Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

11. Sonntag nach Trinitatis, 04.09.2011

Predigt zu Matthäus 21:28a-31a, verfasst von Rainer Stahl

 

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen!"

Liebe Gemeinde,

der Predigttext gibt uns ein Gleichnis Christi auf, das so reich ist, dass es sich lohnt, es direkt zu befragen und zu verstehen, also nur dieses Gleichnis in den Blick zu nehmen:

„Es hatte ein Mann zwei Söhne und ging zu dem ersten und sprach:

Mein Sohn, geh hin und arbeite heute im Weinberg.

Er antwortete aber und sprach:

Nein, ich will nicht.

Danach reute es ihn, und er ging hin.

Und der Vater ging zum zweiten Sohn und sagte dasselbe.

Der aber antwortete und sprach:

Ja, Herr! und ging nicht hin.

Wer von den beiden hat des Vaters Willen getan?

Sie antworteten: Der erste."

Und so will ich heute gerade dieses Gleichnis mit Euch zusammen bedenken. Dazu möchte ich es auseinander nehmen - die beiden Ebenen je für sich betrachten: die Ebene der Antwort, der Rede der Söhne und die Ebene ihres Handelns.

Christus zeigt uns tiefe Menschenkenntnis und beurteilt unser Verhalten ganz überraschend. Diese zwei Söhne sind in ihrer Beziehung zum Vater Beispiele für grundlegend verschiedene Charakterhaltungen.

Der eine ist dem Vater, ist dem Vorgesetzten, ist der Autorität - die kann auch von einer Frau ausgehen -, ist der Anforderung gegenüber sofort „hörig": „Ja. Ich mache es." Seine eigenen Interessen bringt er gar nicht zur Sprache. Seine Planungen wagt er nicht auszusprechen und vorzubringen. Er sagt sofort: „Ja, ich mache das." Ganz hörig dem Willen des Vorgesetzten gegenüber.

Der andere ist da von ganz anderem Kaliber, aus anderem Holz geschnitzt. Er wagt, „Nein" zu sagen. Er weist die Forderung zurück. Er sagt: „Ich habe eigene Pläne. Deine Aufforderung passt mir nicht in den Kram."

Dieser zweite hat eine ganz andere Persönlichkeit herausgebildet. Er kapituliert nicht sofort vor jeder Anforderung. Er streitet für sein Recht, auch für sich da zu sein, nicht nur immer für die anderen. Er rettet sich selbst - aus dem Geflecht der Erwartungen und Anforderungen, die an ihn, die an uns alle dauernd gestellt werden.

Mir ist eine Szene aus meiner Kindheit eingefallen. Sie entspricht nicht eins zu eins diesem Gleichnis, aber doch der Problemlage, die Christus erzählt: Zu Hause, vielleicht Ende der Fünfziger Jahre, essen wir zu Mittag - mein Bruder, ich und Vati und Mutti. Unsere Mutter hat wie jeden Tag ein Mittagessen zubereitet, was in der DDR Ende der Fünfziger Jahre wahrlich nicht einfach war. Außerdem folgte mein Vater - geprägt vom Krieg und der Nachkriegszeit und ihrer Not - dem Grundsatz: „Was auf den Tisch kommt, wird gegessen." Ich weiß nicht mehr, was Mutti gekocht hatte. Aber uns beiden schmeckte das Essen nicht. Wir kriegten es nur mit Mühe herunter. Mein Bruder sagte: „Nein, das esse ich nicht." Ich quälte mir das Mittagessen mit Todesverachtung hinein. Da platzte Vati der Geduldsfaden, und er schickte meinen Bruder mit seinem Teller hinaus in einen anderen Raum der Wohnung. Als wir fertig waren, bin ich zu meinem Bruder gegangen - und er saß immer noch vor dem nicht angerührten Essen. Das hat mich beeindruckt. Dieser Mut, zum eigenen „Nein" zu stehen!

Christus hat auch die Freiheit zu eigener Selbständigkeit und Eigenständigkeit anerkannt. Er sagt im selben Evangelium: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" - und zitiert nur seine eigene Bibel (3. Mose 19). Also zuerst einmal sich selbst lieben - das ist nötig. Ohne das ist Einsatz für andere gar nicht möglich!

Meine erste Erkenntnis: Wenn Christus nur die Worte der beiden Brüder berichtet hätte, dann hätte er auch den ersten gelobt, den nämlich, der „Nein" sagt. Denn er steht zu sich, er liebt erst einmal sich: „Ich habe meine eigenen Interessen, meine eigenen Bedürfnisse. Ich darf als Person nicht verloren gehen. Ich kann jetzt nicht einfach diese Anforderung erfüllen." Und das dürfen wir sagen, so dürfen wir reagieren!

Ich füge noch eine ganz persönliche Bemerkung hinzu: Ich selbst bin oft wie dieser erste Sohn. Vielleicht auch wegen des erzählten Erlebnisses in meiner Familie: Wenn noch eine Anforderung an mich gerichtet wird - und noch eine, dann sage ich oft zuerst: „Nein." Und das dürfen wir sagen, so dürfen wir reagieren.

Nun kommt aber noch der zweite Schritt - liebe Gemeinde: Beide Söhne bleiben nicht bei ihrer mündlichen Reaktion stehen. Beide handeln auch. Und beide handeln anders, als sie mündlich reagiert hatten.

Der Ja-Sager, der vordergründig den Anforderungen der Autorität zu entsprechen vorgibt, tut am Ende das Erwartete nicht, tut anderes, der drückt sich beiseite, der verdrängt die Anforderung wie Schüler Hausaufgaben verdrängen. Dieser Mensch ist in seiner eigenen Person noch nicht wirklich entwickelt und noch nicht ausgebildet. Er hat noch nicht verstanden, was Verantwortung ist. Gerade auch Verantwortung vor den eigenen Worten, vor der eigenen Rede, Verantwortung sich selbst gegenüber. Der steht nicht zu sich selbst. Der laviert sich durchs Leben - immer so, wie es am einfachsten und günstigsten scheint:

Den Erwartungen entsprechend reden.

Den Möglichkeiten entsprechend sich verhalten und handeln.

„Abducken" sagt man - glaube ich - beim Militär dazu. Mit geputzten Schuhen im zweiten Glied stehen. Sich durchlavieren.

Wir müssen hier auch genau auf die sprachliche Konstruktion der Geschichte achten. Beim zweiten Sohn heißt es einfach: „Ja, Herr! und ging nicht hin." Zwischen seiner Antwort und seinem Verhalten gibt es keine Entwicklung, keine Entscheidung, keinen Wandel. Bei ihm steht dieses Beide einfach gegensätzlich nebeneinander. Wie bei einem unfertigen und unreifen Menschen.

Der Nein-Sager - der geht einen Weg! Er wandelt sich. Er arbeitet innerlich und trifft eine neue Entscheidung. Zu ihm heißt es ausdrücklich: „Dann aber Reue empfindend, dann aber sich anders besinnend, ging er doch in den Weinberg." Sein „Nein" hat in ihm gearbeitet. Er hat es verglichen mit den Bildern, die er von sich hat, und mit den Bildern, die sein Vater / seine Vorgesetzte von ihm hat. Er hat seine Lebensangst reflektiert, die hinter seinem „Nein" stand. Er hat erkannt: Ich verliere mich doch nicht, wenn ich diese Anforderung erfülle. Ja, ich kann mich sogar neu gewinnen, indem ich diese Aufgabe in Angriff nehme. Denn meine Zeit und mein Leben werden dadurch sinnvoll und reich. Ich habe etwas für andere getan und mich selbst dabei gewonnen!

Es ist doch dieses Geheimnis, das hinter seiner Umkehr, hinter seiner neuen Orientierung steht: Was er für Verlust ansah - Stunden im Weinberg zu arbeiten -, das ist vielmehr ein Lebensangebot. Eine Chance, sinnvoll zu existieren. - Das ist unsere zweite Erkenntnis!

Ich sagte, dass ich selbst immer wieder zuerst „Nein" sage. Und dann mache ich oft - aber nicht immer! - die Beobachtung, dass ich die zuerst abgelehnte Anforderung doch erfüllen kann und dabei sogar noch mir selbst Gutes tue.

Uns selbst dabei Gutes tun. - Das ist möglich. Das ist der Segen Gottes, der über solchem Sich-neu-Besinnen und anders Handeln liegt!

Noch ein dritter, ein kurzer Schritt - liebe Gemeinde: Alles bisher Gesagte muss ich nicht wiederholen. Das gilt nun auch für diesen dritten Schritt und also auch für die neue Beziehung, die auf diesem Schritt deutlich wird. Denn in unserem Gleichnis steckt ein Sinn, für den das alles bisher Gesagte vor allem und eigentlich gilt:

Es geht um einen Vater! Dieser Vater ist Bild für Gott, sind wir alle doch Töchter und Söhne Gottes, Gottes Kinder. Es geht nicht nur um Autoritäten in der Welt. Es geht um die letzte Autorität, um Gott, vor dem wir unser Leben zu bewältigen haben.

Und es geht um die Arbeit in einem Weinberg. Dieser Weinberg ist Bild für die Kirche. Es geht um den Dienst am Evangelium. Um die Verkündigung der Frohen Botschaft. Um das Angebot der Liebe Gottes anderen gegenüber.

Ich darf noch einmal das andere Christuswort aufnehmen: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst." Selbstliebe ist notwendig, ist die Voraussetzung. Genauso notwendig ist es aber, über die Selbstliebe hinauszufinden zur Liebe zu anderen, zum Einsatz für die Nächsten, zum Einsatz in unserem Umfeld im Sinne des Christus. Das heißt es nämlich, im Weinberg zu arbeiten!

Wir wollen diese Wahrheit jetzt mit dem Lied zu dieser Predigt selber nachsprechen, das heißt: nachsingen und uns in diese große Wahrheit einüben:

„So jemand spricht: ‚Ich liebe Gott',

und hasst doch seine Brüder,

der treibt mit Gottes Wahrheit Spott

und reißt sie ganz darnieder...

 

Wer dieser Erde Güter hat,

und sieht die Brüder leiden

und macht die Hungrigen nicht satt ...

der ist ein Feind der ersten Pflicht

und hat die Liebe Gottes nicht.

 

Wir haben einen Gott und Herrn,

sind eines Leibes Glieder,

drum diene deinem Nächsten gern,

denn wir sind alle Brüder..."

Amen.

„Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn."

 



Generalsekretär Dr. Rainer Stahl
91054 Erlangen
E-Mail: rs@martin-luther-bund.de

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