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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

11. Sonntag nach Trinitatis, 04.09.2011

Predigt zu Matthäus 21:28-32, verfasst von Güntzel Schmidt

 

Jesus spricht zu den Hohenpriestern und Ältesten des Volkes:
28 Was meint ihr dazu? Ein Mensch hatte zwei Söhne. Und er trat an den ersten heran und bat ihn: Kind, geh und arbeite heute im Weinberg!
29 Er aber antwortete: Ich will nicht. Aber später bereute er es und ging hin.
30 Darauf trat er an den zweiten heran und bat ihn in gleicher Weise. Der antwortete: Bin zur Stelle, Chef!, ging aber nicht hin.
31 Wer von den beiden erfüllte den Willen seines Vaters? Sie antworten: Der erste! Darauf Jesus zu ihnen: Amen, ich sage euch: Die Zöllner und die Prostituierten gehen euch voran in das Reich Gottes.
32 Denn Johannes kam zu euch auf dem Weg der Gerechtigkeit, aber ihr habt ihm nicht geglaubt, während die Zöllner und die Prostituierten ihm glaubten. Ihr aber, obwohl ihr Zeuge dessen wurdet, habt es nicht bereut, dass ihr danach ihm geglaubt hättet.

 

Liebe Gemeinde,

„je ne regrette rien" -  „ich bereue nichts", singt Edith Piaf ihr berühmtes Lied.
Hier hält kein verbohrter, starrsinniger Holzkopf an seinem Standpunkt fest.
Hier spricht ein Mensch, der viel Schönes, aber auch viel Schweres erlebt hat, und der dennoch im Rückblick auf sein Leben feststellen kann: je ne regrette rien, ich bereue nichts. Denn da war ja die Liebe.

Beneidenswert, wer so mit seinem Leben einverstanden ist, dass er nichts bereut.
Wem gelingt schon solch eine Haltung?
Normalerweise macht man sich regelmäßig Gedanken über seine Entschlüsse: War das richtig? Oder hätte ich anders handeln, mich anders entscheiden sollen? Gut, wer sich selbst hinterfragt, jede Entscheidung, jeden Schritt kritisch überprüft. Man muss schon ein verbohrter, starrsinniger Holzkopf sein, wenn sich nach einem Fehler nicht ein Gefühl der Reue einstellt.

Die Reue, kleine Schwester der Buße, ist allen wohl vertraut. Wer einen Fehler macht, von dem erwartet man, dass er ihn bereut und das auch zeigt; dann ist man bereit, ihm zu vergeben. Reue ist etwas Positives, ist gesellschaftlich anerkannt. Wer bereut, kann also nichts falsch machen - das Malheur ist ja schon passiert ...

So ein gutes Image hatte die Reue nicht immer. In der Antike, zur Zeit des griechischen Philosophen Aristoteles, hätte jeder im Brustton der Überzeugung in das Lied „je ne regrette rien" eingestimmt. Da hätte man sich geschämt zu gestehen, dass man etwas bereut. Reue galt als unverzeihliche Schwäche, weil sie offenbarte, dass man offensichtlich vorher nicht gründlich nachgedacht hatte. Oder dass man sich wohl vor den Folgen seines Handelns drücken wollte.

I
Um Reue geht es in dem Gleichnis, das Jesus erzählt.
Von zwei Söhnen ist da die Rede, und keiner der beiden ist besonders sympathisch. Der erste nicht, weil er seinem Vater die Bitte rundweg abschlägt. Und der zweite auch nicht, weil er übereifrig zusagt, sich dann aber drückt.
Von denen möchte man wohl keinen zum Freund haben - dabei stehen uns beide ziemlich nahe. Wir waren, wir sind ja selbst so. Ob Sohn oder Tochter - wenn wir unser Zimmer auf- oder den Tisch abräumen sollten, den Rasen mähen oder den Müll rausbringen, war oder ist auch unsere Antwort oft „Ich will nicht!". Jedenfalls, wenn wir gute Eltern haben. Bei ihnen können wir es wagen, ihnen eine Bitte rundweg abzuschlagen. Es gibt anschließend zwar Streit, es wird mit Konsequenzen gedroht. Aber irgendwie kommt man um die ungeliebte Arbeit herum.
Anders sieht es aus, wenn die Bitte als Befehl gäußert und verstanden wird. Wenn die Folgen einer Ablehnung so brutal sind, dass man sich lieber beeilt, sie zu erfüllen. Dann bleibt einem höchstens, devot „bin zur Stelle, Chef!" zu rufen und sich anschließend so unauffällig wie möglich zu verdrücken - in der Hoffnung, dass sich die Arbeit von selbst erledigt oder der Zorn bis zum Abend verraucht ist.

Zwei Söhne - zwei Menschentypen:
Der Nein-Sager, der seinem Vater die Bitte rundheraus ausschlägt.
Und der Ja-Sager, der einem Streit aus dem Wege geht.
Der widerborstige Nein-Sager hat keine Angst vor seinem Vater. Er liebt ihn, deshalb kann er auch Reue empfinden, als er sieht, dass sein Vater seine Bitte nicht ohne Grund äußerte: Er braucht seine Hilfe. Die kann und will ihm sein Sohn nicht ausschlagen.
Anders der unterwürfige Ja-Sager: Er fürchtet den Vater, fürchtet die Folgen einer Befehlsverweigerung, fürchtet seinen Zorn. Hat aber genauso wenig Lust, im Weinberg zu arbeiten, wie sein Bruder. Also sieht er zu, dass er den Vater nicht provoziert - und sich trotzdem um die lästige Arbeit drückt. Er bereut nichts. Vielmehr wird er stolz auf sich sein, dass er seinem Vater ein Schnippchen geschlagen hat.

II
Diese beiden Menschentypen kennen wir gut; sie stecken beide in uns.
Wenn wir Menschen enttäuschen, die uns etwas bedeuten, die wir lieben, empfinden wir Reue. Wenn wir dagegen Menschen enttäuschen, die uns unsympathisch sind, die wir hassen, gibt uns das vielleicht sogar ein Gefühl der Befriedigung oder des Triumphes. Reue empfinden wir ihnen gegenüber nicht, solange wir nicht entdeckt haben, dass auch sie liebenswerte Menschen sind.

Und andersherum ermöglicht uns erst die Liebe oder, mit einem nicht so gefühlsbeladenen Wort: der Respekt, die wir von anderen erfahren, Grenzen zu setzen, Nein zu sagen. Wer uns liebevoll, respektvoll begegnet, dem können wir Nein sagen, weil wir nicht fürchten müssen, dass er uns dafür bestraft, hasst oder zerstört.
Menschen, die wir fürchten, begegnen wir selten mit Respekt, sondern verbergen unsere wahren Gedanken und Gefühle vor ihnen. Tun scheinbar, was sie verlangen, aber versuchen dabei, ihnen so schnell wie möglich zu entgehen. Wir verstellen uns vor ihnen; wir sagen Ja, meinen aber Nein.

Ein Widerspruch tut sich da auf:
Gerade den Menschen, die uns lieben, die uns wohlgesonnen sind, schleudern wir unser Nein! entgegen. - Aber ihnen gegenüber empfinden wir auch Reue.
Doch vor denen, die wir fürchten und deshalb auch nicht mögen, kuschen wir, und täuschen sie über unsere wahren Absichten und Gedanken - und das ohne das geringste Bedauern.

III
Wie ist es möglich, dass sich die beiden Söhne so unterschiedlich verhalten, wenn sie doch den selben Vater haben?
Schauen wir uns die andere Seite im Gleichnis, schauen wir uns den Vater an.
Ist Gott, den Jesus uns „Vater" zu nennen lehrte, ein liebevoller Vater, oder ein tyrannischer? Einer, dem wir zu widersprechen wagen, oder einer, vor dem wir kuschen?

Bitte lassen Sie sich noch einen Augenblick Zeit mit der Antwort, damit sie nicht gleich überlagert wird von dem, was man hier in der Kirche sagen zu müssen glaubt: Gott ist ein „lieber" Gott, natürlich.
Aber erleben wir Gott auch so?
Wenn es stimmt, dass wir dann Nein zu sagen wagen, wenn wir uns geliebt oder respektiert wissen, und wenn Gott ein „lieber" Gott ist - wagen wir es dann, ihm zu widersprechen?
Zugespitzt formuliert: Trauen wir uns zu sündigen?

Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Ich will Sie nicht zum Sündigen überreden! Aber wenn die Bibel in diesem Punkte recht hat - und ich glaube, das hat sie -, dann können wir Menschen es nicht vermeiden zu sündigen. Wir können es beim besten Willen und bei allem Bemühen nicht vermeiden, dass wir zu Gott „Nein!" sagen.
Die Bibel beschreibt die Sünde als Nein zu Gottes Bitte an uns. Gottes Bitte, die sich in seinen Geboten äußert -  ob es nun um die Arbeit in seinem Weinberg oder um die Nächstenliebe geht. Deshalb verwendet Jesus in seinem Gleichnis die drastischen Beispiele von Zöllnern - damals Kollaborateure mit der verhassten römischen Staatsmacht - und Prostituierten, die der Inbegriff des sündigen Menschen waren. Prostituierte und Zöller sind sozusagen wandelnde Nein-Sager, weil ihr ganzes Leben im Widerspruch, im Nein zu Gottes Geboten steht. Sie sagen nicht nur ab und zu, sondern permanent Nein zu Gott. Und trotzdem stellt Jesus sie allen voran! Jetzt wird uns erst bewusst, wie unglaublich, wie unverschämt dieses Gleichnis ist, wenn Jesus das absolute Gegenbeispiel zum Beispiel für uns macht.
Verstehen wir, warum er das tut?

IV
Zwei Söhne - ein Vater. Aber die beiden verhalten sich so unterschiedlich, dass es scheint, als wären es auch zwei verschiedene Väter. Der Unterschied liegt in der Art, wie die beiden ihrem Vater begegnen. Der eine begegnet ihm mit Liebe und Respekt, auch wenn er ihn mit seinem Nein enttäuscht, weil er sich selbst geliebt und respektiert fühlt.
Der andere begegnet seinem Vater mit Angst und Verstellung, weil er sich vor ihm fürchtet.

Wenn wir, wie Jesus es tut, diesen Vater auf Gott übertragen, dann gibt es auf der einen Seite den strengen Gott, der unzählige Gebote erlässt. Vor allem die zehn, die allein zu halten schon fast unmöglich ist. Der Gott, „der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied" (5.Mose 5,9). Der vor Wut entbrennt über die Sünde.
Und auf der anderen Seite steht der „liebe Gott", der Mitleid hat und ein warmes, weites Herz. Der Gott, „der Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden" (5.Mose 5,10). Ist das überhaupt noch ein und derselbe Gott, oder haben wir zwei völlig verschiedene Götter vor uns?

Gott erscheint verschieden, je nach der Brille, durch die man ihn ansieht. Ob man Angst vor ihm hat. Oder ob man ihn liebt.
Martin Luther, der sein halbes Leben in entsetzlicher Angst vor Gott und seiner Gerechtigkeit verbrachte, machte eines Tages die bahnbrechende Entdeckung, dass er keine Angst vor Gott haben musste - dass niemand vor Gott Angst haben muss. Mit dieser Entdeckung konnte er Gott plötzlich mit ganz anderen Augen sehen: Er sah nicht mehr den schrecklichen, zornigen, strafenden Gott, sondern er sah den liebenden und liebevollen Gott, der in Jesus Mensch geworden war.

V
Jetzt verstehen wir vielleicht auch, warum Jesus in seinem Gleichnis Prostituierte und Kollaborateure als Vorbilder hinstellt: Sie sind für ihn das Beispiel für den Menschen, der Gott als liebenden Gott zu sehen gelernt hat - und es deshalb wagt, Nein zu ihm zu sagen. Und der dann, wie der erste Sohn im Gleichnis, merkt, dass er mit seinem Verhalten Gott weh tut und enttäuscht - und es deshalb ändert. Aus Reue, nicht aus Angst vor Strafe. Deshalb berichtet die Bibel auch davon, dass der Zöllner Zachäus die Hälfte seines Besitzes den Armen gibt, nachdem Jesus ihm Gott so gezeigt hat. Sie berichtet davon, dass Jesus der Ehebrecherin, nachdem er sie vor den Richtern in Schutz genommen hat, sagt: Geh hin und sündige hinfort nicht mehr.

Auch wir sagen immer wieder im Leben „Nein!" zu Gott. Wir können nicht anders. Wir sind Menschen, das Nein gehört zu uns dazu. „pecca, sed pecca fortiter", sagte Luther nach seiner reformatorischen Entdeckung, frei übertragen: Du musst sündigen - darum sündige tapfer! Entdecke, dass deine Fähigkeit, zu sündigen, in der unermesslichen Liebe Gottes zu dir begründet liegt. Damit verliert die Sünde ihren angstmachenden Schrecken und wird zu dem, was sie ist: Einem Nein!, das manchmal schmerzhaft und enttäuschend ist. Das uns aber nicht von Gottes Liebe trennen kann.

Wir haben die Fähigkeit zum Nein, wie wir die Fähigkeit zur Reue haben, weil wir in Gottes Liebe geborgen sind. Geborgen in dieser Liebe ist unser ganzes Leben. Und darum können wir im Rückblick darauf mit Edith Piaf sagen: je ne regrette rien. Denn da war ja die Liebe ...

Amen.

 



Pfarrer Güntzel Schmidt
38104 Braunschweig
E-Mail: guentzel.schmidt@lk-bs.de

Bemerkung:
(eigene Übersetzung, vgl. http://www.offene-bibel.de/wiki/index.php5?title=Matthäus_21)




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