Göttinger Predigten

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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Trinitatis, 24.06.2007

Predigt zu Lukas 19:1-10, verfasst von Clemens Frey

In den biblische Geschichten steckt etwas, was noch werden will - etwas, das noch nicht fertig ist. Sie erzählen nicht einfach von Vergangenem; nicht nur von dem, was war oder geschehen ist. Immer sind sie auf Zukunft angelegt. Weil wir selber immer die Zukunft von gestern sind, die nun zur Gegenwart geworden ist, kommen wir in der Erzählung vor.
Natürlich ist damals etwas geschehen. Die Bilder der Erzählung täuschen uns nicht darüber hinweg. Sie dringen durch die Geschichte hindurch bis zu uns und stellen sich sofort in uns auf:
Ich sehe einen kleinen, etwas gedrungenen Mann. Beim Gehen hatte er Mühe mit dem Atmen, er sass zuviel in seinem Büro am Zoll. Er wagte kaum, das Büro zu verlassen, weil er sich sonst den Menschen aussetzen würde, die er mit Zollzahlungen schröpfte. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb er zu spät kam und sich einen Platz suchen musste, von dem aus er über die wartenden Menschen blicken konnte. Seine Statur verhinderte ohnehin die Sicht auf Jesus. Aber es brauchte viel, bis ein nicht mehr ganz junger, arrivierter, wohlhabender Mann in guten Kleidern auf einen Baum kraxelte. Zachäus schien vergessen zu haben, dass wer gut sieht, auch gut gesehen wird. Seine Position auf dem Baum erlaubte ihm die gute Sicht, aber zugleich war er den Blicken der anderen ausgestellt. Jesus musste ihn sehen, weil er sich so auffällig verhielt. Darum ist Zachäus erschrocken, als Jesus ihn ruft. Der unerwartete glückliche Ruf ist für die anderen Wartenden jedoch eine unerwartete Enttäuschung. Dass es zu Reaktionen des Unverständnisses und des Neids kam, kann nicht verwundern. Die Volksmenge möchte sich wie einen Keil zwischen den unbeliebten Zachäus und Jesus treiben. Aber vor dem Haus müssen sie anhalten. Jesus hat sich selber eingeladen, als wäre dieses Haus sein Ziel in Jericho gewesen. Dabei heisst es doch deutlich, dass er durch die Stadt hindurch ziehen wollte, denn er wollte Jerusalem erreichen. Was passiert war, war unvorhergesehen geschehen. Für alle drei Beteiligten überraschend: für Zachäus, für Jesus und für die Leute. Ebenso überrraschend gab Zachäus seinen Reichtum her. Die Hälfte bekamen die Armen, mit dem Rest will er unstatthafte Tarife vierfach zurückzahlen.

Diese Erzählung von damals redet nicht an uns heute vorbei. Die Fragen um Reichtum und Armut, um Volksmenge und Einzelnem, um Offenheit und Verschlossenheit und um die Veränderung eines Menschen haben wir noch nicht endgültig gelöst. Deshalb interessiert uns wohl das Seelenbild dieses Menschen. Was geschieht ihm seelisch? Was hat er da gefühlt und erlebt?

Zweifellos wusste auch Zachäus selber, wer er war: reich an Geld, klein an Statur und arm an lebendigem, offenem Geist. Das Zusammenspiel dieser drei Kräfte verhinderte, dass er aus seinem Leben ausbrechen konnte. Seine Position war zwar durchaus gehoben. Ein Zöllner hatte Macht. Die Leute fürchteten sich vor ihm. Sobald er sich aber ausserhalb des Zollraumes befand, war er nur noch der Kleine, den niemand wollte. Und seine Seele war eine Kleinkrämerseele, nur darauf bedacht, sich Reichtum zu erwerben. Er musste sich in der Öffentlichkeit einen sichtbaren Platz erwerben. Auf dem Maulbeerbaum sitzend hatte er die Übersicht, und für die Menge der Menschen war er unübersehbar.

Von dieser sich selbst verliehenen Position holte ihn Jesus herunter. Vor aller Augen musste er sich auf die Bodenhöhe der Anderen begeben. Da sah er wieder so klein aus, wie er war. Jesus rückte ihm seine kleine Grösse vor Augen - Zachäus blickte zu allen hinauf. Wahrscheinlich war er sich bewusst geworden, wer er eigentlich war. Um diese Situation nicht noch schlimmer zu machen, sondern zu verbessern, kam er auf die rettende Idee, die Hälfte seines Reichtums den materiell Armen zu geben. Auch finanziell kam er somit wieder in Bodennähe und wirkte bereits um einiges menschlicher. Innerlich und äusserlich begann er langsam dort zu stehen, wo sein wirklicher Platz war. Wir könnten auch sagen: er kam zu sich. Darauf lädt sich Jesus in sein Haus ein. Zachäus kam zu sich - nach Hause. Aus seinem Traum einer falschen Grösse erwachte Zachäus und kam zu sich. Der, welcher ihn zu sich geführt hat, war Jesus. Indem Zachäus seine Worte hörte, kam er zu sich; indem er sie ernst nahm, wurde er sich bewusst, dass er als Mensch wichtig war, nicht als leitender Zollbeamter.

Diese Worte sind uns erhalten geblieben. Durch sie spricht Jesus uns an - immer noch und unablässig. Seine Worte durchdringen die vergangenen Jahrhunderte und treffen heute auf uns, morgen wieder auf uns - und irgendwann einmal auf die nächste Generation. Unsere Maulbeerbäume sind noch nicht umgehauen. Es gilt immer noch als die beste Stellung, wenn wir auf andere hinunterblicken können. Deshalb haben wir es so schwer, diese Positionen zu verlassen. Wenn es durch den Druck von aussen dennoch geschieht, ist es wie ein Fall vom hohen Ast. Die Volksmenge, die anderen Menschen hatten sich zwar über ihn aufgeregt, aber niemand war fähig gewesen, ihm zu helfen. Diese Menschen erwarteten - durchaus mit Recht - dass er sich ändern werde. Aber: sie haben es ihm allein überlassen. Was soll denn ich, was geht mich das an, haben sie gedacht. An eine Investition in die Seele des Zachäus haben sie nicht gedacht. Wahrscheinlich ist ihnen wohl der Mut geschwunden, wenn sie seine Macht zu spüren bekamen. Umsomehr hätten sie gerne von seiner Änderung profitiert. Das ist ihnen nicht zu verübeln. Nur, dass sie aufbegehrten, als sich eine Wandlung anbahnte, das müssen sie sich vorwerfen lassen. Offenbar waren auch ihre Seelen noch zu klein, um das gänzlich Einfache, das da geschehen war, zu begreifen. "Warte, ich komme zu dir" - was gibt es einfacheres im Ausdruck! Bevor du dich vergräbst in deiner Kleinheit, komme ich zu dir. Entweder sind wir dann zusammen klein oder wir tauschen Grösse und Kleine untereinander aus.

Ohne Zweifel hat diese Erzählung eine religiöse Aussage. Sie trifft so, dass wir als Menschen betroffen sind. Jesus als der Mittelpunkt ist ja nicht ohne seine religiöse Botschaft zu denken. Diese ist es, weshalb Zachäus ihn überhaupt sehen will. Wie die anderen, die gekommen sind, will er ein Schauspiel sehen. Dem Kommen Jesus gingen die Geschichten von Wunderheilungen voraus. So etwas mitzuerleben ist der Mühe Wert zu warten. Das Sichtbare, Handfeste war das Anziehende und Faszinierende. Statt dessen gab es nur unsichtbare Kost. Das einzige, was die Augen zu sehen bekamen war, dass Jesus mit Zachäus im Haus verschwindet. Dafür waren die Leute nicht hergekommen.

Kirchenvorstände und Kirchgänger, wie wir heute sagen würden, blieben draussen vor der Tür. Die Honorationen mussten wieder nach Hause; es ist so wenig geschehen. Jesus hat ihnen aber etwas Unsichtbares mitgegeben. Er nennt Zachäus einen Sohn Abrahams. Er anerkennt ihn als Jude - genau das, was er nach den Gesetzen durch seinen Beruf genaugenommen nicht mehr war. Als Zöllner hat er sich abgelöst von seinem Volk und damit auch vom Heil Gottes. Jesus aber erklärt ihn als einen Menschen, der trotz seines ungeliebten Lebens weiter dazu gehört. Die Menschen haben ihn geschnitten, aber für Gott ist er ein ganzer Mensch. Diese Tatsache gibt ihm Jesus weiter, indem er sich als Gast bei ihm anmeldet.  Damit spricht er ihm die Zugehörigkeit zu den Menschen nicht ab. An die Adresse der Zuhörer gerichtet heisst das: verachtet diesen kleinen Menschen nicht. Gott ist auch bei ihm. Gebt mir Sorge zu seinem Menschsein, damit er es nicht endgültig verliert. Es ist eine Menschwerdung, was wir hier erleben. Zachäus wird wieder als Mensch akzeptiert und  wird selber menschlicher.

Zachäus will diesen Jesus mit allen Mitteln sehen. Er weiss jedoch nicht, dass Jesus kurz zuvor das dritte Mal von seinem Leiden und seinem kommenden Tod gesprochen hat. Er will den sehen, von dem er gehört hat; am liebsten würde er mit ihm reden. Der, welcher hier ein Schauspiel zu bieten hat, wird nicht das glorreiche Ende finden, das diese wartenden Menschen von ihm erwarten. Sie haben keine Ahnung, was ihm bevorsteht und kennen seinen Weg nicht. Ebenso wenig wusste Zachäus um seinen glücklichen Weg. Und ebenso wenig trauten die anderen Zachäus zu, dass er sich ändere. Es herrscht eine verbreitete Unkenntnis. Wir kennen uns selber wenig, kennen die anderen kaum und wir kennen Gott oft nur so, wie wir ihn gerne hätten.

Diese Erzählung greift in unsere Zeit hinein.
Sie beschreibt die Befreiung eines Menschen von unüberlegten Vorstellungen, indem sie erzählt, wie Jesus diesen Menschen zu sich selber führt.
Sie beschreibt aber auch Gott als einen Freien, den man nicht auf Gesetze festnageln kann, die ihm vorschreiben, was er zu tun habe.
Und sie befreit schliesslich Jesus von seiner zauberhaften Übermenschlichkeit und lehrt, ihn als wirklichen Menschen kennen.
Er geht auf der selben Ebene wie wir. Er holt uns von den Bäumen herunter und verweist  uns auf unser eigentliches Menschsein, ohne falsche Positionen, dafür in der richtigen Grösse.



Clemens Frey
Im tiefen Boden 75
CH-4059 Basel
E-Mail: clemens.frey@erk-bs.ch

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