibel besteht wahrscheinlich genauso sehr aus toten Buchstaben wie alle möglichen anderen Bücher und Abhandlungen auch. Und sie ist, soweit ich weiß, nicht weniger weltfremd. Die Auferstehung, das ewige Leben, die Endzeit, Offenbarungen, Dämonenaustreibungen, Heilungen und jedwede Zeichen kommen mir eher noch weltfremder vor. Und was das Blut und das Leid und den Tod angeht, so ist das Thema jedem Autor vertraut, ob er nun eine Dogmatik oder eine Philosophie oder eine Ethik schreibt.

Andersherum, ich möchte ich behaupten, dass eine Ethik und ein Menschenbild, das keinen Gott braucht, weder seinen Sohn noch seinen Geist noch sein Wort, bei weitem realistischer ist als das diesbezügliche Bild der Evangelisten.

Leonard entgegnet ruhig: Du sollst nicht nur die anderen lieben wie dich selbst. Du sollst die anderen mehr lieben, als du dich selbst liebst. Du sollst deine Feinde lieben, deinen Gegner, deinen Rivalen, du sollst den lieben, der dir flucht und dich hasst. Fällt dein philosophisches System in sich zusammen, sollst du die lieben, die seinen Fall verursacht haben; stürzt deine politische Idee ein, sollst du dennoch den Menschen lieben, der sie verriet; wird deine Ethik hinfällig, sollst du die lieben, die sie zu Fall brachten und sie übertraten.

Wenn die Leute den Balken in deinem Auge sehen, sollst du den Splitter sehen in ihrem. Du sollst ihnen vergeben, geduldig sein mit ihnen, die andere Wange hinhalten, wenn sie dich auf die eine schlagen. Wenn sie dich verurteilen, sollst du nicht über sie urteilen. Du sollst langmütig und nachsichtig sein, Verfolgung und Not ertragen und dennoch und trotz alledem lieben.

Lieber Nikolaj, kannst du das niederschreiben in einem Buch und in eine Formel gießen für dein menschliches Verhalten und, wohlgemerkt, dein Leben auch danach führen? Kannst du eine Realität beschreiben, die das Unvorhersehbare in Rechnung stellt, das der Begegnung mit anderen Menschen eigen ist? Ich glaube nicht!

Jede Philosophie, Ethik und Politik ist doch bloß ein verkrampfter Versuch, sich einem System anzunähern, auf eine zwischenmenschliche Praxis hin orientiert, die, gleichgültig wie groß und großartig es ist, doch niemals die Radikalität überholt, die Spannung und die Erschütterung, die die Evangelien enthalten. Hier wird man aufgescheucht, weil man nicht genug lieben kann und sich nicht dadurch entschuldigen, dass man sich selbst und seine Ideen in Abhandlungen verpackt.

Gottes Wort nämlich hält das Blut in Wallung, so dass wir nicht vor Systemen und Ideen in die Knie gehen, sondern alles stets einen Spalt breit zum anderen Menschen hin offen halten, wie eine Wunde, die wir nie heilen können. Wir können darauf vertrauen, dass Gott unser Tun zu Früchten eines guten Weinstocks werden lässt, aber wir können den Stock nicht pflanzen und ihn nicht zum Wachsen bringen.

Nikolaj: Man muss doch nicht Gott ins Spiel bringen als einen Mittler in den menschlichen Verhältnissen. Warum nicht die Menschen miteinander umgehen lassen, aus sich selbst heraus und ohne Gott? Warum nicht eine Gesellschaft einrichten, in der wir uns das aus der Bibel zunutze machen, was vorteilhaft ist im zwischenmenschlichen Verhalten, und alles Sonstige streichen?

Leonard: Der Glaube an Gott ist die Erfahrung, geliebt zu sein. Diese Erfahrung bringt ein Tun hervor, das dem Nächsten zum Besten dient. Man soll nicht rufen „Herr, Herr!", sondern nur „den Willen tun meines Vaters im Himmel" (Matth. 7,21).

Nikolaj: Möglich, mag sein. Aber dazu ein anderes Mal. Jetzt will ich mit meiner Rede fortfahren. Ob du glaubst, was ich sage, liegt an dir. Sei du nur stille.

Leonard: Amen.



Pastor Anders Kjærsig
Årslev
E-Mail: ankj@km.dk

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