Göttinger Predigten

Choose your language:
deutsch English español
português dansk

Startseite

Aktuelle Predigten

Archiv

Besondere Gelegenheiten

Suche

Links

Konzeption

Unsere Autoren weltweit

Kontakt
ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

17. Sonntag nach Trinitatis, 16.10.2011

Predigt zu Lukas 14:1-11, verfasst von Marianne Frank Larsen

Im Jahr 1984. Irgendwo in Ostberlin sitzt ein Mann auf dem Dachboden. Er ist ausgerüstet mit Kopfhörern, Schreibmaschine und einer gigantischen Abhöranlage. Über die Kopfhörer hört er jedes Wort, das in der Wohnung zwei Etagen tiefer gesprochen wird. Er hört alles, was sie tun. Er hört alles, was sie sagen. Auch am Telefon, selbstverständlich. Selbst sagt er kein Wort. Schweigend übernimmt er die Kopfhörer von seinem Kollegen, morgens, wenn er an der Reihe ist. Auf die Minute genau. Und ebenso schweigend zieht er seine hellgraue Jacke an und verlässt den Dachboden, abends, wenn er abgelöst wird. Reglos, grau und völlig anonym tut er seinen Dienst. Notiert sorgfältig jedes Wort, das gesagt wird. Gibt nüchtern und bis ins kleinste Detail wieder, womit die verdächtigten Bewohner in der Wohnung beschäftigt sind. Sie feiern Geburtstag. Sie packen Geschenke aus. Sie lieben sich. Sie streiten. Sie empfangen Gäste. Ob sie in irgendeiner Weise gegen die Regeln verstoßen. Etwas sagen oder etwas tun, was das System nicht duldet. Hauptmann Gerd Wiesler ist ein Mann des Systems. Enorm tüchtig in seinem Job. Das Verborgene zu beobachten und ‚das Leben der Anderen‘ aufzuzeichnen - so lautet auch der Titel des Films.

Leider kann es passieren, dass sich das Leben der Anderen als stärker erweist als das System. Unmerklich wird der Hauptmann hineingezogen in das Leben, das er observiert. Vielleicht, weil er kein eigenes Leben hat, wird er in das Leben der Anderen hineingezogen. Hinter dem reglosen Gesicht wird er von Beethovens Klaviersonaten überwältigt. Eingenommen von der schönen Schauspielerin. Aufgewühlt durch das, was das System ihnen aufzwingt. Berührt von der gerechten Empörung des Dramatikers über das System. So betroffen ist der Hauptmann, dass er die Vorschriften verletzt und etwas anderes aufschreibt, als er aufgezeichnet hat, als das notwendig wird. So sind die Berichte, die er erstattet, nicht die ganze Wahrheit. Das Leben ist offenbar manchmal so widerständig, dass es sich von keinem System dingfest machen lässt. Es setzt sich durch trotz der Reglementierungen. Will gehegt und gepflegt werden, ungeachtet dessen, was erlaubt ist und was verboten ist.

Im heutigen Evangelium ist es ebenso ruhig am Tisch wie auf dem Dachboden über der Wohnung in Berlin. Kein behagliches Plaudern, kein gutes Gespräch, nicht einmal die gewöhnliche Höflichkeit. Hinter der Einladung zum Abendessen steht nämlich eine andere Agenda. Da ist einer, der nicht ins System passt. Einer, der überwacht werden muss und festgenommen werden wird. Daher sagen die Pharisäer nichts. Genauso geräuschlos wie der tüchtige Hauptmann wachen sie über den Mann in ihrer Mitte. Auch der Kranke, der wie aus dem Nichts erscheint, sagt nichts. Er bittet nicht um Hilfe, sagt kein Dankeswort. Verlässt das Haus ebenso stumm, wie er gekommen ist. An diesem Tisch ist Jesus der einzige, der spricht.

Erst als sie im Begriff sind aufzustehen, macht schließlich einer den Mund auf, berichtet Lukas (Vers 15), und was dieser eine sagt, ist bedeutsam, denn es ist das Evangelium in Kurzform. „Selig ist der, der das Brot isst in Gottes Reich!", bricht es aus dem Mann heraus. Er kann seinen Mund nicht mehr halten. Er hat keinerlei Vorbehalt mehr. Er ist nicht länger ein Mann des Systems. Er ist überwältigt, absorbiert, getroffen von etwas, das stärker ist als das System. Denn er spricht ja im Präsens: Selig ist, der am Tisch sitzt in Gottes Reich! Wenn wir ihn beim Wort nehmen, sagt er gewissermaßen, dass er gerade jetzt dies tut! Dass er tatsächlich zu Tisch sitzt in Gottes Reich, hier, im Speisesaal des Pharisäers, an einem ganz gewöhnlichen Sabbat. Denn er sitzt zu Tisch mit Jesus. Weil Jesus dort unter ihnen sitzt und wunderbare Worte sagt und die wunderbaren Taten vollbringt, die er vollbringt. Worte und Taten, die das Reich Gottes hier und jetzt für den Kranken aufschließen und für den aufmerksamen Gast und für jeden anderen, der Augen im Kopf hat und Ohren, zu hören.

Das Reich Gottes ist nahe herbei gekommen, pflegt Jesus zu sagen. Mit Gottes Reich verhält es sich wie mit einem Bauern, der maßlos verschwenderisch ist mit seinem Saatgut, oder wie mit einem Weinbergbesitzer, der allen Arbeitern denselben Lohn zahlt, oder wie mit einem König, der Krüppel, Blinde und Lahme einlädt zu seinem Fest. So erzählt Jesus von Gottes Reich. Als einem Reich, das alle Prinzipien von Recht und Unrecht in Frage stellt. Völlig quer liegt zu unseren Vorstellungen. Das Unterste zuoberst kehrt in allen Dingen, so dass die Kleinen groß werden und die Demütigen erhöht und die Missachteten die besten Plätze bekommen. So ist das Reich, von dem er erzählt. Es fügt sich in kein System ein. Im Gegenteil. Es bringt Systeme zu Fall. Aber Jesus begnügt sich nicht damit, davon zu reden. Er übersetzt die Worte in Taten. Stellt tatsächlich alle Prinzipien in Frage, kehrt das Unterste zuoberst in allen Dingen. Geht zu denen und isst mit denen zu Abend, mit denen man gewiss nicht zu Abend isst. Lässt seine Jünger Ähren ausraufen an Tagen, an denen man schlechterdings nichts ausraufen darf. Isst seelenruhig an den Tagen, an denen man generell nicht isst.

Und heute sehen wir ihn in Aktion, einen Kranken heilen an einem Tag, an dem man keinen Finger rühren darf. Der Sabbat ist offenkundig kein Hindernis. Auch die lauernden Blicke nicht. Nicht für Gottes Reich. Es durchkreuzt alle Schranken und entsteht mitten unter ihnen bei Tisch, als Jesus die Hand ausstreckt nach dem Entstellten und das Leben heilt, das geheilt werden will, ohne Rücksicht darauf, was erlaubt ist und was verboten. Mit seiner Berührung gibt er dem entstellten Mann seine eigene Gestalt wieder, und so kann er seiner Wege gehen, glücklich und beschwingt, hinaus in ein Leben, das wie verwandelt ist. Das Schwere ist leicht geworden, das Träge ist in Bewegung gekommen, das Alte wurde strahlend neu. Das ist's, was der aufmerksame Gast wahrgenommen hat, als er den selig preist, der zu Tisch sitzt in Gottes Reich. Gerade jetzt sitzt er dort - denn er sitzt zu Tisch mit dem Herrn.

Doch das ist nicht das, was die anderen sehen. Die schweigenden Pharisäer rund um den Tisch sehen nicht Gottes Reich in der wunderbaren Heilung. Sie sehen nur Eines: Blasphemie. Gotteslästerung. Die Verletzung der göttlichen Vorschriften für das menschliche Leben. Der Vorschriften, in deren Dienst sie ihr Leben gestellt haben, sie zu studieren, auszulegen und zu befolgen. Sie hatten ein Auge auf ihn, seit man sich „guten Appetit" wünschte. Jetzt bekommen sie, worauf sie gewartet haben. Den Nachweis, dass Jesus ein Feind des Systems ist. Er lästert Gott. Stellt alles, woran sie glauben und wonach sie leben, mit seinen Worten und Taten in Frage. Er ist eine Bedrohung für sie. In ihren missbilligenden Blicken wächst der Groll und wird zu Hass. Das kann nur auf eine Weise enden. Es wird ihn sein Leben kosten, dass er das ungebändigte Gottesreich mitten in das durchregulierte Leben der gewöhnlichen Menschen hineintrug. Die gute Gesellschaft ist zu seinem Feind geworden. Es sind die Pharisäer, die sich aktiv dafür einsetzen, dass sein Mund verstummt, wenn es Karfreitag wird. Während die schlechte Gesellschaft sich abwendet und wegsieht. Zöllner und Sünder, die er besucht hat und geheilt und begleitet, sind längst über alle Berge. Damit sind sie alle gleich schnell bei der Hand.

Doch Gottes Reich lässt sich nicht aufhalten. Weder von einem System noch durch Verbot oder Gebot. Noch durch menschliche Hartherzigkeit. Noch durch tonnenschwere Grabsteine. Genauso widerständig, wie er alle geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze in Frage stellt und die Elite der Gesellschaft an jenem Tag im Haus des Pharisäers, genauso ungebändigt überwindet es Grenzen und Schranken, als Jesus hinausgeht ins Sonnenlicht am Ostermorgen. Und eben darin liegt die Chance für uns, dass es genauso ungebändigt in unsere Realität heute einbricht, während wir zuhören und singen. Mit Worten und Bildern, die unsere Prinzipien von Recht und Unrecht in Frage stellen und das Unterste zuoberst kehren in allen Dingen. Worten und Bildern, die wir mitnehmen in unser Alltagsleben, wenn wir von hier hinausgehen, und die uns - uns selbst und einander - mit neuen Augen sehen lassen. Denn sie machen die Geringsten zu den Größten und geben den Demütigen und Missachteten die besten Plätze in Gottes Reich. Plätze unmittelbar neben dem Herrn. Sie bekommen wir jedes Mal, wenn wir hierher kommen. Nichts Geringeres. „Freund, rücke hinauf!", sagt er. Und es sind wir, zu denen er das sagt.

Amen



Pastorin Marianne Frank Larsen
Fredericia
E-Mail: mfl@km.dk

(zurück zum Seitenanfang)