Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 28.08.2011

Predigt zu Deuteronomium 5:5-9, verfasst von Barbara Manterfeld-Wormit

 

Siehe, ich lehre euch die Bestimmungen und Rechtssätze,

wie sie der Lebendige, mein Gott, mir geboten hat.

Handelt nach ihnen dort im Lande, in das ihr zieht, es in Besitz zu nehmen.

So haltet sie nun und vollzieht sie,

 

Durch sie wird eure Weisheit und Einsicht erkennbar in den Augen der Völker;

wenn sie diese Rechtssätze wahrnehmen.

Sie werden sagen: Einzigartig! Was für ein kluges, einsichtiges und großes Volk!

Ja, welch großes Volk hat Gottheiten, die in seiner Mitte sind, wie der Lebendige, unser Gott, uns nahe ist, in allem, jederzeit, wenn wir zu ihm rufen!

Welch großes Volk hat solche gerechten Bestimmungen und Rechtssätze wie diese ganze Tora, welche ich euch heute übergebe?

Doch sei achtsam, bewahre sorgfältig dein Leben, damit du nicht vergisst, was Augen gesehen haben; lass es dir Zeit deines Lebens nicht aus dem Sinn kommen!

Lehre, bringe sie zur Kenntnis deinen Kindern und Enkelkindern.

 

Es ist Wahlkampf in Berlin. Das ist nicht zu übersehen: An jedem Laternenpfahl hängen sie neben- und übereinander: Abgeordnete und Spitzenkandidaten, die einen von den Wahlplakaten herab anlächeln. Die Botschaften dieser Plakate sind mal seicht und nichtssagend, mal reißerisch und provokant, selten witzig und oft gegensätzlich: Da wirbt die NPD mit „Recht und Ordnung" - die Piratenpartei dagegen mit dem Slogan „Ich will so leben, wie ich bin!"

Hätte es damals in der Wüste so etwas wie einen Wahlkampf gegeben - die Israeliten wären auf ihrer Wanderung ins gelobte Land wohl am Konterfei des Mose vorbeigezogen. Als Wahlslogan hätte sich geeignet: „Die Zukunft ist sein Land" oder: „Mit 10 Geboten zu mehr Sicherheit und Wohlstand." Die Gegenpartei hätte mit einem Bildnis des Goldenen Kalbs geworben, dazu der Slogan: „40 Jahre Wüste sind genug!" oder „Gold statt Gott!" Wo heute Renate Künast sich inmitten von einer Kinderschar ablichten lässt und der Betrachter des Bildes darauf den vielsagenden Satz liest: „Renate sorgt!", da hätte man damals in Stein gemeißelt: „Mose sorgt!"

Mose sorgt in der Tat für sein Volk. Er, der selbst nicht mehr dabei sein wird, wenn Israel endlich nach vier Jahrzehnten in das gelobte Land zieht, trägt Sorge dafür, wie es weiter geht, wenn er nicht mehr da ist. Er schwört die Seinen ein auf unbedingte Treue gegenüber Gott und Gottes Geboten. Sie sind der gemeinsame Nenner, das, was die Gemeinschaft zusammenhält. Ohne Gottes Gebote, ohne die Tora und deren Einhaltung, würde Israel sich verlieren im Lande Kanaan, wo andere Gesetze gelten. Mose weiß das. Die Menschen würden wieder im Chaos landen. Schon einmal war das so, als Mose damals das erste Mal auf den Berg Sinai stieg, um die Gesetzestafeln in Empfang zu nehmen. Bei seiner Rückkehr tanzten die Israeliten um das Goldene Kalb, statt ihn zu erwarten. Sie hatten ihn vergessen. Ihren Glauben an Gott hatten sie verloren. Das, da ist sich Mose sicher, darf nicht wieder passieren. Alles, nur kein Chaos! So mag sich der große Prophet damals gedacht haben.

Wie schnell das gehen kann, sehen wir in diesen Tagen häufig: Da bricht in Großbritanniens Hauptstadt, die vor gar nicht langer Zeit noch durch eine königliche Märchenhochzeit auf sich aufmerksam machte, plötzlich Anarchie auf der Strasse aus. Läden werden geplündert, Autos und Häuser brennen, Menschen werden getötet. Auf den Strassen herrscht Chaos. Der Kitt, der die Gesellschaft bislang zusammengehalten hat, zerspringt. Die Situation gerät außer Kontrolle.

In Libyen lehnen sich große Teile der Bevölkerung auf gegen einen Führer, der längst schon nicht mehr ihre Werte, sondern nur die eigenen vertritt. Das Bündnis zwischen Volk und Herrschenden ist gebrochen. Krieg auf der Strasse.

Und auch hierzulande herrscht Unsicherheit: Europa steckt mitten in einer Zerreißprobe: Welche Rechtssätze sind bindend für alle? Wer gibt den Ton an in der Schuldenkrise? Wem folgen? Und schon geht es uns nicht anders, als den Israeliten in der Wüste damals vor mehr als 3000 Jahren: Murren, Unsicherheit und über allem die Frage: War es früher nicht doch besser, als jeder seine gute, eigene Währung hatte - war es nicht besser damals bei den Fleischtöpfen in Ägypten?!

Was hält uns also zusammen - als Menschen dieser Welt, als Menschen in Europa, als Bewohner dieser Stadt, als Menschen einer Gemeinde? Wer oder was leitet uns sicher und verlässlich nicht nur durch Zeit, sondern Ewigkeit?

In Stein gehauene Worte des Lebendigen, so lautet die Antwort des Predigttextes. Sie müssen wir zu Leben erwecken durch unser Handeln und Tun, denn sie bewahren und schenken Leben, Frieden, Wohlstand, Glück. Sie machen aus einem Haufen unterschiedlicher Menschen ein Volk, das zusammenhält und Zukunft hat. Sie machen aus verzweifelten, hoffnungslosen, zornigen Männern und Frauen eine Gemeinschaft, die nach innen und außen strahlt. Ein Volk mit Vorbildfunktion: Einzigartig! Was für ein kluges, einsichtiges und großes Volk!

Schön, wenn es so einfach wäre, wenn es das gäbe, dieses Vorzeigevolk, das uns vormacht, wie wir alle Probleme unseres Zusammenlebens lösen können! Doch es gibt kein solches Mustervolk. Kein Land, das nicht genug Probleme hat, keine Stadt, die vor Terror und Gefahr wirklich sicher ist, kein Volk, das nicht droht durch soziale oder kulturelle Spannungen zerrissen zu werden.

Doch es gibt diese Gebote oder Rechtssätze oder Lebensregeln, wie sie auch gern genannt werden: das „ABC des Menschenbenehmens", so der große Schriftsteller Thomas Mann. Wir können dieses ABC durchbuchstabieren bis heute und müssen es immer wieder tun, wenn wir inmitten der Verschiedenheit als Menschen doch eins sein wollen:

Du sollst nicht begehren, was Deinem Nächsten gehört - keine Plünderung, keine Anarchie auf der Strasse!

Du sollst nicht töten! Nicht in Oslo oder auf Libyens Strassen, nicht im Namen eines Gottes oder Führers.

Kein falsches Zeugnis - auch nicht im Wahlkampf, wo der Zweck nur allzu gern die Mittel heiligt.

Du sollst den Feiertag heiligen, sonst säßen wir heute nicht hier in dieser Kirche, um gemeinsam Gottesdienst zu feiern und untereinander Gemeinschaft zu haben.

Ich bin der HERR, dein Gott, du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Dieser Glaube an den einen Gott verbindet uns mit Gottes auserwähltem Volk Israel. Was damals am Sinai geschah, war kein leeres Wahlversprechen - Gottes Liebe zu seinem Volk gilt bis heute. Im Glauben an Jesus Christus gilt sie auch uns und unseren Kindern und Enkelkindern. Grund genug, weiter das ABC des Menschenbenehmens buchstabieren zu lernen und einzuüben. Damit wir auch in Krisenzeiten nicht auseinanderfallen.



Pfarrerin Barbara Manterfeld-Wormit
12249 Berlin
E-Mail: pfarrerin@bonhoeffergemeinde.de

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