Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

13. Sonntag nach Trinitatis , 18.09.2011

Predigt zu Lukas 10:23-37, verfasst von Henriette Pedersen

Wenn es etwas gibt, womit das Luthertum nicht umgehen kann, dann ist es das: dass die Werke den Weg zum ewigen Leben bahnen könnten. Nein, wir werden gerechtfertigt allein durch den Glauben - so lernen wir es! So steht es bei Paulus wie in den Bekenntnisschriften. Und dann muss es doch stimmen.

Aber lassen Sie mich woanders beginnen. Es ist Sonntag und ein Pfarrer ist unterwegs; er möchte gern pünktlich sein, tatsächlich gern gar ein bisschen zu früh, so dass die Kollegen in der Kirche - der Organist, der große Chor, Küster und Chorleiter - noch wie gewöhnlich ein bisschen miteinander plaudern können und letzte Absprachen treffen, so dass der Gottesdienst Punkt 10 Uhr beginnen kann.

Wie es die Gemeinde verständlicherweise auch erwartet: denn selbstverständlich beginnen wir, egal, was geschieht, genau um 10 Uhr - in diesem Haus hier richten wir uns strikt nach der Atomuhr in Frankfurt, oder es verhält sich gar umgekehrt. Die Gemeinde sitzt bereits da und die Täuflinge werden hereingebracht. Wir werden zu Gott beten, wunderbare Lieder singen und das Wort [der Schrift] hören - und dann soll der Pfarrer auch etwas möglicherweise Kluges (!) und Erbauliches zu den Texten des Tages sagen... über die Wege zu Gott und über Gottes Liebe zu seinem Menschen.

Da spielt also nur eins einen Streich, das ABER, dass der Pfarrer auf dem Weg zur Kirche fast über einen Menschen gestolpert ist, der da auf der Straße liegt. Ein schwaches „Hilfe" ertönt... Der Pfarrer schaut hinab auf den Mann und dann auf die Uhr. Schaut hinab - und wieder auf die Uhr. Er dreht sich um - ist denn da keiner, der helfen kann?

Da muss doch jemand sein. „Hallo!" ruft der Pfarrer halblaut: „Ist denn da keiner, der helfen will?"... Aber niemand antwortet, die Straßen sind leer - so ist es im Zentrum von Aalborg sonntags früh am Morgen, und die letzten Partygäste sind wahrscheinlich längst im Bett, im eigenen oder dem eines anderen, ... da ist jetzt verständlicherweise niemand zur Stelle.

„Hilf mir!" - ertönt es wieder vom Asphalt... die Zeit vergeht... die Atomuhr tickt... die Gemeinde wartet! Der Pfarrer sagt, hingewandt zu dem Überfallenen: „Bist du betrunken? Weißt du, wo du wohnst?" Aber der stammelt nur etwas vor sich hin.

Arr... denkt der Pfarrer, warum nur muss ich auch der Erste sein, der ihn sieht - warum kam niemand vor mir vorbei? - zum Beispiel ein barmherziger Samariter... oder jemand von einem Hilfsdienst oder irgendein anderer mit einer ausgeprägten Veranlagung zu helfen?

Denn wenn auch das Gleichnis im heutigen Evangelium für viele zum Leitbild geworden ist, so geschieht es doch nicht ganz ohne Grund, dass Jesus zuerst einen Priester und einen Leviten (sozusagen einen Kirchendiener) an dem Notleidenden vorbeigehen lässt. Wenn auch in den meisten Auslegungen häufig darauf verwiesen wird, dass die beiden wegen des Tempeldienstes nicht unrein werden durften angesichts der religiösen Praxis - dass es ihr Glaube war, der verlangte, dass sie vorbeigehen -, möchte ich doch wetten, dass es für viele von uns nicht immer ganz leicht ist, Menschen in akuter Not zu begegnen, es sei denn, wir haben ein ärztliches Gelöbnis unterschrieben oder eine andere bindende Verpflichtung. In der Regel ist es doch nur zu schön, dass es andere gibt, die die Sache für uns erledigen, und nicht ausgerechnet wir als erste bei den Notleidenden sind.

Aber in der heutigen Lektion über den in Not Geratenen sind es nicht Pflicht und Verantwortung, auf die es ankommt. Da ist etwas ganz anderes im Spiel - konkret: das Erbarmen, Barmherzigkeit - eine Kategorie, die sich per Gesetzgebung oder durch Richtlinien nicht regeln lässt. Barmherzigkeit entsteht vielmehr spontan. Sie nistet sich ein, überzieht alles andere - sei es die religiöse Pflicht oder die Jagd nach dem ewigen Leben.

Wenn dich das Erbarmen durchdringt, dann geschieht das immer in der Begegnung mit einem anderen Menschen - mit deinem Nächsten. Und es ist festzuhalten, dass der Samariter überhaupt nichts sagt. Er stellt keine Fragen - er will nicht erst einmal überprüfen, ob der Notleidende denn auch wirklich Not leidet - er will nicht den Namen des betroffenen Mannes wissen oder seine Herkunft. Und auf die Uhr guckt er schon gar nicht. Das alles ist einerlei - nur der andere Mensch ist von Bedeutung in diesem Augenblick.

Im Gegensatz dazu mag der Gerechte und Schriftgelehrte reden und Jesus Fragen stellen - auch wenn er die Antworten bereits im Voraus gut kennt - zumal, wenn er danach fragt, wie er das ewige Leben ererben könne, und gleich selber antwortet: „Du sollst den Herren, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst."

Gott lieben und den Nächsten lieben - so einfach ist das. Aber das Interessante ist, dass er danach nur noch nach dem Nächsten fragt und überhaupt nicht nach Gott. Denn von Gott hat er offenbar, rein intellektuell, eine Vorstellung dank der Schrift, selbstverständlich - er weiß, was Gott zu diesem und jenem meint - oder er glaubt es zu wissen. DOCH der Nächste... wer ist er/sie denn eigentlich? - hier hört alles Wissen recht bald auf - obwohl die Antwort klar und einfach sein sollte:

Denn dein Nächster ist der oder die, die dein Erbarmen weckt. Und wer das ist, der das bewirkt, ja erreicht, das wissen wir in der Tat niemals im Voraus. Wir können uns darum nicht darauf festlegen, dass es eine bestimmte Gruppe von Menschen ist - Barmherzigkeit kann nicht auf eine Formel gebracht werden ... Andererseits glaube ich aber auch nicht, dass wir auch nur den geringsten Zweifel haben, wenn wir vom Erbarmen durchdrungen werden in der Begegnung mit einem anderen Menschen.

Was also ist nun wichtiger - der Glaube des Gerechten oder das stumme Erbarmen? Nun, das kommt doch ganz darauf an, in welchem Zustand wir uns befinden... bin ich es, der niedergeschlagen und meiner Sachen beraubt daliegt, dann ist mir, glaube ich ganz gewiss, der Glaube meines Helfers völlig gleichgültig - wäre er auch noch so gerecht... eine stille helfende Hand wäre mir völlig genug.

Lassen Sie mich mit dem enden, wovon ich zu reden begann: Dass wir nicht gerechtfertigt werden durch bestimmte Aktionen. Nein, und Gott sei Lob und Dank dafür, - vor Gott sind wir frei. Wir müssen uns zu nichts aufschwingen, um seine geliebten Kinder zu sein. Gegenüber unserem Nächsten jedoch sind wir gebunden, im Guten wie im Schlechten - wir sind miteinander verbunden, in bekannten wie unbekannten Zusammenhängen -, und zwar deswegen, weil wir alle gleichermaßen nach dem Bilde Gottes geschaffen sind.

Die Jagd nach dem ewigen Leben ist darum abgesagt - stattdessen, glaube ich, will Unser Herr Jesus Christus, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf das wirkliche Leben richten - konkret: in der Begegnung mit unserem Nächsten!

Amen



Gemeinde- und Klinikpfarrerin Henriette Pedersen
Aalborg
Dänemark
E-Mail: hp@km.dk

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