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ISSN 2195-3171





Göttinger Predigten im Internet hg. von U. Nembach

Reformationstag, 31.10.2011

Predigt zu Matthäus 10:26b–33, verfasst von Dietz Lange

 

Liebe Gemeinde!

Eine fremde Welt tut sich auf. Dass ein offenes Bekenntnis zum christlichen Glauben einen in Lebensgefahr bringen kann, das ist nicht unsere Situation. Selbst für die meisten heute 80-jährigen ist so etwas in der deutschen Geschichte allenfalls eine blasse Erinnerung. Ja, in Ägypten, in China und in manchen anderen Ländern gibt es so etwas auch heute, aber nicht bei uns. Sie können heute in Deutschland jede nur denkbare Form von Christentum öffentlich verbreiten, von fundamentalistischen Gehorsamsforderungen bis zum Anpreisen von Fliege(n)-Essenz, ohne dass Ihr Leben im Geringsten in Gefahr gerät. Und dann steht da noch obendrein etwas von einem Gott, der Leib und Seele vernichten wird, wenn man sich nicht zu Christus bekennt. Jüngstes Gericht und Hölle, das ist doch finsterstes Mittelalter.

Sie haben natürlich schon selbst gemerkt, dass dies eine reichlich oberflächliche Weise ist, sich den Worten Jesu zu nähern. Die sprechen uns durchaus heute noch an, wenn auch auf andere Weise als vor 2000 Jahren die Jünger. Warum machen wir denn unseren Glauben so gern zur Privatsache? Und wenn wir schon von ihm reden, warum befleißigen wir uns so sehr der Leisetreterei? Allein in Christus ist das Heil unserer Seele zu finden, ja, das steht so in der Bibel, aber wir bringen es allenfalls als Zitat über die Lippen, vorsichtig und distanziert. Denn sonst könnte ja ein Jude, ein Moslem, ein Buddhist oder auch ein Atheist Anstoß nehmen, schrecklich! Wir scheuen den Konflikt, den zu riskieren Jesus uns auffordert. Warum? Weil wir fürchten, die political correctness zu verletzen, uns sozial zu isolieren. Und kann man denn wirklich sicher sein, dass bei Jesus die reine Wahrheit, nichts als die Wahrheit zu finden ist? Was bietet eine Garantie dafür? Ein Buch? Papier ist geduldig. Oder die kirchliche Institution? Das ist doch für uns seit der Reformation vorbei, und heute sind selbst viele Katholiken im Zweifel, ob sie von ihrer Kirche immer den rechten Weg geführt werden.

Damit sind wir bei dem entscheidenden Punkt angelangt. Es geht um die Gottesgewissheit. Wer sich ohne Reserve zu Gott bekennen will und zu seiner liebenden Nähe in Christus, der kann das nur, wenn er der Gegenwart Gottes gewiss ist. Wenn es sogar darum geht, sein Leben dafür aufs Spiel zu setzen, ist das vollends offensichtlich.

Wie aber kommt solche Gewissheit zustande? Um diese Frage ging es letztlich in der Reformation, deren Gedächtnis wir heute feiern. Wir haben uns weithin angewöhnt, das Neue in der Reformation in der Veränderung der christlichen Lehre zu sehen. Gewiss hat es da deutliche Veränderungen gegeben, die uns an den wichtigsten Punkten bis heute von anderen Kirchengemeinschaften unterscheiden. Aber die kirchliche oder theologische Lehre ist immer nur die Spitze des Eisbergs. Es ist ja nicht die Bejahung dogmatischer Lehrsätze, die uns zu Christen macht. Erst recht nicht das wissenschaftliche Verfahren des Experiments oder der logischen Schlussfolgerung. Da kommt man nur bis zu einem Gottesgedanken. Ob dahinter ein wirklicher Gott steht, das bleibt dann noch im Dunkeln. Oder anders ausgedrückt: Man kommt bestenfalls zu einem Gott, den "es gibt". Über den hat ein der Romanschriftsteller Göran Tunström einmal gesagt: "Einen Gott, den 'es gibt', den gibt es nicht." Denn der wäre bloß meine Kopfgeburt und deshalb kein Gott. Gott kann nur eine überwältigende Macht sein, die mich innerlich ergreift und mein ganzes Leben für sich beansprucht.

Dass Gott mich ergreift, das geschieht nach unserem Glauben durch die Person Jesu, so wie er in der Bibel bezeugt ist. Das wird uns natürlich wiederum durch heute lebende Menschen vermittelt. Trotzdem ist die Begegnung mit Gott dadurch nicht etwa "erklärt", so dass jeder andere Mensch, dem wir davon erzählen, zwangsläufig zum selben Ergebnis kommen müsste. Die Begegnung mit Gott lässt sich auch nicht auf bestimmte Erscheinungsformen festlegen, so dass etwa jeder Christ eine so außergewöhnliche seelische Erfahrung gemacht haben müsste wie Paulus vor Damaskus. Im Gegenteil, die weitaus Meisten können so etwas nicht von sich behaupten. Es bleibt in vieler Hinsicht ein Geheimnis, wie Gott uns ergreift.

Auch für uns selbst bleibt da vieles dunkel. Es ist ja in keinem menschlichen Leben so, dass da der weitere Weg immer klar vor Augen liegt. Jesus spricht selbst davon: "Nichts ist verborgen, was nicht offenbar wird" - offenbar, nämlich am Ende der Zeit! Warum lässt Gott mich durch diese schwere Krankheit gehen? Warum nimmt er mir den liebsten Menschen, den ich habe? Auf solche Fragen finden wir bestenfalls fragmentarische Antworten. Jesus selbst hat eine derartig ausweglose Situation erlebt, als er am Kreuz hing. Da ist Gott fern: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Oder nicht wieder gutzumachende Schuld stürzt uns in unauflösbar scheinende Gewissenskonflikte. Auch da fühlen wir uns von Gott im Stich gelassen. Erst ganz am Ende soll alles sich aufhellen.

Aber in eben dieser Lage spricht uns Jesus die helfende Nähe Gottes zu. Es ist genau dieser so ferne, ja vielleicht sogar grausam erscheinende Gott, der euch in Liebe umfängt, euch vergibt, euch zuversichtlich macht. Das anzunehmen bedeutet einen Sprung. Die Rede von Gottes Liebe ist ohne den ernsten Hintergrund nur fades Geschwätz. Gott ist kein Kuscheltier. Aber er richtet uns auf zu einer Zuversicht des Trotzdem. "Dennoch bleibe ich stets an dir", singt der Psalmist, nachdem er all die massiven Argumente aufgereiht hat, die rein menschlich gesehen dagegen sprechen. Das ist die Zuversicht, die Luther in jenem berühmt gewordenen Augenblick auf dem Reichstag zu Worms getragen hat. Dichterisch ausgedrückt hat er das in dem Lied Ein feste Burg ist unser Gott. Nicht der heldische Luther war das, von dem die deutschen Nationalisten vor 100 Jahren geschwärmt haben. Es war der Luther, der alles auf Gott setzte: "Ich kann nicht anders. Gott helfe mir." Genau das ist in Wahrheit Glaube: dieses unbedingte Vertrauen zu Gott. Nicht auf irgendeine menschliche Instanz setzen, und sei es die ehrwürdige, alte Kirche, sondern allein auf Gottes Nähe, die uns in Jesus erscheint. Dieses Zutrauen ist unendlich viel stärker, als es das Vertrauen zu Menschen je sein kann.

Jetzt verstehen wir vielleicht auch etwas besser, was es mit dem offenen Bekenntnis zu Jesus auf sich hat. Evangelische Predigt "auf den Dächern", so heißt es da. Und das, obwohl all das, was uns heute an Gott rätselhaft, verborgen, unverständlich vorkommt, erst am Ende der Tage aufgeklärt werden soll. Aber das ist eben keine billige Vertröstung. Wenn Gott uns im Innersten ergreift, dann ist jenes ferne Licht in gewisser Weise vorweggenommen. Das schafft das Dunkel nicht aus der Welt, das beseitigt nicht einfach Zweifel und Angst. Aber es überwindet sie. Es bleibt die dunkle Folie, die mit den alten Worten Jüngstes Gericht und Hölle bezeichnet wird. Das stellen wir uns heute in der Tat nicht mehr so vor, wie Dante es beschrieben oder wie Pieter Brueghel es gemalt hat. Es ist die völlige Verlassenheit von Gott und den Menschen. Das ist die Alternative zur Zuversicht des Glaubens. Aber eben das dürfen wir im Glauben hinter uns lassen, immer wieder neu.

Wenn das so ist, dann gibt es in der Tat auch für uns ein inneres Müssen, davon anderen weiterzusagen, auch wenn wir uns natürlich nicht mit der gewaltigen Persönlichkeit Luthers vergleichen können. Aber es ist im Kern das gleiche innere Müssen, das ihn angetrieben hat und das im Grunde zu allen Zeiten die Antriebskraft der christlichen Verkündigung war.

Freilich ist die göttliche Wahrheit nicht unser Besitz oder etwas, das wir durch eigene Anstrengung erworben hätten. Sie berechtigt uns nicht dazu, uns als Ketzerrichter über andere christliche Konfessionen oder über andere Religionen aufzuspielen, die sich auf ihre Überlegenheit etwas zugute halten. Wir müssen vielmehr davon ausgehen, dass Gott sich auch dort bemerkbar gemacht hat. Wenn wir glauben, dass Gott sich am klarsten in Christus offenbart, dann erlaubt uns unser offenes Bekenntnis trotzdem nicht, anderen diese Überzeugung aufzunötigen. Es bedeutet aber sehr wohl, dass wir darauf vertrauen, Gott werde sich selbst durchsetzen, auch wenn der gegenwärtige Zustand der westeuropäischen Kirchen zu solcher Überzeugung wenig Anlass zu bieten scheint.

Wenn wir von diesem festen Zutrauen erfüllt sind, dann ist das zugleich eine Absage an jeglichen kirchlichen Populismus. Der tiefe Ernst, der die Grundierung unseres Glaubens und unserer Verkündigung ist, verleiht vielmehr der göttlichen Befreiung ihre Macht und dem Glück der Glaubenszuversicht seine unüberwindbare Substanz.

Amen.



Professor Dietz Lange
Göttingen
E-Mail: dietzlange@aol.com

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